Daniel Kieslinger, Katharina Metzner et al. (Hrsg.): Inklusion jetzt!
Rezensiert von Prof. em. Dr. Matthias Moch, 29.01.2025

Daniel Kieslinger, Katharina Metzner, Judith Owsianowski, Florian Rück, Wolfgang Schröer (Hrsg.): Inklusion jetzt! Entwicklung von Konzepten für die Praxis.
Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2024.
309 Seiten.
ISBN 978-3-7841-3667-7.
D: 26,00 EUR,
A: 26,80 EUR.
Reihe: Beiträge zur Inklusion in den Erziehungshilfen - Band 7.
Thema
Der Herausgeberband thematisiert Aufgaben, Entwicklungen und Probleme, die sich in Folge der gesetzlichen Neuerungen zur Inklusion aller jungen Menschen – unabhängig von ihren individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten – in einer einheitlichen Kinder- und Jugendhilfe herauskristallisiert haben. Das Buch stellt den Abschlussbericht eines umfassenden Modellprojekts dar. In großer Breite werden die verschiedensten Facetten der Anforderungen zur Umsetzung des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes aus dem Jahr 2021 aufgezeigt und diskutiert. Die behandelten Themen sind relevant für die endgültige konzeptionelle Umsetzung einer inklusiven Lösung, wie sie das Gesetz bis 2028 vorsieht.
Entstehungshintergrund
Im April 2020 starteten 61 Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Eingliederungshilfe unter der Federführung des Evangelischen Erziehungsverbandes und des Bundesverbands Caritas Kinder und Jugendhilfe ein Modellprojekt mit dem Titel: „Inklusion jetzt! – Entwicklung von Konzepten für die Praxis“. Das Projekt hatte sich zum Ziel gesetzt, einen Prozess anzustoßen, der „die Praxis inklusiver Leistungserbringung entwickeln, erproben und evaluieren sollte“ (S. 23). Bereits im Vorfeld des vorliegenden Bandes (2021 – 2024) wurden Ergebnisse zu einzelnen Themen in fünf Publikationen veröffentlicht. Im hier rezensierten Band werden die wesentlichen Themen und Ergebnisse des Gesamtprojekts dargelegt. Sie reflektieren auch die Diskussionen der verschiedenen Arbeitsgruppen, die mehrfach über den 4-jährigen Projektzeitraum hinweg getagt haben.
Autor*innen
Der Band umfasst Beiträge von insgesamt 17 Autor*innen aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern im Bereich der inklusiven Hilfen, die an dem Modellprojekt beteiligt waren. Dazu gehören Mitarbeiter*innen aus den beteiligten Modellprojekten (Jugendämter, Heime) sowie aus den Dachverbänden evangelischer und katholischer Leistungsträger. Darüber hinaus haben Forschende aus verschiedenen Hochschulen mit entsprechenden Forschungsschwerpunkten Beiträge geleistet.
Aufbau
Die Inhalte des 300 Seiten umfassenden Werks sind – neben zwei einleitenden Texten – in drei größere Teile gegliedert: (1) Gesamtprozess der Entwicklung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe; (2) Junge Menschen, Eltern und Fachkräfte und (3) Beispiele gelingender Praxis. Die meisten der insgesamt 14 Einzelbeiträge haben einen Umfang von 15 – 20 Textseiten.
Inhalt
In einem einleitenden Überblicks-Kapitel werden die Grundlagen einer „teilhabeorientierten Leistungserbringung“ (S. 31) in der Kinder- und Jugendhilfe erarbeitet. Ausgehend von Erläuterungen zum Begriff Inklusion und den Bestimmungen nach der UN-Behindertenrechtskonvention wird das Ziel „bedingungsloser Möglichkeit zur Inanspruchnahme der regulären Infrastrukturen aller jungen Menschen“ (S. 34) differenziert, indem konkrete Fragen an eine entsprechende konzeptionelle Ausgestaltung formuliert werden. Das Recht auf diskriminierungsfreie Teilhabe und Selbstbestimmung steht dabei im Vordergrund. Dieser Anspruch berührt auch Aspekte einer inklusiven Hilfeplanung, der Beteiligung von Eltern sowie Fragen zur Jugendhilfeplanung, dem Kinderschutz und der Qualitätssicherung.
Die drei Beiträge in Teil 1 widmen sich den aktuellen Entwicklungen einer inklusiven Kinder und Jugendhilfe. Zunächst werden „Herausforderungen aus der Sicht eines freien Trägers“ (S. 37) einer inklusiven Wohnform für junge Menschen im Alter zwischen 17 und 27 Jahren untersucht. Verwiesen wird auf jeweils sehr unterschiedliche Ausgangspositionen bestehender Hilfen und die notwendigen Anknüpfungspunkte in den vier Bereichen: Rahmenbedingungen, Haltung, Kompetenzen und Kooperation. Die Rolle von Führungskräften, die Integration „hochspezialisierter Maßnahmen“ (S. 61), regionale Vernetzung und Qualifizierungsmaßnahmen werden diskutiert.
