Ludger Pries: Soziologie
Rezensiert von ao. Univ.Prof. Dr. i.R. Gerhard Jost, 16.07.2024

Ludger Pries: Soziologie. Schlüsselbegriffe - Herangehensweisen - Perspektiven. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2024. 5. Auflage. 304 Seiten. ISBN 978-3-7799-7894-7. D: 15,00 EUR, A: 15,50 EUR.
Autor
Ludger Pries ist Senior-Professor an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Ruhr-Universität Bochum, nachdem er von 2002–2021 den Lehrstuhl für Soziologie (Organisation, Migration, Mitbestimmung) an dieser Fakultät innehatte. Seine Arbeiten beziehen sich auf ein breites Forschungsfeld, und zwar der Arbeits- und Organisationssoziologie, der Migrationssoziologie, der Transnationalisierung und Globalisierung, der Lebenslauf- und Biographieforschung sowie Forschung zum internationalen Vergleich. Seine wissenschaftliche Tätigkeit führte ihn dazu, in Spanien, Mexiko, Brasilien und USA zu forschen und zu lehren.
Thema
Das Buch ist aus der Lehrtätigkeit des Autors entstanden – Prof. Ludger Pries führte Vorlesungen zu den Grundlagen der Soziologie und soziologischen Denkens durch. Der Text soll dabei über Schlüsselbegriffe und Denkweisen für die Vermittlung der soziologischen Grundlagen sorgen. Im Jahre 2016 wurde das Buch von der Deutschen Gesellschaft für Soziologie mit dem René-König-Lehrbuchpreis ausgezeichnet. Angesichts dessen, dass eine größere Zahl von Büchern vorliegt, in denen eine Einführung über zentrale Themenbereiche oder soziologische Theorien (S. 9) verfasst wurde, ist es von Interesse, wie hier die Struktur und die (didaktische) Form des Textes entwickelt ist. Die vorliegende Ausgabe ist die fünfte Auflage und wurde nach einer Erstfassung im Jahr 2014, im Jahr 2023 in einigen Punkten erweitert, wie der Autor einleitend ausführt: Es wurden neuere Erkenntnisse zu Bereichen der Geschlechterforschung, zum Postkolonialismus und der Evolutionssoziologie aufgenommen sowie noch deutlicher der Nutzen der Soziologie im abschließenden Kapitel 13 diskutiert. Auch die Beiträge von Frauen zu soziologischen Zugängen und Forschungsbereichen wurde in den einzelnen Bereichen der Abhandlung noch systematischer diskutiert. Parallel dazu erfolgte eine Überarbeitung der sprachlichen Fassung, um – wie eingangs angeführt – die Verständlichkeit des Textes weiter zu erhöhen.
Aufbau
Die Inhalte werden auf der Basis einer gut nachvollziehbaren und stringenten Struktur entwickelt. Grundlegender Raster für die Ausführungen ist eine 3x3-Matrix: Soziales Handeln, soziale Ordnung und sozialer Wandel werden jeweils ausgehend vom Individuum, der Gesellschaft und eines Verflechtungszusammenhangs behandelt, also soziologische Grundbegriffe entlang sowohl eines mikro-, als auch makro- und mesosoziologischer Zuganges besprochen. Damit ergibt sich für das Buch ein Kern von neun Kapiteln, denen jeweils zwei Kapiteln voran- und nachgestellt werden. Nach der Einführung über zwei Anfangskapiteln wird in Kapitel drei, vier und fünf auf soziales Handeln, eben aus der Perspektive des Individuums (mit Grundbegriffen wie Sinn, Präferenzen und rationale Wahl), danach aus Gesellschaftsperspektive (u.a. Werte, Normen und Sozialisation) und abschließend aus der Verflechtungsperspektive (symbolische Interaktion und Kommunikation) behandelt. Genauso verläuft die Strukturierung beim Phänomen sozialer Ordnung, sodass in Kapitel sechs, sieben und acht zunächst vom Individuum (Identität, Habitus oder Kultur), danach der Gesellschaft (u.a. System und Institution) und schließlich der Verflechtungsperspektive (u.a. Lebenswelt, Netzwerk, Organisation) betrachtet werden. In derselben Struktur wird in Kapitel neun, zehn und elf der soziale Wandel abgehandelt, wieder zahlreiche Grundbegriffe und Denkweisen vorgestellt. Diesem zentralen Korpus von neun Kapiteln folgt abschließend ein Ausblick, werden einerseits Denkschulen am Beispiel sozialer Ungleichheit und erkenntnistheoretische Grundlagen sowie der Nutzen von Soziologie abgehandelt. Jedes der insgesamt 13 Kapiteln ist ähnlich aufgebaut – nach einem einführenden Beispiel folgen mehrere (Haupt-)Abschnitte. Diese werden abschließend zusammengefasst und mit Verständnis- bzw. Übungsfragen versehen.
