Veronika Verbeek: Die neue Kindheitspädagogik
Rezensiert von Dr. Erika Butzmann, 26.02.2024

Veronika Verbeek: Die neue Kindheitspädagogik. Chancen, Risiken, Irrwege.
Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2024.
195 Seiten.
ISBN 978-3-17-043639-8.
34,00 EUR.
Reihe: Pädagogik kontrovers.
Thema
Die Erfolge der seit 20 Jahren reformieren Kindheitspädagogik bleiben aus. Das hat nicht nur mit dem seit 10 Jahren durch den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz vorhandenen eklatanten Personalmangel zu tun, sondern ebenso mit der inhaltlich-konzeptuellen Ausrichtung, die wenig nützt oder vielleicht auch schadet. Um diese Aussage zu untermauern, werden mit diesem Buch acht Leitkonzepte der neuen Kindheitspädagogik auf Chancen, auf Mängel in der wissenschaftlichen Begründung und der pädagogischen Umsetzung untersucht. Dabei sind die jeweiligen Perspektiven auf die Kindheitspädagogik so entfaltet, dass eine Scharfstellung in Bezug auf Chancen, besonders aber auf Risiken und Irrtümer nachvollziehbar wird.
Autorin
Prof. Dr. Veronika Verbeek ist Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Bildungswissenschaftlerin, Fachschullehrerin und Hochschulprofessorin mit 30-jähriger Erfahrung in der Ausbildung pädagogischer Fachkräfte.
Entstehungshintergrund
Das Buch ist in der Reihe „PÄDAGOGIK kontrovers“ erschienen, die von Bernd Ahrbeck, Karl-Heinz Dammer, Marion Felder und Anne Krischner herausgegeben wird. Diese Reihe knüpft an eine kritische Funktion der Pädagogik an, fragt nach der Berechtigung des als selbstverständlich Geltenden und will sowohl für produktive Irritationen sorgen als auch Denkanlässe schaffen, um ideologische Moden (wieder) erkennbar und zum Gegenstand von Streit werden zu lassen.
Aufbau
Der Aufbau folgt den acht Leitkonzepten der gegenwärtigen Kindheitspädagogik, denen Bedeutung für die Verbesserung des Berufs, der Bildung von Kindern und der Chancengerechtigkeit zugesprochen wird. Mit den Kapitelüberschriften werden die Leitkonzepte direkt mit den wahrgenommenen Ambivalenzen eingeführt und in akzentuierten Begriffen kontrastiert. Die Beschreibung der Leitkonzepte, die Darstellung der einschlägigen empirischen Ergebnisse oder erkennbare Widersprüche zwischen Konzept und Umsetzung bilden in den einzelnen Kapiteln die Grundlage für die Analyse.
Inhalt
Mit der ersten Überschrift „Kita-Qualität – Gütemaßstab oder Worthülse?“ liegt der Fokus auf dem bisherigen wissenschaftlichen Qualitätsdiskurs, auf der Orientierung an wirtschaftlichen Kriterien und auf der durch die PISA-Ergebnisse forcierten Bildungswelle im Hinblick auf Kindergarten und Krippe. Die Autorin kommt dabei zu dem Schluss, dass die wenigen Studien zur globalen Kita-Qualität in Deutschland und der Flickenteppich an Einzelerkenntnissen nicht ausreichend sind, um fundierte Beurteilungen für einen gelingenden Bildungsweg eines Kindes in der Krippe und Kindertagesstätte oder gar in Bezug auf die Schulbildung und das weitere Leben abzuleiten. Die bislang gefundenen Effekte eines Krippen- und Kita-Besuches für das Kind würden immer wieder auch überhöht dargestellt, wenn einzelne praktisch unbedeutsame statistische Effekte im Sinne einer eigenen Programmatik als bedeutsam erklärt werden (S. 28). Überdies gehöre es zu den überraschenden Ergebnissen der Qualitätsforschung, dass Verbesserungen auf der politisch zugänglichen Strukturebene nicht ausreichen, um pädagogische Prozesse in der Kindertagesstätte positiv zu beeinflussen (S. 33).