Die Erfahrungen eines Kreisjugendamtes seit dem Jahr 2016 stehen im Mittelpunkt des nächsten Beitrags. Detailliert wird die Entwicklung der Rechtslage für Menschen mit Behinderungen zwischen 2009 und 2028 erläutert und dann die organisatorische Weiterentwicklung des Fachdienstes der Eingliederungshilfe (§§ 90 ff. SGB IX und § 35a SGB VIII) in verschiedenen Varianten dargelegt. In zwei Flussdiagrammen werden die konkrete Umsetzung der Eingliederungshilfen im betreffenden Landkreis illustriert und anschließend der Prozess der Organisationsentwicklung in Zielen und Teilschritten beschrieben und bewertet. Abschließend werden Gelingensfaktoren expliziert.
Eine „erweiterte inklusive Professionalität im ASD“ (S. 93) wird im folgenden Kapitel behandelt. Entscheidend ist – bei aller Unterschiedlichkeit aktuell bestehender Modelle – die Erweiterung des Aufgabenspektrums des ASD durch seine umfassend inklusive Zuständigkeit. Diese erfolgt vor dem Hintergrund sehr unterschiedlicher kreisspezifischer Rahmenbedingungen wie: finanzielle Ausstattung, Infrastruktur und jugendpolitische Schwerpunkte. Die strukturelle Umsetzung der neuen Gesetzeslage erfolgt in verschiedenen „Vorstufen“ (S. 96). In welcher Relation sollen ASD und Eingliederungshilfe zueinander stehen? Wie können „bewährte Strukturprinzipien“ (S. 101) wie Fallberatung, Beteiligung, Prozess-Beobachtung und Einbeziehung Dritter in Hinsicht auf Inklusion umgesetzt werden? Wird Inklusion als ein institutionen- und disziplinenübergreifendes Ziel verstanden?
Teil 2 des Bandes stellt die Adressat*innen und die Fachkräfte einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe in den Mittelpunkt.
Der erste Beitrag dieses Teils beschreibt die Ergebnisse eines dreitägigen Workshops mit Kindern und Jugendlichen, welcher unter der Federführung des Landesjugendamtes Bayern durchgeführt wurde. Die beteiligten jungen Menschen nehmen Stellung zu ihren Vorstellungen von Teilhabe, zu aktuellen Mängeln und Missständen sowie zu positiven Erfahrungen und neuen Umsetzungsmöglichkeiten.
Die Ergebnisse einer Onlinebefragung von Eltern werden im folgenden Kapitel dargestellt. Die 70 Befragten äußern sich zu ihrer Zufriedenheit mit den Angeboten, zu ihren Wünschen und Bedarfen. Darüber hinaus erläutern sie ihr Verständnis des Begriffes Inklusion. Es zeigt sich generell eine sehr hohe bis durchaus zufriedenstellende Akzeptanz der Angebote. Allerdings vermissen Eltern Mitbestimmungsmöglichkeiten.
Im Rahmen einer Onlinebefragung von 1039 Mitarbeiter*innen, von denen etwa die Hälfte aus projekt-beteiligten Einrichtungen kamen, wird deutlich, dass eine durchaus hohe Bereitschaft besteht, zukünftig nach inklusiven Konzepten zu arbeiten und sich entsprechend fortzubilden. Die Bereitschaft zu stärkerer Beteiligung von Eltern und jungen Menschen wird mit etwas Zurückhaltung befürwortet. Der 11-seitige Fragebogen ist in Original am Ende des Beitrags abgedruckt.
Im umfangreichen Teil 3 des Bandes werden die Ansätze, Konzepte, Angebote und Perspektiven von sieben Modellprojekten (6 Wohngruppen, 1 Netzwerk) unter den Aspekten Bestandserhebung, Bedarfsermittlung und Maßnahmen jeweils detailreich beschrieben. Jede Einrichtung wird explizit anhand einer Kurzbeschreibung ihrer fachlichen Ausrichtung und ihrer praktischen Umsetzungsschritte vorgestellt. Zwei der beschriebenen Projekte sind jeweils „als gemeinsames Angebot der Kinder- und Jugendhilfe und (der) Eingliederungshilfe konzipiert.“ (S. 211). Anschließend werden Möglichkeiten und Herausforderungen bei der Umsetzung inklusiver Angebote zusammenfassend diskutiert. Bei der Darlegung der anstehenden Aufgaben wird deutlich, dass die Faktoren Kooperation verschiedener Dienste, das Schaffen von inklusiven Kulturen und Haltungen sowie inklusionsfördernde Strukturen im Sinne von Verantwortungsgemeinschaften wesentlichen Einfluss auf das Gelingen von entsprechenden Maßnahmen haben.
Auf insgesamt 50 Seiten werden die einzelnen Leistungsvereinbarungen der sieben Modellprojekte (Stammdaten, Zeitraum, Leistungsbereich, Personal, Qualität) in tabellarischer Form dargelegt.
