Kirstin Mertlitsch, Brigitte Hipfl et al. (Hrsg.): Intersektionale Solidaritäten
Rezensiert von Prof. Dr. Barbara Ketelhut, 12.12.2024
Kirstin Mertlitsch, Brigitte Hipfl, Verena Kumpusch, Pauline Roeseling (Hrsg.): Intersektionale Solidaritäten. Beiträge zur gesellschaftskritischen Geschlechterforschung. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2024. 312 Seiten. ISBN 978-3-8474-2667-7. D: 69,90 EUR, A: 61,60 EUR.
Thema
Der Band geht den Fragen nach: „Wie und welche (queerfeministischen) Bündnisse und Allianzen können geschlossen werden, wenn keine starren Identitätskonzepte – wie beispielsweise ein 'Wir-Frauen' – mehr bestehen? Sind intersektionale Solidaritäten möglich?“ (S. 10)
Herausgeber:innen
Dr.in Kirstin Mertlitsch ist Senior Scientist und Leiterin des Universitätszentrums für Frauen*- und Geschlechterstudien an der Universität Klagenfurt, Brigitte Hipfl ist Ao. Professorin i.R. am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Verena Kumpusch B.A. M.A. ist Lehrbeauftragte am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung an der Universität Klagenfurt und Pauline Roeseling B.Sc. arbeitet als Studienassistentin im Universitätszentrum für Frauen*- und Geschlechterstudien an der Universität Klagenfurt.
Entstehungshintergrund
Der vorliegenden Dokumentations-Band basiert auf der Online-Tagung „A p a r t – Together – Becoming With! Gesellschaftskritische Geschlechterforschung als Beitrag zu einer Allianz für die Zukunft“, die 2021 an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt stattgefunden hat (vgl. S. 9 f.).
Aufbau und Inhalt
Nachdem die Herausgeberinnen in ihrer Einleitung kurz auf den Einstieg mit der Romanvorstellung von „Identitti“ durch die Autorin Mithu Sanyal in die Online-Tagung, den Begriff der Identität und den Titel der Tagung eingehen, definieren sie Intersektionalität, die „bedeutet, dass verschiedene Diskriminierungsdimensionen nicht voneinander isoliert, sondern in ihrer Verwobenheit betrachtet werden.“ (S. 10) Die Herausgeberinnen geben einen kurzen Abriss über die Geschichte der Auseinandersetzungen um feministische Solidaritäten, wobei sie immer mal wieder Bezug zu den im Band versammelten Beiträgen nehmen. Sie kommen zu dem Schluss, dass sich Bündnisse stets verändern, und dass sie „im besten Fall Transformationsprozesse bewirken, aus denen Menschen verändert hervorkommen können.“ (S. 20). Abschließend stellen sie die folgenden 23 Beiträge kurz vor, die sechs Bereichen zugeordnet sind.
I. Theoretische Perspektiven
Im ersten (grundlegenden) Beitrag formuliert Gabriele Dietze ihr Anliegen und das der Tagung insgesamt: „Es geht einerseits um Diversität und Differenzen und andererseits um Gemeinsamkeiten. Und es geht um ein Drittes, nämlich um das Neue, das erst in einem Bündnis entsteht und die Teilnehmer:innen verändert aus dem Prozess herauskommen lässt.“ (S. 35) Aufbauend auf dem Begriff der materiellen und vor allem kulturellen Hegemonie (nach Antonio Gramsci) erläutert Gabriele Dietze hierzu den von ihr entwickelten Begriff der Hegemonie(selbst)kritik, worunter sie „Selbstreflexion bzw. eine Theoretisierung der eigenen, hegemonialen Positionen“ versteht, welche erst einen „Ort der Differenz ohne Hierarchie“ möglich macht (S. 36). Zudem betont Gabriele Dietze die Wichtigkeit „der Hegemoniekritik (ohne ‚selbst‘) potentieller Bündnispartner:innen of difference zuzuhören“ (S. 36).
Darauf Bezug nehmend ergänzt Gundula Ludwig die Notwendigkeit auch „materielle Verhältnisse, gesellschaftliche Strukturen und politische Institutionen“ in der Hegemoniekritik zu berücksichtigen (S. 52).
