Pia Gabriel-Schärer, Annette Dietrich et al. (Hrsg.): Familienrat
Rezensiert von DSA(in) Mag(a) Karin Goger, 24.05.2024

Pia Gabriel-Schärer, Annette Dietrich, Anne Zimmermann (Hrsg.): Familienrat. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2024. 192 Seiten. ISBN 978-3-7841-3684-4. D: 29,00 EUR, A: 29,90 EUR.
Thema und Entstehungshintergrund
Bei diesem Band handelt es sich um das Ergebnis eines Kooperationsprojekts der Fachhochschule Luzern (CH) mit der Fachhochschule St. Pölten(A). Es versammelt Einführungen in das Verfahren Familienrat, Arbeitsmaterialien sowie Einblicke in studentische Forschungsarbeiten. Ziel der Herausgeberinnen ist es, den Familienrat mehrperspektivisch zu beleuchten, für seine Potenziale zu sensibilisieren und die Hindernisse für seine Anwendung zu ergründen.
Herausgeberinnen
Anette Dietrich, Prof., Diplom-Sozialpädagogin (FH), M.A. Erwachsenenbildung ist Dozentin und Projektleiterin an der Fachhochschule Luzern und seit 2019 Vorstandsmitglied im Verein „Familienrat Schweiz“. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Internationalen Sozialen Arbeit, der Familienarbeit, der Frühen Förderung und dem Familienrat.
Pia Gabriel-Schärer, Prof., Psychologin und Evaluatorin, ist Vizerektorin der Hochschule Luzern und leitet dort das Institut Sozialpädagogik und Bildung. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Hochschul-, Qualitäts- und Personalmanagement sowie in der Steuerung von Lern- und Entwicklungsprozessen.
Anne Zimmermann, dipl. klin. Heil- und Sonderpädagogin, MAS Lösungs- und Kompetenzorientierung, ist Koordinatorin für Familienräte und Supervisorin. Ihre Schwerpunkte in der Lehre liegen in der Sozialpädagogik, der Gesprächsführung und Beratung sowie dem Familienrat.
Aufbau
Der Sammelband ist in drei Teile untergliedert:
- Im ersten Teil finden sich eine fachliche Einführung in das Verfahren, Fallvignetten zur Veranschaulichung seiner Anwendung und eine Diskussion des Zusammenhangs zwischen dem Familienrat und dem Salutogenese-Ansatz.
- Der zweite Teil enthält eine Bestandsaufnahme der Implementierung des Familienrats in der Schweiz sowie seiner Umsetzung im europäischen Raum.
- Im dritten Teil werden studentische Forschungsprojekte zur Anwendung des Familienrats im Kinderschutz, im Kontext Alter sowie im Kontext von Familien mit pflegebedürftigen Mitgliedern vorgestellt.
Inhalt
Im ersten Teil finden sich kurze Einführungen in das Verfahren Familienrat:
Annette Dietrich, Pia Gabriel-Schärer und Sindy Rebmann stellen in ihrem einführenden Beitrag fachliche Prämissen vor und diskutieren, wie sich das Verfahren in theoretischen Ansätzen wie der Lebensweltorientierung oder systemisch-konstruktivistischen Perspektiven einordnen lässt. In prägnanter Weise beschreiben sie den Ablauf des Verfahrens sowie die Rollen und Aufgaben der beteiligten Akteur:innen.
Michael Delorette, Annette Dietrich, Pia Gabriel-Schärer, Christine Haselbacher, Michaela Huber, Johannes Pflegerl und Anne Zimmermann skizzieren zunächst das Kooperationsprojekt der Fachhochschulen Luzern und St. Pölten und dessen Ausgangslage. Kern des Beitrags sind zwei Fallvignetten aus der Kinder- und Jugendhilfe und aus der Care-Arbeit mit pflegenden Angehörigen, anhand denen mögliche Anlässe und Abläufe des Familienrats dargelegt werden. Die Analysen der Fallbeispiele bieten zum einen eine Checkliste zur Sondierungsphase des Rats und zum anderen Erkenntnisse zur zielgruppenorientierten Abwandlung des Verfahrens.