Die PISA-Ergebnisse von 2000 heizten eine breit geführte Debatte über die Versäumnisse im Bildungssystem, besonders aber in der frühkindlichen Bildung und der Ausbildung des Personals der Kindertagesstätten an, die in der Folge zur Teilakademisierung der Ausbildung führte. Mit der Kapitelüberschrift „Akademisierung – Mehrwert oder Mehraufwand?“ wird der seit 2004 eingeschlagene Weg zur Verwissenschaftlichung der Kindheitspädagogik beschrieben mit allen Widersprüchen und Unzulänglichkeiten. Hier sieht die Autorin zwei große Gefahren. Die eine betrifft die Ideologisierung von Konzepten und Inhalten und die Erschwernis einer grundlagenorientierten, ergebnisoffenen und evidenzbasierten Forschung. Die andere große Gefahr besteht darin, die Verwissenschaftlichung der Studieninhalte nicht nachhaltig genug zu verfolgen. Sie kommt zu dem Schluss, dass eine Akademisierung über Studiengänge, die auf einer Fachschulausbildung aufbauen, Sinn machen würde.
Haltung als ideales Persönlichkeitsmerkmal in der Arbeit mit Kindern wird unter der Kapitelüberschrift „Haltung – Professionalisierung oder Deprofessionalisierung?“ kritisch beleuchtet. Ein großer Teil der Studierenden hält ideale Persönlichkeitsmerkmale für wichtiger als fachliches Wissen. Unter Einbeziehung der Big-Five-Persönlichkeitsmerkmale zeigt die Autorin, dass eher die Introvertierten unter den Fach- und Hochschüler:innen in die Kita wechseln. Überdies würden Ergebnisse der berufsbezogenen salutogenetischen Forschung auf einen hohen Anteil an psychischen Belastungen bei Professionellen in der Kindertagesbetreuung hinweisen (S. 55 f.). Neben diesen meist herkunftsbedingten Problemen wird die Haltung weltanschaulich und durch Theorien aus Pädagogik und Psychologie beeinflusst, wobei hier in den letzten 20 Jahren eine Anbindung an Konzepte und Theorien oftmals ideologischen Charakter erhält (S. 62). Bei diesen drei Perspektiven ist die Deprofessionalisierung am Werk. Perspektive 4 mit ‚Haltung als personale Kompetenzen‘ im Sinne beruflicher Handlungskompetenzen bleibt als positiver Ausblick.
Unter der Kapitelüberschrift „Kompetenzorientierung – Paradigmenwechsel oder Etikettenschwindel?“ wird zuerst der Kompetenzbegriff ausführlich analysiert und auf die Ausbildung an Fachschulen und Hochschulen bezogen, um dann die Kompetenzorientierung in der Kindertagesstätte aus der Bildungsplanung der Länder für die frühe Bildung aufzugreifen. Die Autorin stellt fest, dass dabei in den Lehrplänen die personalen Kompetenzen allgemein gehalten und sie in Ausbildung und Studium nicht systematisch genug geschult werden, wie dies in einem sozial- und kindheitsbezogenen Beruf und den damit verbundenen Belastungen nötig wäre (S. 81).
Die Kapitelüberschrift „Selbstbildung – Besserlernen oder Bildungsromantik?“ zeigt auf, wie das Leitkonzept von Bildung als Selbstbildung die traditionellen pädagogischen Konzepte wie Erziehung, Lernen und Sozialisation, Förderung oder Spiel ersetzte. Die individuellen Lernaktivitäten der Kinder sollen durch die Fachkräfte beobachtet und begleitet werden unter Bereitstellung von anregenden Bildungsräumen, einschließlich der Dokumentation der persönlichen Lerngeschichte jedes Kindes. Die Vorteile des Leitkonzepts sind nach Aussagen der Autorin dürftig, auch wenn einige Aspekte das kindliche Lernen unterstützen. Sie kritisiert die mangelnde Verankerung des Konzepts in der Wissenslehre des Konstruktivismus oder der lernpsychologischen Forschung zur Effektivität verschiedener Lernformen in Abhängigkeit vom Lebensalter und der kognitive Reife von Kindern. Vereinfachungen würden dann nahe liegen, zeigen sich unter anderem als Romantisierung des Kindes, wenn Verantwortung zugunsten einer falschverstandenen Selbstbestimmung des Kindes seitens der Erwachsenen abgegeben wird. So kann es zu negativen Auswirkungen der Selbstbildung bei Kindern kommen, die eigentlich den Schutz durch Erwachsene brauchen.
