Katharina Rathmann, Heidrun Bründel et al.: Kindheit heute
Rezensiert von Ina-Mareike Giangrande, 18.11.2024
Katharina Rathmann, Heidrun Bründel, Klaus Hurrelmann: Kindheit heute. Entwicklungen und Herausforderungen.
Beltz Verlag
(Weinheim, Basel) 2024.
2. Auflage.
344 Seiten.
ISBN 978-3-407-83207-8.
D: 30,00 EUR,
A: 30,90 EUR.
Mit E-Book inside.
Thema und Entstehungshintergrund
Um die Diversität heutiger Kindheit zu verstehen, verfassten die Psychologin Heidrun Bründel und Sozial- und Bildungsforscher Klaus Hurrelmann in ihrem 2017 erschienen Buch „Kindheit heute. Lebenswelten der jungen Generation“ eine retrospektive sowie aktuelle Sicht auf die Geschichte und Theorien der Lebensphase Kindheit.
„Was bedeutet es, heute ein Kind zu sein? Wie gestaltet sich der Alltag von Kindern je nach Elternhaus, Bildungsangeboten, Medien und Umwelt aus? Was prägt Kinder, wenn sie als Mädchen oder Jungen groß werden?“ (Bründel & Hurrelmann 2017, S. 7).
Bereits zu Anfang geben sie ihrer Leserschaft zu verstehen, dass es „die eine“ Kindheit nicht gibt und skizieren die Mannigfaltigkeit gegenwärtiger Kindheit anhand zentraler Ansätze aus Psychologie, Gesundheitswissenschaften, Soziologie, Pädagogik und Sozialarbeit.
„Eine zentrale Erkenntnis der letzten Jahrzehnte Kindheitsforschung“, so Bründel und Hurrelmann, ist, „dass Kindheit nicht einfach biologisch und natürlich gegeben ist, sondern immer auch gesellschaftlich definiert wird“ (Bründel & Hurrelmann 2017, S. 9).
Sie stellen in ihrem Buch die grundlegenden Ansätze der Sozialisationstheorien vor. Im Zentrum steht das von Klaus Hurrelmann konzipierte Modell der produktiven Realitätsverarbeitung. Das Buch beschreibt die unterschiedlichsten nationalen sowie internationalen Lebenswelten heutiger Kindheit und bietet den Lesenden darüber hinaus einen wissenschaftlichen Blick auf die Lage von Kindern in Kriegsgebieten.
In der acht Jahre später vollständig überarbeiteten und aktualisierten zweiten Auflage, komplementieren die Autorinnen Bründel und Rathmann sowie der Autor Hurrelmann das literarische Erstwerk und heben die Bedeutung sozialer Ungleichheiten im Kindesalter hervor, die sich „bereits früh in ungleichen Teilhabechancen an gesellschaftlichen Aktivitäten, an Bildung und Gesundheit“ äußern (Rathmann et al. 2024, S. 8).
Anlass für die 2. aktualisierte Auflage seien vor allem die Veränderungen in den Lebenswelten der jungen Generation, wie die Erfahrungen der Kinder mit einer Armutsgefährdung sowie während Krisenzeiten wie der Corona-Pandemie.
Autor:innen
Dr. Heidrun Bründel ist freiberufliche Diplom Psychologin. Sie war als Lehrerin in Schulen, in einer Kinderklinik und fast 30 Jahre in einer schulpsychologischen Beratungsstelle tätig und hatte in dieser Zeit mehrere Lehraufträge an der Universität Bielefeld. Heute arbeitet sie freiberuflich in der Fort- und Weiterbildung von Psycholog:innen, Schulleiter:innen und Lehrkräften.
Professor Dr. Klaus Hurrelmann gehört zu den bekanntesten Kindheits- und Jugendforscher:innen in Deutschland. Hurrelmann ist Senior Professor of Public Health and Education an der Hertie School – University of Governance in Berlin. Seine Forschungsgebiete sind Sozialisation, Bildung und Gesundheit von Kindern in Familien und Schulen.
