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Christian Marty: Max Weber - ein Denker der Freiheit

Rezensiert von Peter Flick, 26.09.2024

Cover Christian Marty: Max Weber - ein Denker der Freiheit ISBN 978-3-7799-7298-3

Christian Marty: Max Weber - ein Denker der Freiheit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2024. 3., überarbeitete Auflage. 234 Seiten. ISBN 978-3-7799-7298-3. D: 38,00 EUR, A: 39,10 EUR.
Reihe: Wirtschaft, Gesellschaft und Lebensführung.

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Entstehungshintergrund

Für den Ideenhistoriker Christian Marty ist Max Weber der Vertreter eines „aristokratischen Liberalismus“. Auch im demokratischen Zeitalter sei für Weber die Sache der Freiheit eine „geistesaristokratische Angelegenheit“ derjenigen, die entschlossen sind, keinen „fremden Maximen“ zu gehorchen.

Webers Formel vom „neuen Polytheismus“ der rationalisierten Welt besagt, dass in ihr die verschiedenen Wertordnungen untereinander, wie früher die Götter und Dämonen, in einen „unauflöslichem Kampf“ miteinander verstrickt sind. Es ist eine Kernthese des Buchs, dass nur wenige Menschen den Willen haben, ihre persönliche Lebensführung nach einem allein von ihnen als wahr erkannten Wert auszurichten. Aber auf sie kommt es an.

„Wenn Freiheit auch in der kapitalistischen, bürokratischen, gottfremdem (und überaus schwierigen) Welt möglich ist, braucht es den Willen, stets der eigenen statt einer fremden Maxime zu gehorchen“ (7), heißt es dazu im Vorwort des Autors.

Autor

Das in der 3. Auflage erschienene Buch von Christian Marty (*1988) geht auf eine Dissertation zurück, die 2018 von der Universität Zürich angenommen wurde. Marty arbeitet heute als Ideenhistoriker und freier Journalist, der sich neben Weber auch mit den Werken Simmels, Plessners und Adornos beschäftigt. 2022 hat er zusammen mit Hans-Peter Müller und Barbara Thériault den Band „Kulturkritik im Namen der Freiheit. Von Georg Simmel bis Hannah Arendt“ herausgegeben.

Aufbau und Inhalt

Prolog (13 ff.)

Der Prolog beginnt mit einem Zitat von Norbert Bolz: „Was wird aus der Welt, wenn das metaphysische Obdach fehlt?“ (13 f.). Der These, dass ein prinzipiengeleitetes moralisches Denken außerhalb religiöser Kontexte in eine Krise gerät, folgt die Diagnose, dass die moderne Gesellschaft alle Lebensbereiche mit einem bürokratisch-rechtlichen Regelwerk überzieht, und so den Nährboden für einen „bequemlichen, tugendlosen, zutiefst mittelmäßigen Menschentyp“ (13), ohne Begriff von „Liebe, von Größe, Stern (?)“ (13) zu bilden.

Wilhelm Hennis, für den Autor ist er neben Dirk Kaesler, Stefan Breuer und Hans-Peter Müller der „originellste Weber-Forscher“ (17), habe Webers soziologisches Werk zu Recht als eine „Wissenschaft vom Menschen“ bezeichnet, die „ihren Ausgangs- und Endpunkt bei den größten, ja – letzten Fragen hat.“ (14). Webers „musikalischer Seele“ habe ihn zudem für das Pathos der „>tragischen Opern< des vorvorletzten Säkulums“ (17) empfänglich gemacht. Kein Wunder, dass die musikalisch unempfindlichen „Rationalisierungstheoretiker“ (19), wie Wolfgang Schluchter und Jürgen Habermas, bei Marty eher schlechte Karten haben. Sie übersehen, das im Zentrum des Weber’schenWerks eine Freiheitsidee stehe, die „Hingabe an letzte Werte, Aufopferung für die letzte Ideale“ (26) verlangt.