Eine „Praxishilfe Inklusion in den Erziehungshilfen“ (S. 282) wurde in zwei wissenschaftlich begleiteten Workshops erarbeitet. In tabellarischer Form werden Empfehlungen und förderliche Faktoren herausgearbeitet, die sich auf die Bereiche: Strukturen, Praxis, Kultur und Haltung beziehen. Indikatoren zur Wirkungsevaluation (Output, Outcome, Impact) werden dargestellt.
Ein kurzes Kapitel zum grundlegenden Wandel in den Erziehungshilfen schließt diesen Teil ab. Die Herausforderungen und Widersprüche durch Versprechen und Gesetzesbestimmungen einerseits und ökonomische und fachlich-personelle Anforderungen werden herausgearbeitet.
Den Abschluss des Bandes bildet ein Nachwort, in dem das Projekt und sein Verlauf von Seiten der Trägerverbände nochmals insgesamt gewürdigt wird. Betont wird, dass eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe bereits jetzt schon möglich ist.
Diskussion
Der Band trägt ein großes Spektrum an fachlichen Inhalten und Argumenten zusammen, die für die Umsetzung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe von Relevanz sind. Indem alle Beiträge aus einem umfassenden Modellprojekt mit Tagungen, Workshops und Befragungen stammen, entsteht insgesamt eine runde und integrierte Darstellung von verschiedenen Aspekten des Gesamtproblems. (Dabei können natürlich die Texte nur sehr bedingt die tatsächlichen Ereignisse, Erlebnisse und Begegnungen der Menschen im Verlauf des Modellprojekts darstellen.) Die Zusammenarbeit von großen Trägern, einzelnen Einrichtungen und Netzwerken sowie Beteiligten von Hochschulen in einem mehrjährigen Projekt zeigt beispielhaft die Anforderungen, die an eine Umsetzung der gesetzlich vorgeschriebenen und fachlich gebotenen Maßstäbe gegeben sind. Nachhaltige Praxisentwicklungen benötigen Zeit und multiperspektivische Beteiligung und Begleitung von öffentlichen und privaten Trägern sowie von wissenschaftlichen Beobachter*innen, wie sie in diesem Band gut verwirklicht sind. Die Beiträge zeigen alle einen hohen Stand von Fachlichkeit und Erfahrung, machen aber durchaus auch die Probleme deutlich, die aktuell und in naher Zukunft zu bewältigen sind. Fachkräfte bekommen viele Hinweise und Anregungen für eine inklusive Praxis.
Dem zentralen Aspekt der Beteiligung wird insofern Rechnung getragen, als Workshops mit Kindern und Jugendlichen und eine Befragung von Eltern durchgeführt wurden. Daraus wurden wichtige Ergebnisse herausgearbeitet. Insbesondere, dass junge Menschen direkt ihre eigenen Erfahrungen einbringen, ist bedeutsam. Jedoch werden anstehende Herausforderungen auch daran deutlich, dass den über 1000 Mitarbeitenden, die an der Onlinebefragung teilgenommen haben, nur 70 teilnehmende Eltern (inklusive Betreuer*innen und Verwandte) gegenüberstehen.
Es entspricht wohl durchaus dem aktuellen Stand der fachlichen und organisatorischen Entwicklung, dass der Schwerpunkt der Beiträge auf strukturellen und konzeptionellen Aspekten liegt. Denn ohne entsprechende Strukturen, kooperative Netzwerke und inklusive Qualifikationen und Haltungen ist eine inklusive Jugendhilfe nicht machbar. Jedoch wird die alltägliche Praxis in einer Einrichtung und das jeweils aktuelle Erleben der verschiedenen Beteiligten (junge Menschen, Eltern, Mitarbeitende, Leitungen) noch einmal anders darzustellen sein. Vielleicht hätte es dem Band gutgetan, doch die eine oder andere Fallvignette, einen Auszug aus einer Alltagsbeschreibung in einem Projekt oder (mehr) Einblicke in situative Erfahrungen von Beteiligten zu geben, um die notwendige Distanz zwischen Konzeptentwicklung einerseits und handelnde Umsetzung unter institutionellen Bedingungen illustrativ auch nur anzudeuten.
Fazit
Dieser Abschlussbericht eines umfassenden und trägerübergreifenden Modellprojekts trägt viele Aspekte und Perspektiven zusammen, die sich aus den (gesetzlichen und fachlichen) Ansprüchen zur Entwicklung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe ergeben. Er bietet umfassende Materialien sowohl zur Erfassung der aktuellen Lage wie auch zu den zentralen Notwendigkeiten in Bezug auf eine Umsetzung in der Praxis öffentlicher und freier Träger. Davon können Träger und Dachverbände ebenso profitieren wie Einrichtungsleitungen und Fachkräfte in den unterschiedlichen Institutionen und Disziplinen.
Rezension von
Prof. em. Dr. Matthias Moch
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