Inhalt
Im ersten Kapitel wird zunächst auf grundlegende Fragen eingegangen: wie Soziologie als Wissenschaft entstanden ist, wie sie sich von anderen Wissenschaften und alltäglichen Perspektiven unterscheidet und welche Forschungszugänge sie ausgebildet hat. So werden wesentliche Punkte in der Geschichte der Soziologie, wichtige Autoren und Entwicklungslinien referiert. Deutlich gemacht wird dabei auch, welche gesellschaftliche Bedingungen einzelner Perioden zur Entwicklung beitrugen. Der Autor verweist auf insgesamt sechs Faktoren, die für die Soziologie bedeutend waren, wie u.a. die Herausbildung der (National-)Staaten, die Ausdehnung der kapitalistischen Industriegesellschaft, eine zunehmende Herauslösung aus traditionellen (agrarischen) Lebensverhältnissen, verbunden mit einer (reflexiven) Modernisierung und Individualisierung. Daran schließt eine Diskussion der Frage an, wie Soziologie als Wissenschaft zu bestimmen ist, um schließlich in einem weiteren Abschnitt drei Positionen genauer zu umreißen: die drei Klassiker der Soziologie, Durkheim, Weber und Simmel, werden als Repräsentanten herangezogen, die in der Betrachtung von Sozialität stärker vom Individuum, der Gesellschaft oder der Verflechtung ausgehen. Der Autor verortet sich dabei als soziologischer Vertreter, der die Verflechtungsperspektive als besonders bedeutend hervorhebt.
Im zweiten einführenden Kapitel werden „anthropologische Grundlagen“ (S. 37 ff.) behandelt, also Fragen erörtert, wie sich Menschen von anderen Lebewesen unterscheiden und inwieweit der Soziologie ein spezifisches Menschenbild zugrunde gelegt wird. In Kontrast zum wirtschaftswissenschaftlich dominanten Bild des „homo oeconomicus“, der Verhalten auf individuelle Vorteile und Nutzenmaximierung ausrichtet, steht in der Soziologie der „homo sociologicus“ (Dahrendorf): Das Individuum wird durch ein Bündel an Rollen in die Gesamtgesellschaft integriert. Im Konzept der Figurationen/Verflechtungen von Norbert Elias, das diesen Ausführungen folgt, wird der interaktionistische Aspekt der Handlungszusammenhänge betont, von der Vorstellung einer in Rollen und Normen präformierten Gesellschaft als Entwicklungsschablone des Individuums abgegangen. Damit sollte auch dem Gegensatz von Individuum und Gesellschaft entgegengewirkt werden. Im Weiteren entwickelt der Autor Überlegungen zum Aspekt, wie sich der Mensch vom Tier unterscheidet und welches Bild davon in soziologischen Theorien zu rekonstruieren ist. Er verweist auf Forschungen, die die klare Trennungslinie relativieren, aber genauso auf die höhere kognitive Entwicklung gemessen an der Zahl der Synapsen und Gehirnzellen sowie einem komplexen Symbol- und Kommunikationssystem. Dies steht im Zusammenhang mit einem großen Ausmaß an sozial-kulturell erlernten bzw. „vererbten“ Handlungskompetenzen, wodurch beim Menschen genetisch vererbte Eigenschaften nicht so bedeutend erscheinen wie bei anderen Lebewesen. Schließlich wird vom Autor noch auf das Menschenbild im Behaviorismus und im Kontext der Bedürfnispyramide von Maslow eingegangen sowie abschließend auf die gerade in interaktionistischen (Handlungs-)Theorien wichtigen Situationsdeutungen und Sinnzuschreibungen.