Dr. Katharina Rathmann ist Professorin für Sozialepidemiologie und Gesundheitsberichtserstattung im Fachbereich Gesundheitswissenschaften an der Hochschule Fulda. Sie ist Sprecherin des Public Health Zentrums Fulda (PHZ) und Gesellschafterin der „Gesellschaft für Gesundheits- und Sozialforschung“.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in 9 Kapitel gegliedert.
Im ersten Kapitel „Kindheit im geschichtlichen Wandel“ bieten die Schreibenden eine Zusammenfassung der historischen Entwicklung der europäischen Geschichte der Lebensphase Kindheit. Beginnend vom mittelalterlichen Verständnis des Kindes als Miniaturausgabe des Erwachsenen bis hin zur heutigen Anerkennung der kindlichen Individualität und Subjektivität.
Das zweite Kapitel „Kindheit und Persönlichkeitsentwicklung“ skizziert die grundlegenden Theorien der Persönlichkeitsentwicklung, sowie die zentralen Entwicklungsaufgaben der Lebensphase Kindheit. Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht das von Klaus Hurrelmann konzipierte und inzwischen mit Ulrich Bauer kontinuierlich weiterentwickelte Modell der produktiven Realitätsverarbeitung.
In Kapitel 3 „Die Familie als wichtigste Sozialisationsinstanz“ wird die heutige Realität von Kindheit und Familie, die diversitären Familienformen sowie die allgemeinen Herausforderungen des „Doing Familiy“ beschrieben. Zudem diskutieren die Schreibenden die Auswirkungen und die mitunter lebenslangen Folgen von Trennung, Konflikten und Gewalt in der Familie auf die kindliche Entwicklung, denn, so Bründel, wird „nirgendwo so viel gestritten wie in der Familie“ (Rathmann et al. 2024, S. 99).
Im Kapitel 4 beleuchten die Autorinnen und der Autor den „Einfluss von Krippen und Kitas“ auf die Entwicklung von Kindern. Neben der Auflistung unterschiedlicher Bedarfe und Angebote frühkindlicher Bildungseinrichtungen, werden die institutionellen Entwicklungsimpulse des frühkindlichen Systems, sowie Phasen und Formen des frühkindlichen Lernens benannt.
Im Kapitel 5 „Die zentrale Rolle der Schule“ werden wesentliche Teilbereiche des deutschen Schulsystems sowie familiäre und institutionelle Rahmenbedingungen für den Schulerfolg diskutiert. Zudem werden die Eckpunkte einer im internationalen Vergleich gemessenen schulischen Inklusion und Integration benannt. Diese basieren auf die im Jahre 2009 in Kraft getretenen UN Behindertenrechtskonvention.
Das sechste Kapitel „Freizeit- und Medienaktivitäten“ diskutiert positive sowie negative Auswirkungen des kindlichen Medienkonsums auf die Sozialisation des Kindes. Des Weiteren beleuchten die Autorinnen und der Autor die Digitalisierung kindlicher Lebenswelten und die Rolle des Kindes als attraktive Konsumentengruppe.
„Das Problem der Kinderarmut“ wird in Kapitel 7 von den Schreibenden mehrperspektivisch behandelt. Der Fokus richtet sich auf das Ausmaß und die Verbreitung deutscher Kinder- und Familienarmut sowie dem subjektiven kindlichen Erleben. Zudem werden wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Auswirkungen von Armut und sozioökonomischer Deprivation auf die körperliche, soziale und intellektuelle Entwicklung von Kindern diskutiert. Komplementiert wird das Kapitel durch die Auflistung von Risiko- und Schutzfaktoren, sowie mögliche Strategien zur Armutsbekämpfung auf Kommunaler-, Landes- oder Bundesebene.