Teil 1 – Max Weber als Philosoph (49 ff.)

Nach einer weiteren Einleitung (28 ff.) und einer „kurze(n) Geschichte der Weber-Forschung“ (40 ff) beginnt der Überblick über „drei Werkdimensionen“ (35) mit der Darstellung des „Philosophen“ Max Weber. Dabei muss festgehalten werden, dass sich Weber im fachlichen Sinn nie als Philosoph verstanden hat. Allerdings hat der Einfluss der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus, wie seine These von der Werturteilsfreiheit zeigt, Webers Empfindlichkeit gegen naturalistische Fehlschlüsse geschärft. Sein gewiss „unkantianisches“ Misstrauen gegenüber der Leistungsfähigkeit einer praktischer Vernunft äußert sich als Kritik an der neukantianischen Wertphilosophie seines Lehrers Heinrich Rickert und materialen Wertlehren im Stile Max Schelers.

Martys Darstellung streift diese kantianischen Einflüsse und geht nur am Rand auf Webers Position in der Wertediskussion der 1920er Jahre ein. Zwar wird Carl Schmitts rückblickende Betrachtung zu dieser Debatte in „Tyrannei der Werte“ (1959) erwähnt (83), doch zeigt sich der Autor nur kurz „verstört“ durch die Nähe des Weber’schen Wertskeptizismus zum politischen Dezisionismus Schmitts (vgl. 183 f.). Wenn man von der „liberalen Theologie“ (49 ff.) seiner Zeit absieht, habe vielmehr die langjährige Beschäftigung mit Goethe Webers Persönlichkeitsideal im Sinne einer Balance von Hingabe und Begrenzung entscheidend bestimmt. Goethe sei der „Stichwortgeber“ für die Weber’schen Begriffe „Dämon, Bestimmung, Gestirn“ (55). Eine zentrale Vermittlerrolle spielte dabei Georg Simmel, gefolgt von anderen „nietzscheanischen Ecce Homines“, wie „Leo Tolstoi, Stefan George und andere(n) Charismatiker(n)“ (67),die zusammen Webers „existenzialistisch angehauchte, genuin solipsistische, ungeheuer heroische Freiheitsvorstellung“ (90) prägten.

Teil 2 – Max Weber als Sozialforscher (97 ff.)

Dieser „ungeheuer heroische“ Freiheitsbegriff, der „in neuerer Zeit vielen fremd“ (90) geworden sei, kollidiere schon zu Webers Zeiten mit der sozialen Wirklichkeit, wie der Autor feststellt. Diese sei auch heute nicht auf ein „leidenschaftliches, enthusiastisches Leben“ (96) hin angelegt. Dazu erläutert er die bekannte Bürokratisierungsthese Webers. Der Freiheitsverlust tritt ein, wenn die „kalten Skeletthände einer rationaler Ordnung“ (vgl. 107 ff.), die der Betriebskapitalismus und bürokratische Wohlfahrtsstaat verkörpern, auf das Leben des Einzelnen zugreifen. Dazu kommen die durch den modernen Wertepluralismus erzeugten antagonistischer Wertkonflikte. Im „stahlharten Gehäuse der Hörigen“ (146 ff.) gefangen ist und in Wertkonflikten auf sich selbst gestellt, gibt es für Weber keine „ganzen Menschen“ mehr, sondern nur noch „Fachmenschen ohne Geist“ und „Genussmenschen ohne Herz“ (Weber). Der Sinn für den Wert der Freiheit droht zu verkümmern.

Teil 3 – Max Weber als Erzieher (159 ff.)