Im anschließenden dritten Kapitel wird mit den Ausarbeitungen zur zentralen Matrixstruktur des Buches begonnen und soziales Handeln aus einer mikrosoziologischen Perspektive (ausgehend vom Individuum) betrachtet. Soziales Handeln verweist bereits auf die Verstehende Soziologie von Max Weber. Im Kern ist Handeln ist mit einem (subjektiv gemeinten) Sinn versehen und ist auf andere bezogen. Versucht man es zu verstehen, ist folglich eine Kenntnis von alltägliche Handlungszusammenhängen notwendig. Idealtypisch kann nach Max Weber zwischen vier Kategorien sozialen Handelns unterschieden werden, allen voran dem zweckrationalen Handeln, das unter Einbezug von Verhaltenserwartungen ein angestrebtes Ziel erreichen möchte. Davon wird das wertrationale, das affektuelle und das traditionale Handeln unterschieden. Sinnverstehen wird folglich aus dieser Perspektive zur zentralen Aufgabe der Soziologie erklärt und ist Ausgangspunkt zahlreicher (vielfach qualitativer) Forschungen geworden. Der Autor lenkt dann die Aufmerksamkeit auf eine stärker rationalistisch konzipierte Handlungstheorie (u.a. Esser), dem sogenannten RREEM-Modell. Es verbindet Annahmen aus dem „homo oeconomicus“ mit jenen aus dem „homo sociologicus“, berücksichtigt aber zusätzlich noch die Dimension der Ressourcen. Der Autor verweist darauf, dass das Modell doch stärker von Vorstellungen einer rationalen Wahl geprägt ist und ein Übergewicht in diese Denkrichtung besteht. Schließlich wird noch auf das Konzept der Lebenswelt (Schütz) und den Differenzen zur Verstehenden Soziologie von Weber eingegangen.
„Soziales Handeln ausgehend von der Gesellschaft“ wird in Kapitel vier (S. 77 ff.) abgehandelt. Verhalten wird in dieser Ausrichtung in erster Linie mit Blick auf gesellschaftliche Normen und Ordnungsmuster analysiert. In einer solchen Zuwendung ist davon auszugehen (wie u.a. bei Klassikern wie Durkheim, Marx oder Parsons repräsentiert), dass gesellschaftliche Verhältnisse oder Systeme dafür verantwortlich sind, wie wir handeln. Soziales Handeln wird folglich über Sozialisation hergestellt. Parsons als ein Vertreter einer solchen Perspektive unterscheidet das Sozial- und Kultursystem, also einerseits die Rollen und Ordnungen und andererseits die Normen und Werte. Auch in den Arbeiten von Norbert Elias, auf die der Autor in diesem Zusammenhang verweist (S. 84), zeigt sich die gesellschaftliche Normierung von Verhalten: wie man isst, wandelt sich im „Prozess der Zivilisation“ und wird als sozial erlernte Verhaltensregeln durch den sozialen Austausch internalisiert. Der Autor geht auch auf die Ausdifferenzierung von Normen ein – so ist die Gültigkeit von Normen oftmals auf bestimmte Gruppen beschränkt, stellt sich u.a. die Frage nach dem Formalisierungs- und Verrechtlichungsgrad bzw. der Art der Sanktionierung. Neben den Normen werden in der Gesellschaft Rollen ausgebildet, die sich einem Inhaber einer Position als Verhaltenserwartungen präsentieren. Eingegangen wird in diesem Kontext noch auf Grundbegriffe wie Inter- und Intrarollenkonflikte, sowie auf die vielfach zitierten Orientierungsmuster des Handelns nach Parsons (S. 92). In der Sozialisation werden dem Individuum die Werte, Normen und Rollen der Gesellschaft vermittelt, wobei dies als Prozess der (produktiven) Aneignung und nicht als Ausdruck einer passiven Übernahme zu verstehen ist.