Karin Schönpflug plädiert für eine feministische Ökonomik, die auch „die Verhinderung der Zerstörung der Umwelt“ miteinbezieht (S. 63).
II. Intersektionale Bündnisse
Gudrun Perko und Leah Carola Czollek grenzen „intersektionale Bündnisse“ vom Konzept des „Verbündet-Seins“ ab. „Das verbindende Moment ist die Intention, gegen Diskriminierungsrealitäten aufzubegehren.“ (S. 74) Bei intersektionalen Bündnissen hingegen stehe die „Abschaffung von Diskriminierungsrealitäten“ im Vordergrund, wobei es nicht nur darum ginge gegen etwas zu sein, sondern zudem um das Ziel, das erreicht werden soll und auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln (vgl. S. 74). Sie orientieren sich hierbei am Begriff der „konkreten Utopie“ (von Ernst Bloch).
Viktorija Ratkovic und Rahel More fragen, wie „wissenschaftliche Bündnisse … ermöglicht werden können“. Sie erläutern das Ziel der „intersektionalen Inklusion“ (S. 83) vor allem am Beispiel ihrer verschiedenen Wissenschaftsbereiche: der Inklusionsforschung sowie der Disabilitystudies und der Migrationsforschung, die bisher selten explizit in Zusammenhang gebracht worden seien (vgl. S. 91).
Michaela Zöhrer setzt sich mit verschiedenen Kritiken am schwer zu fassenden Begriff der „Identitätspolitik“ auseinander und fragt danach, „wie Identitätspolitik als produktives Moment in sozialer Bewegungspraxis greifbar werden kann“ (S. 113). Sie kommt letztendlich zu dem Schluss, dass der Identitätspolitik darin die Aufgabe zukomme, Herrschaftsverhältnisse auch innerhalb sozialer Bewegungen aufzuzeigen und zu analysieren (vgl. S. 113).
Andrea Bramberger entwickelt viele Fragen zum Thema „Verbundenheit und Solidarität“ (vgl. S. 117 ff.) und betont die Bedeutung von „Selbstreflexivität im Handeln, im Schreiben, im Forschen und in der Wissensproduktion.“ (S. 120)
III. Feministische Interventionen
Die Beiträge setzen sich mit Möglichkeiten intersektionaler Solidaritäten in ihren jeweiligen Forschungs- und/oder Praxisbereichen auseinander:
Magdalena Baran-Szoltys und Christian Berger ziehen Lehren aus dem Frauen*Volksbegehren 2.0 von 2018 in Österreich.
Elisabeth Reitinger, Barbara Pichler und Katharina Heimerl fragen nach theoretischen Annahmen aus der empirischen Pflegeforschung, da Sorgearbeit in der Altenpflege sowohl Geschlecht, als auch Klasse und Migration betreffe.
Elisabeth Koch und Rosemarie Schöffmann verfolgen an Hand ihrer Erfahrungen mit feministischer Mädchenarbeit die Fragen, wie unter den Prämissen der Intersektionalität mit dem zentralen Begriff bzw. Konzept der Parteilichkeit in der feministischen Mädchenarbeit umgegangen werden sollte?
Heide Hammer und Utta Isop erläutern die Notwendigkeit formale Hierarchien in Frage zu stellen.
Brigitte Theißl befasst sich v.a. mit dem Klassismus. Sie fragt wie der Individualisierung von materieller Armut, Erwerbslosigkeit, Obdachlosigkeit u. ä. etwas entgegen gesetzt werden kann.
IV. Prekäre Allianzen
Henrike Bloemen fragt (bezugnehmend auf Antonio Gramsci) nach der Bedeutung des Alltagsverstandes für die Bildung intersektionaler Allianzen. „Kritische Geschlechterforschung, feministische Theorie und Praxis sind daran beteiligt, die als selbstverständlich erscheinende ‚natürliche Ordnung‘ … mit ihren Erzählungen ins Wanken zu bringen.“ (S. 166) Schließlich sei es möglich „dem herrschaftsförmigen, patriarchalen Konsens zuzustimmen“ (S. 168) zu verlernen.
