Meron Mendel: Über Israel reden
Rezensiert von Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann, 28.08.2024
Meron Mendel: Über Israel reden. Eine deutsche Debatte. Verlag Kiepenheuer & Witsch (Köln) 2023. 215 Seiten. ISBN 978-3-462-00351-2. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR.
Thema
„Blinken beendet Nahost-Reise ohne Abkommen für Gaza“ lautete am 21.8. die aktuelle Schlagzeile, eine Momentaufnahme eines Krieges und einer komplexen und mehr oder weniger verfahrenen politischen Situation im Nahost-Konflikt mit verschiedenem Profiteur: innen, Mitläufern/Mitläuferinnen, Akteur: innen und vielen an Leib und Leben Betroffenen und Opfern. In den letzten 9 Monaten seit dem Terrorangriff der Hamas auf viele Menschen der israelischen Zivilgesellschaft tobt ein Krieg des demokratischen Staates Israel mit der Terrororganisation Hamas, die von der libanesischen Hisbollah und den jemenitischen Huthi und letztlich von der Islamischen Republik Iran unterstützt wird. Leidtragende dieses Krieges sind die von der Hamas entführten israelischen Geiseln, die israelische Zivilbevölkerung, die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen und in der Westbank und die südlibanesische Zivilbevölkerung. Obwohl das Buch vor dem 7. Oktober 2023 erschienen ist, geht es unter die Haut und ist aktueller denn je. Meron Mendel nimmt die „Reden über Israel in der deutschen Öffentlichkeit“ auf und kritisiert diese sachlich, historisch und emotional-positioniert und argumentiert differenziert in der aktuellen Antisemitismus-Rassismus-Postkolonialismus-Diskussion. Von Haus aus ist Meron Mendel Historiker und leitet seit 2010 die Anne-Frank-Bildungsstätte in Frankfurt a.M. und lehrt zugleich (seit 2021) Soziale Arbeit „Transnationale Soziale Arbeit“) an der University of Applied Sciences in Frankfurt a.M. Auf seiner Homepage schreibt Meron Mendel: „Migrationsgesellschaft, Erinnerungskultur und Identitätspolitik sind Themen, die im Zentrum meiner Arbeit stehen. Mein Leben hat mich von Israel nach Deutschland, von einem Kibbuz in der Wüste in die Mainmetropole geführt“ ( https://www.meronmendel.de/, Abruf am 21.8.2024 [14:16 Uhr]. Promoviert wurde Meron Mendel an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. über die Lebensrealitäten jüdischer Jugendlichen in Deutschland.
Gliederung
Das Buch ist in 7 Kapitel eingeteilt: Prolog; Vorwort; Nachwort und Dank und vier Hauptkapitel („Die Bundeswehr an der Klagemauer; Drei Buchstaben mit Schlagkraft; Aus der Geschichte verlernt; Vergleichbar einzigartig“).
Inhalt
Ad Prolog (S. 7–24)
Das Buch beginnt mit Kindheitserinnerungen an den Sommer 1982 (S. 7), als der Vater von Meron Mendel als Reservist an die libanesisch-israelische Grenze eingezogen wurde, weil der erste Libanonkrieg ausgebrochen war. Im August 2024 herrscht wieder Krieg, zum einen, weil die Hamas aus dem Gazastreifen operiert und durch ihre terroristischen Aktionen Gegenreaktionen der israelischen Armee hervorgerufen hat und zum anderen wird der Norden Israels vom Libanon aus durch die dortige Hisbollah attackiert. Dazu gesellen sich seitens der Huthi aus dem Jemen Raketen- und Drohnenangriffe auf Israel. Alle drei Terrororganisationen werden vom Iran unterstützt, dessen erklärtes Ziel die Vernichtung des Staates Israel ist und die drei genannten Terrororganisationen werden vom Iran ideologisch auf Linie gebracht. Die Hamas wird zudem ideologisch vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan unterstützt, die Hamas sei eigentlich eine „Befreiungsorganisation“, so Erdoğan in einer AKP Fraktionssitzung 25.10.2023 (https://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-erdogan-hamas-israel-1.6293637).