In einer Verflechtungsperspektive von sozialem Handeln erhält die Interaktion einen zentralen Stellenwert – diese Perspektive wird in Kapitel fünf abgehandelt. Bedeutungs- bzw. Sinnstrukturen werden erst in der Interaktion festgeschrieben. Insofern ist soziales Handeln weder allein mit gesellschaftlichen Faktoren noch mit subjektiven Sinnsetzungen in der Alltagswelt zu erklären. Die Situation selbst also auch die Erwartungen müssen gedeutet werden und sind Grundlage für die sukzessive Entwicklung des Handlungszusammenhangs. Der Autor greift diese Perspektive des Symbolischen Interaktionismus unter Verweis auf Ausführungen von Mead, Blumer und Goffman auf und führt sie unter Bezugnahme auf Literatur näher aus. Um die Perspektive der Verflechtung sozialen Handelns noch weiter zu verdeutlichen bzw. in einem anderen Modell zu spezifizieren, wird das Konzept des „kommunikativen Handelns“ nach Jürgen Habermas aufgegriffen. Im kommunikativen Handeln treffen – so die Annahme – vier Welten aufeinander: eine (geteilte) Lebenswelt, eine subjektive bzw. eine objektive und soziale Welt. Anhand zweier Beispiele wird verdeutlicht, was unter diesen Welten gefasst wird und wie sie in der Kommunikation zusammenspielen. Schließlich wird noch auf Vorstellungen von sogenannten „Praxistheorien“ verwiesen, welche die in klassischen Ansätzen kaum berücksichtigte Materialität und Körperlichkeit des Handelns in der Analyse stärker berücksichtigen und Kommunikationen unter Bezug auf diese Faktoren als „beständiger Fluss von Tun und Sprechen“ (S. 111) aufgefasst werden.
In Kapitel sechs wird erstmals die Ebene der sozialen Ordnung, „ausgehend vom Individuum“, behandelt. Zunächst wird auf Konzepte der Identität und des Habitus eingegangen, danach auf Vorstellungen von Kultur und sozialer Gruppe. Identität verweist auf die Kontinuität im Selbst bzw. der Selbst- und Fremdsicht einer Person. So wird bezugnehmend auf den Symbolischen Interaktionismus (Mead) zwischen dem I, Me und Self unterschieden, letzteres als Ergebnis der Vermittlung zwischen dem I and Me. Identität ist mit Bezug auf generalisierte Andere und (Gruppen-)Zugehörigkeiten als soziales Ordnungsmuster zu verstehen, das in der (reflexiven) Moderner als einmaliges und unverwechselbares Produkt hergestellt wird bzw. werden muss. Der Habitus (Bourdieu) hebt sich von Vorstellungen der Identität dadurch ab, dass sich seine dauerhafte Strukturiertheit nicht primär auf das Selbst bezieht, sondern auf Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster im Kontext von Klassen- und Schichtzugehörigkeiten – im Habitus ist die sozialstrukturelle Positionierung quasi ablesbar und lässt sich auch nicht verbergen. Der Habitus ist daher stark mit Ungleichheitsverhältnissen und den in einer Klasse ausgebildeten Verhaltens- und Deutungsstrukturen verwoben, die beginnend mit der Genese in der Kindheit in den Dispositionen weiterwirken. Kulturelle Entäußerungen wie der Geschmack, Vorlieben und Präferenzen, aber auch die Selbstsicht und das Auftreten – wie z.B. die vom Autor angesprochene „an Arroganz grenzende Selbstsicherheit“ von statushohen Gruppen (S. 120) – sind ein Ausdruck von Klassen- und Schichtzugehörigkeiten. Kultur, bestehend aus sozialen Praktiken, Symbolsystemen und Artefakten, verweist auf soziale Gruppen, denen man angehört oder an denen man sich orientiert. Als weiters (und letztes) Ordnungsmuster wird in diesem Kapitel noch die soziale Gruppe angeführt, wobei hier auf die Vergemeinschaftung und die subjektiv gefühlte Zugehörigkeit als Voraussetzung verwiesen wird.