Allein „Weber als Erzieher“ bahnt uns auch den Weg zu einer „möglichen Freiheit“, so der Autor. Das aber erfordert „echte“ Persönlichkeiten, die dem oben beschriebenen Konformitätsdruck widerstehen und den Willen bezeugen, ihre innere Autonomie zu verteidigen. Sie müssen Nietzsches „vornehme(r) Moral“ (165) beherzigen, indem sie allein „dem jeweils individuellen Gott, Ideal, Wert, der jeweils eigenen Bestimmung“ (166) gehorchen. Darin sieht Marty einen aktuellen Bezug zur Diskussion über eine Ethik der „Selbstsorge“ (169). Der „neue Polytheismus“, so der Autor, muss mit Karl Jasper und Albert Salomon alsexistentielle Aufforderung Webers interpretieren, die Einheit eines verbindlichen Sinns, den die Gesellschaft nicht herstellen kann, wenigstens in der Privatheit der eigenen Biographie herzustellen. Angesichts einer Pluralisierung der Werte muss „jeder den Dämon finden, der seines Lebens Fäden hält“, lautet die einzig gültige Handlungsmaxime, die der „Erzieher“ Weber uns an die Hand gibt.

Epilog (205 ff.)

Der Epilog zum Weber’schen Freiheitsbegriff endet mit einer philosophischen Sonntagspredigt. Im Licht des „Bewusstseins von grenzenlosen Möglichkeiten“ (218) menschlicher Freiheit, im Guten wie im Schlechten, bleibt nur der Appell zum Guten. „Wer entscheidet sich gegen die Liebe? Und wer dafür?“ (218) lauten die Schlussfragen des Buchs.

Diskussion

Einmal davon abgesehen, ob Christian Martys Interpretation Weber nicht zu nahe an die Seite Georg Simmels und eines existenzphilosophischen Freiheitsbegriffs rückt, stellt sich eine viel grundsätzlichere Frage: Was kann uns ein solipsistischer Freiheitsbegriff heute noch sagen, der die Existenz intersubjektiver Bezüge und den damit verbundenen moralischen Verpflichtungen schlichtweg negiert?

Und ist es wirklich so, dass Webers kulturpessimistische Formeln vom „neuen Polytheismus“ und „Nihilismus“ auf uns heute noch so skandalös wirken, wie das zu Webers Zeiten zweifellos der Fall war?

Eine zeitkritisch empfindliche Weber-Rezeption muss davon ausgehen, dass sich im Vergleich zu Webers Epoche die Konstellationen von Wirtschaft, Politik und Kultur verändert haben (nicht die Grundsignatur der Moderne). Sie muss sich der Herausforderung stellen, die Grundbegriffe seiner Zeitdiagnose auf ihre Leistungskraft hin zu überprüfen. Das gilt für Webers Begriff von „Freiheit“ genauso wie für seine Begriffe „Herrschaft“, „Charisma“ und „Persönlichkeit“ und nicht zuletzt für seine Metapher vom „stählernen Gehäuse der Hörigkeit“. Sie müssen in einem veränderten Interpretationsrahmen reflektiert und notfalls auch korrigiert werden, was auf den systemtheoretischen und handlungstheoretischen Linien der Weber-Rezeption von Parsons über Luhmann bis Habermas versucht wird.

Fazit

Der Autor hat keinen Zweifel daran, dass Webers kulturpessimistische Thesen und sein existentialistisch überhöhter Freiheitsbegriff nichts von seiner zeitdiagnostischen Kraft eingebüßt haben. Eine schlüssige Begründung, warum wir heute ausgerechnet an diesen Elementen des Weber’schen Liberalismus anknüpfen sollten, bleibt uns der Autor hingegen schuldig.

Rezension von
Peter Flick
Lehrer, unterrichtet die Fächer Sozialwissenschaften, Praktische Philosophie und Deutsch
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Es gibt 32 Rezensionen von Peter Flick.

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Zitiervorschlag
Peter Flick. Rezension vom 26.09.2024 zu: Christian Marty: Max Weber - ein Denker der Freiheit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2024. 3., überarbeitete Auflage. ISBN 978-3-7799-7298-3. Reihe: Wirtschaft, Gesellschaft und Lebensführung. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31950.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.


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