1995 wird Meron Mendel selbst zum Wehrdienst eingezogen, zuerst ebenfalls an der libanesisch-israelischen Grenze in der Stadt Mardsch Uyun, später ist er in der Nähe von Hebron stationiert. Mit diesen biografischen Reminiszenzen macht Meron Mendel deutlich, dass sein politisches Interesse der demokratischen Zivilgesellschaft in Israel und dem friedlichen Zusammenleben der jüdischen, arabischen und drusischer Bevölkerung nicht nur in Israel, sondern auch in der Westbank und im Gazastreifen, gilt. Er selbst ist in einem Kibbutz im Süden Israels in der Negev-Wüste aufgewachsen und der sog. Nah-Ostkonflikt wurde „zur treibenden Kraft meiner Politisierung“, wie er über diesen Abschnitt in seinem Leben schreibt (S. 9). Interesse findet Mendel an binationalen Schulen, in denen arabische und jüdische Schüler: innen gemeinsam unterrichtet werden, beide Sprache lernen, um so die „Geschichte des Anderen“ kennenzulernen. Ernüchtert stellt der Autor jedoch fest (S. 11), dass zwischen den jüdischen und den arabischen Jugendlichen Welten zu liegen scheinen, aber trotzdem der Wille vorhanden war, sich dem Anderen zu öffnen, wozu sicherlich die Politik von Jitzchak Rabin (1922-1995) beigetragen hat, der 1993 in Oslo mit dem damaligen Palästinenserführer Jassir Arafat (1929-2004) zukunftsweisende Vereinbarungen geschlossen hatte – ein Frieden für Israel und Palästina wurde auf einmal vorstellbar.
Der israelische Philosoph Jeschajahu Leibowitz (1903-1994), „zugleich orthodoxer Jude, kompromissloser Humanist und scharfer Kritiker der israelischen Besatzungspolitik“ beeinflusste das Denken der linken israelischen Jugendlichen, zu denen sich Meron Mendel zählte. Leibowitz (S. 11) kritisierte zum Beispiel die „neue messianische Ideologie“ unter den eher nationalistisch-religiösen Juden (S. 12). Am 4.11.1995 wurde Jitzchak Rabin von einem jüdischen, rechtsnationalen Fanatiker erschossen (S. 12) und der erhoffte Frieden zwischen Israelis und Palästinensern kam ins Stottern und letztlich zum Erliegen: „Ich war kein Pazifist, aber die Vorstellung, dass der vorher fast greifbare Frieden nun in ferne Zukunft gerückt war, machte mir große Angst“ (S. 13). In seiner Wehrdienstzeit war Mendel mehrheitlich von rechtsnationalistischen Kameraden umgeben, was schnell zum Problem werden konnte, denn die Einheit, der Mendel angehörte, hatte 500 Siedler: innen in der Nähe von Hebron/Westjordanland zu verteidigen und bei Hausdurchsuchungen kam es immer wieder zu Schikanen gegen die arabische Bevölkerung (S. 14). Die israelische Besatzungspolitik in der Westbank bedeutete unter dem damaligen und jetzigen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu ein Besatzungsregime, was nur dank der „Gewalt der Besatzer“ und der „Angst der einheimischen Bevölkerung“ vor eben diesen Besatzern funktionieren konnte (S. 15). Mendel muss in diesen Erinnerungen eingestehen, dass eher die palästinensische Zivilbevölkerung Schutz vor den jüdischen Siedler: innen nötig gehabt hätte als umgekehrt. Mendel kritisiert in diesem Zusammenhang vor allem den Kurs der jetzigen rechtsextremen Regierung Netanjahus, vor allem den Minister Ben-Gvir, der wegen rechtsradikaler Äußerungen sogar aus dem Militär ausgeschlossen worden war (S. 16): „Sein Hass auf Araber und Linke und seine rassistische Ideologie waren schon damals fest zementiert“ (S. 16). Nach der Armeezeit begann Mendel sein Studium in Haifa und er suchte dort Kontakt zur arabischen Community (S. 18). Im Oktober 2009 kam es zu gewalttätigen Demonstrationen in Haifa und so zum Bruch zwischen jüdischen Israelis und arabischer Bevölkerung (S. 19). Mendel wechselte daraufhin nach München, wo er dann mit den deutschen Perspektiven auf Israel und den Nachbarschaftskonflikt mit der arabischen Bevölkerung konfrontiert wurde (S. 19): Die jetzige Situation wird von Mendel als demokratiegefährdend beurteilt, weil der Konflikt durch die Politik Netanjahus vertieft statt gelöst wird und andererseits in Israel demokratische Institutionen in der Gefahr stehen, eingeschränkt, ja sogar abgebaut zu werden, was die Demonstrationen um die Justizreform Netanjahus gezeigt haben. Meron Mendel selbst versteht sich aber – auch in Deutschland – als Brückenbauer und er schreibt: „Ich habe es (=das Buch, SWE) geschrieben als Israelis, der inzwischen auch Deutscher ist. Es ist das Buch desjenigen, der gestern kam und morgen bleibt“ (S. 24).