Im siebten Kapitel werden Vorstellungen zur sozialen Ordnung aus einer makrosoziologischen Perspektive entwickelt – dabei liegt dem Kapitel der Aspekt zugrunde, dass im Kontext von sozialen Verhältnissen das Ganze als (funktionierendes) System mehr ist als einzelne Bestanteile (S. 130). Zunächst wird darauf verwiesen, dass sich das integrierte Ganze von der Umwelt abhebt und nicht auf einzelne Elemente angewiesen ist, um zu funktionieren. Fokussiert wird dann, wie sich Funktionszusammenhänge etablieren können, dass z.B. die Klassenstrukturen die Machtverhältnisse konstituieren. Personen und Handlungsweisen sind sekundär und austauschbar, das Ordnungsgefüge formiert alle weiteren sozialen Erscheinungen. Um diesen Zugang zu verdeutlichen, wird zunächst der Strukturfunktionalismus (von Parsons) näher ausgeführt, der sich „für die Struktur und Funktionsbedingungen von modernen Gesellschaften als soziale Systeme“ (S, 137) interessiert. Wie im Rahmen von biologischen Systemen wird fokussiert, wie sich die Systeme in ihrer Struktur aufrechterhalten und reproduzieren. Dazu benötigen sie nach Parsons vier Arten von (Sub-)Systemen, die bestimmte Funktionen erfüllen – so z.B. die Gemeinschaft die Integration und den dauerhaften Zusammenhalt. Der Autor merkt dazu an, dass der Fokus auf Ordnung und Stabilität des Strukturfunktionalismus durch die damals bestehende labile und krisenhafte Situation Ende der 30er Jahre verständlich wird. Luhmann rückt mehrere Jahrzehnte später nicht die Frage nach der Stabilität von Systemen in die Mitte seiner Theorie, sondern jene nach der Bildung und Funktion sozialer Systeme bzw. (stabiler) Strukturen (S. 139). Komplexitätsreduktion ist dabei das zentrale Stichwort, das im Text weiter ausgeführt und vertieft wird. In einem weiteren Abschnitt werden auf Basis einer Kritik am „methodologischen Nationalismus“ (S. 141) noch Vorstellungen zu Weltgesellschaft und (Post-)Kolonialismus ausgeführt. Die abschließenden Ausführungen beschäftigen sich mit sozialen Institutionen, die Verhalten strukturieren und – wie Ausführungen zu Bildung und vor allem Arbeit zeigen – Gesellschaft zentral strukturieren.
Als letzter Aspekt zur sozialen Ordnung wird in Kapitel acht wieder die Verflechtungsperspektive eingenommen, wodurch der Fokus auf soziale Kreise und Figurationen, Lebenswelten und soziale Praktiken, Netzwerke und Organisationen gelenkt wird. Bezuggenommen wird zunächst auf Simmel und auf sein Konzept sozialer Kreise, die ansprechen, dass sich Gefüge durch sozial relevante Gemeinsamkeiten und Zugehörigkeiten entwickeln, sich diese im Lebenslauf ausweiten und verändern. Die Frage der Bindungen und Interdependenzen lässt sich dann im Konzept der Figuration von Elias stärker finden. Eine Figuration – so das Beispiel des Autors (S. 156) – stellt etwa eine interagierende Fußballmannschaft dar. Im Weiteren wird auf den Begriff der (alltäglichen) Lebenswelt Bezug genommen (Schütz), die gleichsam natürlich gegeben und gar nicht zu hinterfragen“ ist (S. 158). Durch das Eintauchen in die Lebenswelt anderer, wird es möglich, die Sinn- und Relevanzstrukturen durch (Re-) Konstruktionen zweiten Grades zu erkennen. Schließlich wird in diesem Abschnitt (nochmals) die Praxistheorie aufgegriffen, um eine weitere auf Sinnstrukturen abzielende mesosoziologische Perspektive (etwas) auszuführen. Um Muster von Beziehungsstrukturen zu erkennen, werden – damit wird noch ein weiterer Punkt von Ordnung in der Verflechtungsperspektive verwiesen – häufiger Netzwerkanalysen durchgeführt. Diese beziehen sich in der Regel auf die Intensität und das Ausmaß von Kontakten einer Person, einer Gruppe oder Organisation. In diesem Kontext wird auch die bekannte Erkenntnis von Granovetter ausgeführt, der die „Stärke von schwachen Bindungen“ (S. 162) erkannte. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels wird auf Organisationen als bedeutende moderne Vergesellschaftungsformen und auf die Bestimmungsmerkmale dieses Kooperationsgefüges eingegangen.