Im Beitrag von Mareike Kajewski geht es um Zusammenhänge zwischen individuellen Emotionen und gesellschaftlichen Strukturen, wobei sie sich u.a. auf Agnes Heller bezieht (vgl. S. 174 ff.). Am Beispiel des Gefühls der Ohnmacht erläutert sie, wie dies mit Unterdrückungserfahrung korrespondiert und sich auch körperlich niederschlagen kann. Einen möglichen Ausweg sieht sie in der strukturellen Analyse der Situation von Frauen und daran anschießendem Training zur Selbstverteidigung und zum politischen Engagement (vgl. S. 187 f.).
Joschka Köck beschreibt seine künstlerische Intervention während der Tagung, wobei er u.a. die Bedeutung des „Sich-verwundbar-Machens“ verdeutlicht (vgl. S. 191, 196).
Brigitte Hipfl fragt nach der möglichen Bedeutung von Gefühlen für intersektionale Solidarität(en) und die Notwendigkeit von Übersetzungsprozessen z.B. von der Erfahrung von Gewalt über Wut bis hin zur Analyse gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse.
V. (Un)Mögliche Solidaritäten
Kaja Kröger kritisiert einen Umgang mit dem Begriff der Intersektionalität, der zur bloßen „Habitusäußerung“ verkommt: Intersektionalität „muss als feministischer Imperativ verstanden werden, aufzudecken, wie Diskriminierungsformen im Kapitalismus funktionieren und warum.“ (S. 222)
In der Auseinandersetzung mit dem Projekt der „Re-Existenz“, also den Kampagnen und Kämpfen in Lateinamerika gegen die kapitalistische Ausbeutung von natürlichen Ressourcen (v.a. für den Export), der menschlichen Arbeitskräfte und den Folgen verweist Johanna Leinius auf vielfältige Diskriminierungen und Benachteiligungen von Frauen durch gewalttätige Verfolgung von Aktivistinnen, durch die Folgen der Verknappung von Ressourcen (z.B. Trinkwasser), aber auch innerhalb z.B. indigener Gemeinschaften (aufgrund von geschlechtsspezifischen Arbeitsteilungen). Sie kommt dennoch zu dem Schluss, dass kollektive „Rechte auf Territorium, Kultur und Land … eingefordert werden (können), ohne den Kampf für sexuelle Selbstbestimmung und körperliche Integrität aufzugeben.“ (S. 233)
Bontu Lucie Guschke setzt sich mit verschiedenen Formen von Kritik auseinander. Sie betont u.a. die Notwendigkeit, eigene Handlungen immer wieder zu hinterfragen und zu reflektieren. So ist sie z.B. als „woman of color“ (S. 247) und Dozentin in Dänemark Teil einer westlichen Organisation und trägt somit zu deren Reproduktion bei, zugleich hat sie aber auch die Möglichkeit wissenschaftliche Ergebnisse und Belange von Frauen, die sonst oft übersehen werden, einzubringen: durch Zitation, Literaturlisten, Einladungen, eigene Teilnahme an Globalen Konferenzen usw. (vgl. S. 248).
Brigitte Bargetz fasst zusammen, dass es um eine „Solidarität über Differenzen hinweg, engagierte und involvierte, aber auch verkörperte Kritik sowie neue Beziehungs- und Lebensweisen, die auch nicht-menschliche Natur umfassen“, ginge. Sie plädiert „für eine zugleich situierte und historisierende, kritische und gerade nicht ruhiggestellte Geschlechterforschung“ (S. 253 f.).
VI. Solidaritäten in der Praxis
Carla Küffner und Katrin Feldermann führen einen digitalen Dialog über das politische Mandat in der Sozialen Arbeit (nach Hans Thiersch) und über ihre Erfahrungen mit aktivierender Sozialforschung in Lehre und Praxis. Abschließend setzen sie sich kurz mit der „Sorge für sich selbst“ (nach Lann Hornscheidt) auseinander.