Ad Vorwort (S. 25–34)
Im Vorwort kommt Mendel auf die 15. Documenta-Ausstellung in Kassel (18.6. bis 25.9.2022) zu sprechen, auf der antisemitische Tendenzen, Texte, Haltungen von Künstlern und Künstlerinnen aus Indonesien, Gaza und Tunesien sichtbar wurden und es zu heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen nicht nur in der Kunstszene, sondern auch in der deutschen Öffentlichkeit, kam. Die Haltung Meron Mendels in diesem Konflikt, der zugleich ein Erinnerungsdiskurs zur deutschen Haltung zum Thema Antisemitismus darstellt, tut gut, denn die Position Mendels ist differenziert und entemotionalisiert die erregte Diskussion. Nach dem 7. Oktober 2023 sind in Deutschland vielerorts propalästinensische Demonstrationen veranstaltet worden, die einerseits auf die Leiden der palästinensischen Bevölkerung im Gaza-Streifen infolge der Kriegshandlungen zwischen der Hamas und der israelischen Armee aufmerksam machten, andererseits aber unverhohlen die Hass-Ideologie der Hamas kundtun. Das Schicksal der immer noch verschleppten israelischen Geiseln und die Angst der Familien um diese werden jedoch nicht thematisiert und es wird kaum Energie für die Lösung dieses Krieges aufgewendet. Mendel kritisiert nicht nur die heftige Emotionalität dieser Demonstrationen, sondern vor allem die Unkenntnis der tatsächlichen gesellschaftlichen Realitäten in Israel und Palästina (S. 27). Die Lösung des Konflikts zwischen Israel und Palästina werde nicht in Deutschland gefunden, so die lapidare Antwort Meron Mendels (S. 27). Die letzte MITTE-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (erschienen im September 2023) gibt Mendels Einschätzung der gesellschaftlichen Situation in Deutschland recht, denn viele Deutsche stimmen der These zu, dass die Israelis die Nazis von heute seien (S. 29). Solche Reduktionen und Vereinfachungen erfassen nicht die Aufgabe der Erinnerungskultur, sondern dienen der moralischen Entlastung der Deutschen nach der Schoah und sind letztlich dem sekundären Antisemitismus mit seiner Täter-Opfer-Umkehr verbunden (Th. W. Adorno), so Mendel. In diesem Zusammenhang kritisiert der Autor auch die sog. deutsche Staatsräson, die der menschenrechtswidrigen Politik der Regierung Netanjahus nichts entgegensetzen könne, weil mit einer Kritik deutsche (Wirtschafts-)Interessen gefährdet wären (S. 31). Mendel kontextualisiert in diesem Zusammenhang auch die BDS-Bewegung (Boykott-Desinvestment-Sanktionen) und charakterisiert sie als antiisraelisch und auch zum Teil als antisemitisch (S. 31). Mendel macht in diesem Abschnitt auf die Kluft zwischen einer tendenziell proisraelischen Elite versus tendenziell antiisraelischer deutscher Bevölkerung aufmerksam und damit auf einen „israelbezogenen Antisemitismus“, einer neuen Spielart des Antisemitismus (S. 32).