Im folgenden Kapitel neun wird die Ebene des sozialen Wandels angesprochen, und zwar „ausgehend vom Individuum“ (S. 170 ff.). Während vorangegangene Perspektiven im Wesentlichen als Querschnittsanalysen zu sehen sind, also die Zeitlichkeit und das Werden in der Analyse zurückgestellt wird, nehmen die Kapitel zum sozialen Wandel, sei es im Konzept der Biographie bzw. der Institution des Lebenslaufs und der Generationen, die Verzeitlichung auf und fokussieren Ereignis- bzw. Erfahrungsaufschichtung. Der Lebenslauf stellt nicht nur eine Abfolge von Lebensereignissen dar, sondern hat sich in modernen (bürgerlichen) Gesellschaften als wesentliche Erfahrungs-, Handlungs- und Strukturvariable des sozialen Lebens institutionalisiert. Lebenslauf und Biographie werden benötigt, um sich in sozialen Kontexten zu verorten und einzufügen. Die Institutionalisierung des Lebenslaufs beruht auf mehreren Wandlungstendenzen, auf die im Text genauer eingegangen wird. Die Regulierung des Lebenslaufs und die Strukturierung der (biographischen) Wissensbestände stellt nun eine (zusätzliche) Orientierungsfolie für soziales Handeln dar. In diesem Kontext wird im weiteren Kapitel der von Mannheim geprägte Begriff der Generation vorgestellt: Bezugsgruppen bestehen durch die Zugehörigkeit zu einer (Geburts-)Kohorte und gemeinsam erfahrener Lebensereignisse, Erfahrungen oder Lebenslagen (z.B. Generation Z). Letztlich wird in diesem Kapitel behandelt, wie sich die Gesellschaft hin zu einer bürgerlich-kapitalistischen wandelt und welche Faktoren für die Änderung von sozialen Prozessen und Logiken bedeutend sind. Abgeschlossen wird das Kapitel mit einer Diskussion über postmaterialistische Einstellungen und dem Wertewandel im Kontext von Migration.
Wurde nun zunächst sozialer Wandel auf der Ebene des Einzelnen behandelt, wird in Kapitel zehn eine gesamtgesellschaftliche Perspektive entwickelt, womit sich sozialer Wandel „auf grundlegende Veränderungen in der Gefügestruktur der Gesellschaften, auf ein Resetting in den Formen und Mechanismen der gesellschaftlichen Differenzierung und Integration“ bezieht (S. 187). So zeigt der Autor auf der Basis entsprechender Abbildungen beispielhaft die Veränderungen in der Sozialstruktur zwischen der ländlichen Feudalgesellschaft und der modernen Gesellschaft der 1960er-Jahre am Beispiel Deutschlands. In einem Abschnitt zu den Ursachen, Formen und Wirkungen sozialen Wandel werden einerseits zahlreiche bedeutende Faktoren benannt (z.B. technischen Innovationen, wirtschaftliche und wissenschaftliche Entwicklungen, ökologische Faktoren), andererseits darauf hingewiesen, dass die Einstufung von Faktoren als Ursachen, Formen oder Folgen in Analysen selbst schwierig ist. Danach wird auf zentrale Erklärungsmuster soziologischer Klassiker (Durkheim; Weber/Tönnies) Bezug genommen, die gesellschaftlichen Wandel mit Formen der Solidarität und Arten der Vergesellschaftung bzw. Vergemeinschaftung in Zusammenhang bringen. Schließlich wird noch auf Arbeiten Bezug genommen, die sich mit der Frage beschäftigen, in welcher Gesellschaft man lebt. Der Autor greift einige dieser Gesellschaftsdiagnosen auf, nimmt u.a. auf Globalisierung oder den Übergang zu einer Dienstleistungs- bzw. Wissensgesellschaft Bezug. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels wird auf Theorien sozialen Wandels eingegangen, konflikt-, system- und modernisierungstheoretische Perspektiven aufgegriffen und die Differenzen expliziert.