Im Kontext der Selbstbildung wird im nächsten Kapitel unter der Überschrift „Ressourcenorientierung – Perspektivwechsel oder blinder Fleck?“ das Leitkonzept der Ressourcenorientierung in der Kindertagesstätte analysiert mit dem Ergebnis, dass der Gebrauch dieses Begriffs höchst unterschiedlich sei und meist ohne theoretische Bezüge. Mit dem Wechsel der Perspektive von den Defiziten auf die Stärken des Kindes und der stärkenorientierten Dokumentation der Lerngeschichten wird in der Praxis versucht, den Vorgaben der Bildungsministerien der Länder nach Überprüfung der Entwicklungsoffenheit und der Ressourcenorientierung gerecht zu werden (S. 112). Hier beschreibt die Autorin die Dilemmata bei einseitiger Ressourcenorientierung und kommt zu dem Schluss, dass dabei Entwicklungs- und Verhaltensprobleme nicht erkannt und diesen nicht entgegengewirkt werden kann. Davon abgesehen sieht sie die positive Wahrnehmung des Kindes als selbstverständlich an. Normative Referenzsysteme seien angesichts der hohen Anzahl psychisch auffälliger Kinder unverzichtbar.
Ein gesellschaftliches Brandthema wird im Kapitel „Partizipation – Mitbestimmung oder Überforderung?“ behandelt. Durch die politische Reaktion auf den um sich greifenden Rechtsextremismus in der Gesellschaft wird die Mitbestimmung in der Krippe und der Kita zum neuen Leitkonzept, da die Krippe als Kinderstube der Demokratie auserkoren wurde. Doch was macht es mit den Kleinsten, wenn sie ständig gefragt werden, wann, was und wieviel sie essen wollen, wer sie wickeln soll und wo und wie lange sie schlafen wollen. Dem versucht die Autorin nachzugehen über Studien, stellt auch hier Widersprüchliches fest und resümiert, dass mitunter eine schädliche Umsetzung von Partizipation erfolgt, wenn die altersabhängige Fähigkeit des Kindes, den Entscheidungsraum kognitiv zu erfassen, ausgeklammert wird und das Kind in Überforderungssituationen gerät.
Das Leitkonzept der Diversität birgt viele Fallstricke, die die Autorin unter der Überschrift „Diversität – Chancengerechtigkeit oder Identitätsstreit?“ beschreibt. Der Diskurs über Vielfalt führe immer dann in die Irre, wenn ein bestimmtes Diversitätsverständnis zur Norm und nicht mehr diskutiert wird, weil sie nur unzureichend gedanklich durchdrungen bleibt. Der in empirischen Studien wahrgenommene unsichere Umgang mit Diversität seitens der Fachkräfte, Hindernisse durch Sozialisationserfahrungen der Fachkräfte, durch mit Diversität wenig kompatible aktuelle Leitbilder wie Gleichbehandlung oder Ressourcenorientierung wären Hinweise für weitreichende Aus- und Weiterbildungserfordernisse (S. 150).
Mit dem letzten Kapitel „Gründe für Irrwege und Ausblick auf Entwicklungspotenziale“ werden zuerst die Irrwege herausgestellt. Bei der Implementierung der neuen Kindheitspädagogik wurden durch immer neue Sprachregelungen Grundmuster der Meinungsmanipulation deutlich. Mit der neuen Sprachregelung sei die Tabuisierung oder auch Abwertung anderer pädagogischer Zugänge als veraltet oder gar unethisch verbunden (S. 157). Die Autorin zählt diese zu Unwörtern erklärten Begriffe auf und fragt nach der Wirkung all dessen, was in der Kindertagesstätte unter den neuen Leitkonzepten umgesetzt wird. Sie sieht eine große Diskrepanz zwischen dem konzeptionellen Anspruch und der Wirklichkeit, zählt die möglichen Gründe dafür auf und weist abschließend auf die zeitlichen Grenzen für die Umsetzung der neuen Leitkonzepte hin. Es werden damit hohe Anforderungen an eine Berufspraxis erhoben, die mit der täglichen Arbeit unter den Bedingungen des anhaltenden Personalmangels bereits an ihre Grenzen kommt. Beim Ausblick auf das Entwicklungspotenzial der Kindheitspädagogik wird anhand der einzelnen Leitkonzepte aufgezeigt, welche Kurskorrekturen in Wissenschaft, Politik, Gesellschaft und der Ausbildung von Fachkräften nötig sind, um eine am Kindeswohl ausgerichtete Kindheitspädagogik zu erreichen. Die Beseitigung des Personalmangelns wäre dafür zwar notwendig, aber nicht hinreichende Bedingung; denn die Krise sei vorrangig durch die einseitige inhaltlich-konzeptionelle Ausrichtung der neuen Kindheitspädagogik bedingt (S. 164).