Caroline Schmitt definiert Solidarität „als diversitätsorientiert, relational, machtkritisch und inklusiv“. Sie habe den Abbau von Ungleichheiten zum Ziel (S. 273 f.). Caroline Schmitt fragt danach, „wo Solidarität entsteht und umgesetzt wird“ (S. 269) und stellt zwei Beispiele von Artivismus vor, dessen Anliegen es ist mit Hilfe von Kunst im öffentlichen Raum zu irritieren und gesellschaftlich verändernd zu wirken (S. 275): Musik, die auf die Situation im Iran aufmerksam macht und Performances zum Thema Migration und Flucht, um Solidaritätsgefühle bei Zuschauenden zu erreichen. Abschließend entwickelt sie weiterführende Forschungsfragen und Anwendungsmöglichkeiten von Artivismus in der Sozialen Arbeit.
Im letzten Beitrag wird ein Online-Gespräch (von November 2022) zwischen Pauline Roeseling und Verena Kumpusch sowie zwei Vertreterinnen der Frauen*solidarität Wien – „Feministisch-entwicklungspolitische Informations- und Bildungsarbeit“ dokumentiert. Die seit über 40 Jahren bestehende Organisation hat sich historisch von einer Grassroots-Bewegung zu einer NGO entwickelt. Ihr Ziel ist es – so Luisa Dietrich Ortega - u.a. „längerfristige Partner*innenschaften mit Frauenorganisationen aus dem Globalen Süden eingehen“ zu können und Zugänge für junge Menschen in Österreich zu schaffen (S. 300). Andreea Zelinka betont u.a., dass die Organisation auch einen Raum für eine Vielzahl von unterschiedlichen Positionen zwischen den sozialen Bewegungen und für Widersprüche bietet.
Diskussion
Der Band vermittelt einen sehr guten Überblick über den Stand der Diskussionen zum Thema aus vielen Perspektiven, z.B. von Genderstudies, Soziologie, Philosophie, Politikwissenschaft, Erziehungswissenschaft, Sozialarbeit und Kultur. Entwickelt werden eine Vielzahl von Forschungsfragen und Anregungen für die Praxis, wobei auch die ausführlichen Literaturlisten zu den einzelnen Texten erwähnt werden sollen. Insgesamt sind die Beiträge gut nachvollziehbar, theoretisch fundiert und z.T. mit Beispielen aus der Praxis ergänzt.
Am Beitrag von Joschka Köck werden allerdings die begrenzten Möglichkeiten einer Online-Tagung deutlich, wenn u.a. eine aktive (körperbezogene) Teilnahme aus dem Publikum gefordert ist, um im Rahmen einer Performance zu verdeutlichen, wie individuelle und kollektive Verletzlichkeit bei Umweltzerstörungen herstellbar ist.
Warum der Beitrag von Bontu Lucie Guschke, einer deutschsprachigen Autorin, hier in englischer Sprache abgedruckt ist, erschließt sich der Rezensentin nicht.
Fazit
Mit Hilfe von 23 Beiträgen aus verschiedenen sozialen und wissenschaftlichen Perspektiven sucht der Dokumentationsband Antworten auf die Frage zu geben, wie Solidarität im Kontext von Intersektionalität möglich ist bzw. werden kann. Deutlich wird der fluide Charakter von Bündnissen, die immer wieder neu und anders geschlossen werden müssen, um potenzielle gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken.
Rezension von
Prof. Dr. Barbara Ketelhut
(im Ruhestand)
Hochschule Hannover, University of Applied Sciences and Arts
Homepage www.hs-hannover.de
E-Mail: barbaraketelhut@aol.com
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Es gibt 18 Rezensionen von Barbara Ketelhut.
Zitiervorschlag
Barbara Ketelhut. Rezension vom 12.12.2024 zu:
Kirstin Mertlitsch, Brigitte Hipfl, Verena Kumpusch, Pauline Roeseling (Hrsg.): Intersektionale Solidaritäten. Beiträge zur gesellschaftskritischen Geschlechterforschung. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2024.
ISBN 978-3-8474-2667-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31931.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.
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