Im letzten Kapitel zur 3x3 Matrixstruktur des Buches, in Kapitel elf, wird „sozialer Wandel aus der Verflechtungsperspektive“ näher betrachtet. In den Fokus kommen dadurch soziale Konflikte, die sich auf die situationsübergreifende Auseinandersetzung um Ressourcen, Themen, Werte und Symbolsysteme beziehen (211 ff.). An dieser Stelle werden wieder einzelne soziologische Positionen aufgegriffen, in diesem Fall insbesondere jene einer marxistischen und einer machtbasierten Konflikttheorie (Dahrendorf) als auch von funktionalistischen Zugängen. Auch die These der „zweiten Moderne“ und die mit dieser Forschung einhergehende Frauen- und Geschlechterforschung wird dann beispielhaft für die Verflechtungsperspektive im sozialen Wandel aufgegriffen und näher ausgeführt. Im Weiteren werden Macht und Herrschaft als Faktoren des sozialen Wandels, auch im Kontext von (bürokratischen) Organisationen (Weber) aufgegriffen und näher besprochen. Schließlich wird noch die Bedeutung von sozialen Bewegungen für Prozesse sozialen Wandels aufgegriffen: „Soziale Bewegungen können als eine äußerst wichtige Form der Kanalisierung sozialen Wandels betrachtet werden“ (S. 225). Der Autor verweist schließlich darauf, dass die Verflechtungsperspektive mit ihren Schlüsselbegriffen „eine ertragreiche Erforschung von Formen, Voraussetzungen und Folgewirkungen sozialen Wandels eröffnet“ (ebd.).
In den letzten beiden Kapiteln zwölf und dreizehn werden noch abseits der Gliederung der 3x3 Matrix zwei grundlegende Thematiken der Soziologie aufgegriffen und näher behandelt. Kapitel zwölf beschäftigt sich ausführlich mit sozialer Ungleichheit, dem „Kernthema der Soziologie“ (S. 250), das auf allen Ebenen – des sozialen Handelns, der sozialen Ordnung und des sozialen Wandels – präsent ist. Auf diese Weise werden mikro-, meso- und makrosoziologische Ansätze in einem Themenbereich näher betrachtet. Zunächst wird in diesem Kapitel darauf eingegangen, was unter sozialer Ungleichheit verstanden wird, um die Frage anzuschließen, wie sich die Verteilungs- und die Chancenungleichheit – auch geschlechtsspezifisch – darstellt. Gefüge sozialer Ungleichheit können mit unterschiedlichen Begriffsinstrumentarien wie z.B. der sozialen Klasse (bei Marx und Weber) oder dem Schichtungsbegriff (Geiger) analysiert werden. Einen eigenen Zugang zur Analyse von sozialer Ungleichheit hat Bourdieu entwickelt, der den Einzelnen als Träger von unterschiedlichen Kapitalsorten sieht, wodurch Personen bzw. Gruppen im sozialen Raum positioniert sind. Schließlich werden noch die (intra- und intergenerationelle) Mobilität und die globale soziale Ungleichheit als Thematiken aufgegriffen. Im letzten Kapitel wird abschließend das Problem des Erkenntnisgewinns in der soziologischen Forschung aufgegriffen. Als eine Grundproblematik greift der Autor auf, dass (empirische) Sozialforschung immer Teil des Forschungsgegenstands ist. So führt er aus, dass zwar die Subjektivität des Forschers abgeschwächt werden kann, letztlich aber „die Beeinflussung des Erkenntnisobjekts durch das Erkenntnissubjekt eigentlich immer gegeben“ sei (S. 257). Im Weiteren werden einige (klassische) Paradigmen wissenschaftlichen Verständnisses ausgebreitet – der Standpunkt von Durkheims soziologischer Tatbestände, Webers verstehende Soziologie und Simmels phänomenologische Denkweise. Interessant ist diesem Zusammenhand der Verweis auf ein „pragmatisches Wissenschaftsverständnis“, das darauf abzielt dem Alltagsverständnis überlegen zu sein, einen „empirischen Wahrheitsgehalt“ aufweist und nach einer angebbaren „logischen Konsistenz“ aufgebaut sein soll (S. 260). Im letzten Abschnitt wird noch anhand einer (klassische) Studie aus dem Migrationsbereich (Thomas/Znaniecki 1918–1920) über polnische Bauern eine (mögliche) methodologische Position und „Trugschlüsse“ (S. 266 f.) bzw. Problematiken empirischer Sozialforschung aufgezeigt. Schließlich wird noch auf eine vergleichende Methodik bzw. Methodologie (John Stuart Mill) verwiesen und diese näher ausgeführt. Schließlich werden am Ende noch Forschungsbespiele zu Themen der Integration und Ungleichheit, zu den Bereichen Arbeit und Beschäftigung sowie Vielfalt und Zusammenhalt besprochen sowie der Nutzen soziologischer Erkenntnisse diskutiert.