Ad: Die Bundeswehr an der Klagemauer (S. 35–66)
2008 erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel die Sicherheit und damit verbunden die Existenz Israels zur deutschen Staatsräson (S. 36). Was zwar moralisch gut klingt, ist nach Meron Mendels Einschätzung realpolitisches Kalkül (S. 37) und Staatsräson als Prinzip steht jedoch gegen rechtsstaatliche Entscheidungen (S. 40). Mit Konrad Adenauer begann die Politik der sog. „Wiedergutmachung“ (S. 41), was aber als Lebenslüge einer Generation verstanden werden müsse, denn die Wiedergutmachung „war ein Mittel, um das bundesdeutsche Ansehen in der Welt wiederherzustellen“ (S. 43) – im Vordergrund stand das inszenierte Selbstbild „eines demokratisch gewandelten Deutschlands“ (S. 44) – ein Reinwaschen Deutschlands. Ab 1959 gab es deutsche Waffengeschäfte mit Israel und umgekehrt (S. 45). Der Sechstagekrieg 1967 brachte dann eine ideologische Wende vor allem bei den Linken in Deutschland. In der Linken-Community war Israel bis 1967 beliebt, danach wurde Israel als imperialistisch charakterisiert (S. 49). Der Golfkrieg 1990/1991 zeigte wiederum ein ambivalentes Gesicht Deutschlands, denn hessische und hamburgische Firmen waren am Aufbau irakischer Anlagen zu Giftgasprodukten beteiligt (S. 51). Im Golfkrieg sagte Kanzler Kohl Israel drei U-Boote zu: „Was als Handeln aus moralischer Verantwortung präsentiert wurde, diente nicht zuletzt den wirtschaftlichen Interessen deutscher Rüstungskonzerne.“ (S. 52) Deutsch-israelische Beziehungen waren auch immer ein Projekt der Eliten und weniger eines der deutschen Bevölkerung (S. 53). Mendel zeichnet die Entwicklungen auch antisemitischer Haltungen (zum Beispiel bei Jürgen Möllemann und Günter Grass) bis hin zur AfD (Alexander Gauland) nach. Gaulands vordergründige Israelfreundschaft entpuppe sich bei näherem Hinsehen als Basis antimuslimischer Ressentiments (S. 64), d.h., Migrant: innen wird die Zunahme antisemitischer Haltungen unterstellt und dabei übersehen, dass der Antisemitismus bei der einheimischen Bevölkerung kontinuierlich präsent war und sich sogar (siehe MITTE-Studie 2023) fast verdoppelt hat (seit 2021). Dieses Entlastungsnarrativ der deutschen Rechten funktioniert so, dass die Palästinenser als neue Nazis gelten – bei den deutschen Linken funktioniert die gleiche Einstellung unter dem Eindruck postkolonialer Ideologiefragmente, dass Israel selbst als die neuen Nazis gelten (S. 65).
Ad: Drei Buchstaben mit Schlagkraft (S. 67–112)
Der BDS-Streit ist in den letzten Jahren in Deutschland eskaliert, auch deswegen, weil die BDS-Bewegung alte antirassistische postkoloniale Muster aufgriff, was bedeutet, dass der Staat Israel insgesamt als rassistisch, kolonialistisch und imperialistisch eingestuft wird (S. 69). Gleichzeitig wird aber schon die Nähe zur BDS-Bewegung als antisemitisch eingestuft, was die Diskussion emotionalisiert und polarisiert, weil aktuelle Friedensprojekte zwischen Arabern und Israelis in Israel boykottiert werden und nicht der Siedlungsbau israelischer Siedler: innen thematisiert werde(S. 73). Mendel differenziert jedoch achtsam, denn unter dem Dach von BDS können sich auch antisemitische Gruppen und Haltungen verbergen. Nach Meinung Mendels werde der Israel-Palästina-Konflikt zweckentfremdet und polarisiert so (S. 77). Nach dem 7. Oktober wird die Polarisation deutlich: Sog. Pro-Palästinademonstrationen entpuppen sich als antisemitisch, weil das Existenzrecht Israels grundsätzlich in Frage gestellt wird (S. 81). Der Staat Israel ist jedoch kein imperiales Projekt des Westens, sondern Resultat vor allem der Schoah, weil Überlebende der Schoah nach Palästina geflohen waren. Vor der Staatsgründung war Palästina britisches Mandatsgebiet und davor gehörte Palästina zum osmanischen Reich. Hier von postkolonialen Strukturen zu sprechen, ist m.E. geschichtsklitternd, was auch Meron Mendel bemerkt (S. 99). Das Fazit in diesem Kapitel ist ernüchternd: „Solange die eine Seite Israelboykott immer als Form des Antisemitismus sieht und die andere Boykott immer als legitimes Mittel im palästinensischen Kampf für Freiheitsrechte, werden wir von einem Skandal zum nächsten stolpern.“ (S. 111)