Diskussion
Der Autorin ist die konsequente Betrachtung von Chancen, Risiken und Irrwegen zu jedem Leitkonzept und die Verquickung von Berufs- und Ausbildungspraxis überzeugend gelungen. Im Hinblick auf die gesellschaftspolitischen Auswirkungen dieser Leitkonzepte werden an dieser Stelle Ergänzungen aus der Praxis diskutiert, die die Unzulänglichkeiten der aktuellen Kindheitspädagogik illustrieren:
Die von der Autorin kritisierten, als überhöht dargestellten Effekte eines Krippenbesuchs, bzw. die nicht vorhandenen objektiven Entwicklungsvorteile desselben lassen zwingend die Frage aufkommen, warum die Krippenbetreuung den Kindern zugemutet wird angesichts vieler Studien zu den Nachteilen des frühen Krippenbesuchs.Die von der Autorin beklagten fehlenden wissenschaftlichen Begründungszusammenhänge treffen besonders auf dieses Thema zu; denn für die unter Zweijährigen ist die außerhäusliche Betreuung allein von ihren Entwicklungsbedürfnissen her nicht verträglich (Butzmann 2018, 2023a). Gerade hierbei sind wirtschaftliche Kriterien vorherrschend; es ist jedoch ethisch nicht vertretbar, wenn dies zulasten der kleinen Kinder geht. Die Ideologisierung von Konzepten, die Kinder und Kita-Fachkräfte noch zusätzlich belasten, greift ebenso in die Entwicklung der Kinder ein. Wenn z.B. Selbstbestimmung im Sinne von Selbstbildung von den Kleinsten gefordert wird, obwohl sie noch auf den Schutz durch die Erwachsenen angewiesen sind, kann das nur zu Entwicklungsstörungen führen. Hinzu kommt, dass der gesellschaftspolitische Anspruch, die Krippe mit dem frühen Üben von Selbstbestimmung zur Kinderstube der Demokratie zu machen, jede Kenntnis der Entwicklungspsychologie vermissen lässt. Ebenso ist das Leitkonzept der Partizipation eine weitreichende Überforderung für viele der Vorschulkinder (Butzmann 2023b). Weitere Widersprüche im Hinblick auf Partizipation in Krippe und Kindertagesstätte tauchen dann auf, wenn im Rahmen der Erstellung von Kinderschutzkonzepten digitalen Medien in der Kita aus Kinderschutzgründen nicht abgelehnt, sondern der Einsatz gefördert wird mit fröhlicher Unterstützung der Telekommunikationsbranche (Butzmann 2020). Weiterhin missachten die Ansprüche nach Berücksichtigung der Diversität im Hinblick auf die Themen Gender und geschlechtliche Identität, dass die kleinen Kinder noch in der Phase der Entwicklung ihrer geschlechtlichen Identität stecken und u.U. mit den Programmen zur Gendersensibilität in ihrem Selbstverständnis gestört werden.
Unter Beachtung der beschriebenen vielfältigen Überforderungen, denen besonders Krippenkinder ausgesetzt sind, stellt sich hier die Frage, ob die neue Kindheitspädagogik nicht auch einen Anteil an der Zunahme der psychisch auffälligen Kinder hat.
Fazit
Diese umfassende Analyse der neuen Kindheitspädagogik kommt zu einer Zeit, wo viele in der Praxis an ihrem Limit arbeiten. So kann das Buch den Kita-Fachkräften, den Auszubildenden, den Lehrenden und den Forschenden der Kindheitspädagogik viele Anregungen geben und neue Perspektiven eröffnen. Den Redakteur:innen der Kita-Fachzeitschriften bietet es Anhaltspunkte zur Überprüfung der Themenauswahl. Zusammenfassend bleibt dem Buch zu wünschen, produktive und nachhaltige Irritationen auszulösen.
Literatur
Butzmann, E. (2018). Entwicklungsrisiken bei früher Krippenbetreuung aus psychoanalytischer und kognitionstheoretischer Sicht. In: Sulz, S., Walter, A., Sedlacek, F. (Hg.) Schadet die Kinderkrippe meinem Kind? Worauf Eltern und Erzieherinnen achten und was sie tun können. München: Cip-Medien, S. 95 – 108.
Butzmann, E. (2020). Der Einfluss digitaler Medien auf die Gehirnentwicklung der Kinder. https://www.erzieherin.de/der-einfluss-digitaler-medien-auf-die-gehirnentwicklung-der-kinder.html
Butzmann, E. (2023a). Was bedeutet die frühe Krippenbetreuung für die Entwicklung der Kinder. https://www.erzieherin.de/was-bedeutet-die-fruehe-krippenbetreuung-fuer-die-entwicklung-der-kinder.html
Butzmann, E. (2023b). Wie entwickelt sich das Demokratieverständnis bei Kindern. https://www.erzieherin.de/wie-entwickelt-sich-das-demokratieverstädnis-bei-kindern.html
Rezension von
Dr. Erika Butzmann
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