Diskussion
Wie schon angeführt, hat die vorliegende Publikation einen (Lehr-)Buchpreis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie erhalten. Folglich stellt sich die Frage, welche Merkmale des Buches (wahrscheinlich) dazu geführt haben (könnten), dass es 2016 diesen Award erhielt bzw. wieso das Buch so hoch bewertet wird. Inhaltlich ist zunächst hervorzuheben, dass die Arbeit sehr originär konzipiert ist, neben einer mikro- und makrosoziologischen Perspektive wird eine mesosoziologische eingeführt. Diese „Verflechtungsperspektive“ wird auf alle drei Bereiche, und zwar auf das soziale Handeln, die soziale Ordnung und den sozialen Wandel angewendet. Diese 3x3 Matrix wird – mit Ergänzungen zu Beginn und am Ende – stringent durchgehalten und animiert dazu, den „roten Faden“ immer wieder zu folgen und die Struktur der Denkweise des Autors aufzusuchen. Auch wenn der Autor meint, dass die Zuordnung von einzelnen Grundbegriffen auch in anderen als den ausgewählten Kapiteln möglich gewesen wäre, wirkt die ganze Struktur für den Leser als kohärent und ist für das Lesen animierend. Hinzu tritt der didaktisch motivierte Aufbau des Buches. Zu Beginn jedes Kapitels sind in einem „Kasten“ eine „soziologische Regel“ und einführende Überlegungen zur anstehenden Thematik sowie die Gliederung des Kapitels zu finden. Danach erfolgt ein „Praxisbeispiel“ und die „Grundidee“ in diesem Kapitel. Auf diese Art und Weise wird der Fokus jedes Kapitels einführend stärker in allgemeinen Bezügen und alltagsweltlicheren Überlegungen eingebettet. Erst dann wird in drei bis vier Abschnitten der soziologische Diskurs ausgebreitet, immer aber auch mit Bezügen zu vorangehenden oder nachfolgenden Thematiken. Abschließend wird in jedem Kapitel eine Zusammenfassung, Übungsfragen bzw. -aufgaben und weiterführende Literatur angeboten. Alle diese – zusätzlichen – Texte sprechen den Leser gut an. Dass mit der Selektion von Inhalten Schwerpunkte in den soziologischen bzw. methodologischen Perspektiven gesetzt werden müssen, es sich nicht alle Ansätze und Einzelfeiten gleichermaßen berücksichtigen lassen und damit Präferenzen eingehen, ist klar und nicht Anlass für kritische Anmerkungen.
Fazit
Es handelt sich um ein (Lehr-)Buch, das nicht nur sehr gut gegliedert und aufgebaut ist, sondern auch mit vielen Beispielen gut verständlich ausgearbeitet ist. Die einzelnen Kapitel erscheinen mit Blick auf die studentische Vermittlung mit großem Aufwand entwickelt, trotzdem die Besprechung von Grundbegriffen und -perspektiven sehr umfassend ist. Mit den zahlreichen Beispielen u.a. aus der Migrations- und Integrationsforschung sowie aus der Ungleichheitsforschung ist das Buch sicherlich ein Beitrag dazu, die Soziologie als „spannende“ (S. 270) und „praktische“ Wissenschaft (S. 273) zwischen Engagement und Distanzierung (Elias) zu verorten und den „Horizont ihrer Veränderungsmöglichkeiten zu vermessen“ (S. 273).
Rezension von
ao. Univ.Prof. Dr. i.R. Gerhard Jost
Mitarbeiter am Institut für Soziologie und empirische Sozialforschung, WU, Wirtschaftsuniversität Wien, Department für Sozioökonomie.
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