Ad: Aus der Geschichte verlernt (S. 113–148)
Dieses Kapitel ist m.E. das zentrale Kapitel des Buches, denn Meron Mendel zeichnet das Verhältnis der deutschen Linken zum Nahostkonflikt nach, wobei seiner Meinung nach in den verschiedenen linken Gruppierungen die Gruppenidentität wohl wichtiger als die sachliche Auseinandersetzung sei (S. 115), aber es gibt natürlich auch „linksprogressive, rassismus- und antisemitischkritische Haltung(en)“ (S. 115). Nach dem Sechstagekrieg (5.6. bis zum 10.6. 1967) gab es einen Turn bei den deutschen Linken zu einem „radikalen, antiimperialistischen Antizionismus“ (S. 117), der sich ab 1990/1991 mit einem antideutschen und auch mit einem USA-kritischen Turn verband. Aushänger dieser Kehrtbewegung waren z.B. die RAF oder auch die Bewegung 2. Juni und Nachfolger: innen mit dem Motto: „Die Israelis sind die neuen Nazis“ (S. 127). Gleichzeitig werden militante Palästinenser bejubelt (S. 131). Aber, so wendet Meron Mendel ein: „Was wiegt schwerer, der Rassismusvorwurf der Juden oder der Antisemitismusvorwurf gegen Palästinenser?“ (S. 138) Sich von reduzierten, vereinfachenden Deutungsmustern des Nahost-Konflikts zu verabschieden und auch Mehrdeutigkeiten auszuhalten, wäre die Forderung der Stunde (S. 147).
Ad: Vergleichbar einzigartig (S. 148–180)
Dieses Kapitel nimmt die deutsche Erinnerungskultur in den Blick und warnt vor Instrumentalisierungen (S. 153). Es geht in diesem Diskurs um die Singularität der Schoah; zum Urteil, dass die Schoah einzigartig sei, kommt man selbstverständlich nur durch Vergleiche mit anderen Genoziden (S. 171). Meron Mendel zitiert Saul Friedländer, der zu diesem Vergleich Folgendes schreibt: „Der Nazi-Antisemitismus zielte nicht nur darauf, sich der Juden als Individuen zu entledigen, sondern auch darauf, jede Spur >des Juden< auszuradieren…“ (S. 170). Auch Jürgen Habermas argumentiert ähnlich, weil die Schoah sich gegen „den inneren Feind“ wandte, „der getötet werden muss“… (S. 171). Selbstverständlich ist die Monstrosität der Schoah mit anderen Genoziden vergleichbar, gleichzeitig unterscheidet sich aber die Schoah auch wesentlich von anderen Genoziden. Schuldumkehr und Schuldabwehr gehen Hand in Hand, um zu entlasten, was dem Grundmuster des sekundären Antisemitismus (Th. W. Adorno/M. Horkheimer) entspricht (S. 173). Geschichtsrevisionistisch wird es in der öffentlichen Diskussion dann, wenn Schoah und Nakba (Vertreibung der arabischen Bevölkerung aus Palästina nach der Staatsgründung Israels) gleichgesetzt werden (S. 174).
Im Nachwort plädiert Meron Mendel für Bildung und Selbstreflexion (S. 181) und sogenannten Tabubrechern nicht auf den Leim zu gehen.
Fazit
Meron Mendel versteht es meisterhaft, die Komplexität des Nahost-Konflikts mit der deutschen Diskussion um Antisemitismus, Rassismus und Postkolonialismus zu verbinden und sowohl die deutsche rechte als auch die Linke unterschiedlich wahrzunehmen und die jeweiligen ideologischen Strategien zu analysieren, um zum Ergebnis zu kommen, dass in beiden politischen Richtungen antisemitische Denkmuster und auch antisemitische Haltungen und Handlungen deutlich wahrnehmbar sind; der Antisemitismus sowohl in der deutschen Rechten als auch in der deutschen Linken wird als demokratiegefährdend für die deutsche Zivilgesellschaft charakterisiert.
Rezension von
Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann
Professor für Evangelische Theologie, Schulpädagogik und Religionsdidaktik an der Evangelischen Hochschule Freiburg im Fachbereich II (Theologische Bildungs- und Diakoniewissenschaft)
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Zitiervorschlag
Wilhelm Schwendemann. Rezension vom 28.08.2024 zu:
Meron Mendel: Über Israel reden. Eine deutsche Debatte. Verlag Kiepenheuer & Witsch
(Köln) 2023.
ISBN 978-3-462-00351-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31955.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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