Pia Gabriel-Schärer diskutiert in ihrem Beitrag die Wirkungsweise des Familienrats vor dem Hintergrund der Salutogenese. Nach kurzen Einführungen in den Familienrat und in das Konzept der Salutogenese reflektiert sie, in welcher Weise die „Generalisierten Widerstandsressourcen“ und der „Kohärenzsinn“ in den einzelnen Phasen des Familienrats befördert werden.
Der zweite Teil des Bands enthält Bestandsaufnahmen der bestehenden Implementierung des Verfahrens:
Annette Dietrich stellt die Ergebnisse einer Bestandsaufnahme in der Schweiz vor. Mittels eines standardisierten Kurzfragebogens und zwei Fokusgruppeninterviews wurde erkundet, wie häufig das Verfahren eingesetzt wird und welche Erfahrung mit ihm gemacht werden. Ausgehend von den Erkenntnissen über die niedrige Anzahl der Familienräte, die grundsätzlich positive Einstellung zum Verfahren sowie die gleichzeitig bestehenden Bedenken formuliert die Autorin mögliche Ansatzpunkte für Implementierungsstrategien.
Annette Dietrich und Anne Zimmermann bieten in ihrem Beitrag eine Übersicht über den Stand des Familienrats im europäischen Raum. Ihre Informationen gewannen sie durch einen strukturierten Fragebogen, der an ihr fachliches Netzwerk erging, sowie mittels virtueller Gespräche mit Fachpersonen. Zunächst stellen sie das europäische Netzwerk (https://fgcnetwork.eu/) vor, um anschließend prägnante Standortbestimmungen für die Schweiz, Deutschland, Österreich, die Niederlande, Dänemark, Schweden, Norwegen und Großbritannien zu präsentieren. Aus den Ergebnissen leiten die Autorinnen Empfehlungen für die Schweiz ab.
Im dritten Teil werden studentische Forschungsarbeiten vorgestellt:
Nevita Zettwoch und Melanie Zingg erforschten Anfang 2022 in ihrer Bachelorarbeit die Gründe für die zögerliche Anwendung des Verfahrens im Kinderschutz in der Schweiz. 202 Fachpersonen beantworten eine standardisierte Online-Umfrage zum Wissensstand über den Familienrat, zu dessen Anwendung und zu Sichtweisen auf das Verfahren. Die Autor:innen diskutieren prägnant und schlüssig, wie die Vorbehalte gegenüber dem Familienrat mit dem Paradigmenwechsel einhergehen, der mit Verfahren wie diesem verbunden ist. Die abschließende Zusammenfassung und die Handlungsempfehlungen vermitteln anschaulich, wie viele Schritte noch zu setzen sind, um den Familienrat in der Schweiz zu etablieren.
Beatrice Bucher und Oliver Zwyssig diskutieren in ihrer Bachelorarbeit, inwiefern sich der Familienrat für den Einsatz bei älteren Menschen eignet. Anschließend diskutieren die Autor:innen aufgrundlage von Literatur, welches Potenzial das Verfahren für „Entwicklungsaufgaben“ von „älteren Menschen“ birgt und inwiefern es den Struktur- und Handlungsmaximen der Lebensweltorientierung entspricht.
Julia Daxbacher, Boris Einem, Sabina Huster, Betül Köse, Sophie Mayer, Martina Oravcova, Michaela Huber und Johannes Pflegerl stellen Erkenntnisse aus zwei, jeweils zweijährigen Masterforschungsprojekten vor, die den Potenzialen des Familienrats im Kontext der Betreuung älterer Familienangehöriger nachgingen. Die Analyse von sechs Familienräten brachte differenzierte und mehrperspektivische Erkenntnisse über potenzielle Wirksamkeitskriterien des Familienrats im genannten Kontext. Mittels Gruppendiskussionen mit Fachleuten aus dem Bereich Altenbetreuung und mit pflegenden Angehörigen sowie mittels persönlichen und schriftlichen Leitfadeninterviews wurden Potenziale und Herausforderungen des Verfahrens eruiert. Die Ergebnisse bieten eine einige Ansatzpunkte für Strategien zur zielgruppenorientierten Informations- und Wissensvermittlung. In einem der Projekte gelang es außerdem Kurzfilme zu entwickeln, die online frei zugänglich sind.
Diskussion
Der Sammelband richtet sich vermutlich vorrangig an Kolleg:innen, die sich besonders intensiv mit dem Familienrat befassen und sich auch für Detailfragen seiner Implementierung interessieren. Der Band bietet einen guten Überblick über den Stand der Anwendung und Forschung im europäischen Raum. Insbesondere die Einblicke des Implementierungsgrads in Großbritannien regen zu Ideen für Strategien zur Verankerung des Verfahrens an. Wie relevant der Fokus auf die schweizerische Praxis für Leser:innen außerhalb der Schweiz ist, bleibt fraglich. Aufschlussreich sind die genannten Vorbehalte von Fachkräften, die veranschaulichen, wie wichtig neben einer geklärten Finanzierung auch eine (ernsthaft) stärken- und ressourcenorientierte Haltung ist, die Klient:innen eine Veränderung ihrer Lebenslage und/oder ihres Verhaltens zutraut. Nicht ganz klar wurde der inhaltliche Mehrwert der Diskussionen von möglichen Verbindungen zwischen dem Verfahren Familienrat und Handlungsansätzen wie der Lebensweltorientierung und der Salutogenese. Möglicherweise lassen sich diese Beiträge mit dem Ansinnen erklären, das Verfahren theoretisch zu begründen. Für Fachkräfte, die mit dem Familienrat bereits vertraut sind, können jene Passagen Neuigkeitswert enthalten, die sich der Anwendung des Verfahrens in Caring-Kontexten zuwenden. Insbesondere der Forschungsbericht, der sich am Ende des Sammelbands findet, enthält spannende Erkenntnisse zur notwendigen zielgruppenspezifischen Anpassung des Verfahrens und zu Möglichkeiten der Öffentlichkeitsarbeit.
Der Untertitel „Starke Netzwerke für gemeinsame Lösung“ suggeriert Erkenntnisse aus der Evaluationsforschung, Erfahrungsberichte von Familienratskoordinator:innen, Perspektiven von „Owner:innen“/Nutzer:innen o.ä. Insofern verspricht der Sammelband mehr als seine Beiträge halten können.
Fazit
In Kombination mit den Grundlagenwerken von Früchtel et al. zum Familienrat und zu Relationaler Sozialer Arbeit bietet der Band insbesondere Studierenden Einblicke in den aktuellen Implementierungsstand des Familienrats, wobei der Fokus auf der Schweiz liegt. Für Fachkräfte außerhalb der Schweiz und mit Vorwissen empfiehlt sich vor allem die Lektüre von zwei Beiträgen: jenem zur Verortung des Verfahrens im europäischen Kontext und jenem zum Familienrat im Caring Kontext. Positiv hervorzuheben ist, dass in dieser Publikation Bachelorprojekte vor den Vorhang geholt werden.
Rezension von
DSA(in) Mag(a) Karin Goger
MMSc. Dozentin Bachelor-Stdgg. und Master-Stdgg. Soziale Arbeit, Fachhochschule St.Pölten GmbH; Lektorin an der Fachhochschule Burgenland; freiberufliche Referentin und Leiterin von Case Management-Lehrgängen; Organisationsberaterin, Supervisorin, Psychotherapeutin
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