Im Kapitel 8 wird das multidimensionale Konzept des „Wohlbefinden und Gesundheit“ (englisch „Well-Being“) vorgestellt. Das Konzept umfasst sowohl die objektiven Lebensbedingungen der diversitären Lebensbereiche, als auch die subjektiv wahrgenommene Lebensqualität und Zufriedenheit von Kindern. Kinder werden, so Schultheis, in diesem Konzept als „Experten ihrer eigenen Lernprozesse“ verstanden „und aktiv in den Forschungsprozess einbezogen, um ihre ureigene kindliche Sicht einzubringen (Schultheis 2019)“ (Rathmann et al., 245). Zudem widmet sich das Kapitel der Gesundheit und der Gesundheitskompetenz des Kindes, sowie den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Lebenswirklichkeiten und der psychischen sowie physischen Gesundheit des Kindes.
Den Abschluss bildet Kapitel 9 „Kinder- und Jugendhilfe“ in dem rechtliche, institutionelle sowie strukturelle Unterstützungsfaktoren zum Schutz der Kinder vorgestellt werden. Die Lesenden werden über nationale sowie internationale Rechte von Kindern mit explizitem Bezug zur Umsetzung der Partizipation im institutionellen Kontext informiert. Zudem werden Programme des lokalen sowie regionalen Hilfesystems sowie Handlungskonzepte des komplexen Unterstützungssystems der Kinder- und Jugendhilfe vorgestellt.
Diskussion
Das Buch bietet in seiner zweiten aktualisierten Form einen strukturierten, gut lesbaren und kompakten Überblick über Theorien und dem aktuellen Forschungsstand der Lebensphase Kindheit.
Inwiefern die postulierten Studienergebnisse zum pädagogischen Mehrwert der ein Kita-Besuch neben der Familie erzielen kann und zur „sozialen, mentalen und gesunden Entwicklung des Kindes und der erfolgreichen Bewältigung seiner Entwicklungsaufgaben“ beitragen kann hätten aus meiner Sicht von den Schreibenden vielschichtiger diskutiert werden können (Rathmann et al. 2024, S. 107).
Zahlreiche Studienergebnisse belegen, dass längerfristige positive Effekte in der Elementarpädagogik nicht naturgegeben, sondern vor allem aus einer hohen pädagogischen Qualität, bestehend aus einer Synergie von Orientierungs-, Struktur und Prozessqualität, resultieren.
Es wäre wünschenswert gewesen, wenn neben der gesellschaftlichen und historischen Entwicklung der institutionellen Fremdbetreuung auch die seit Jahren andauernden Diskussionen wie Fachkräftemangel, Diskrepanz tatsächlicher und pädagogisch sinnvoller Fachkraft-Kind-Schlüssel in den Diskurs aufgenommen wäre. In diesem aktuellen frühpädagogischen Dilemma erscheint es aus meiner Sicht auch nicht als zielführend, das Bild der Fremdbetreuung zu romantisieren und zu schreiben, dass in einer Kindergartengruppe „maximal 15 Kinder betreut werden“ (Rathmann et al. 2024, S. 150). Dieser Sachverhalt wäre sicherlich für alle Kindertageseinrichtungen wünschenswert, entspricht jedoch nicht der bundesweiten Realität in der bis zu 25 Kinder in einer Gruppe betreut werden.
Rathmann, Bründel und Hurrelmann haben anerkennender Weise dem Aspekt des Wohlbefindens und Gesundheit des Kindes in ihrer 2. aktualisierten Auflage ein eigenständiges Kapitel gewidmet. Basierend auf dem multidimensionalen Konzept des „Wellbeing“ „sind Kinder nicht mehr Objekt, sondern auch Subjekt der Forschung“ (Rathmann et al. 2024, S. 245). Leider werden gerade in den Kapiteln, die die frühe Kindheit in diesem Buch betreffen, kaum bis wenig subjektorientierte Forschungsergebnisse zitiert. Grund dafür ist weder eine einseitige oder mangelhafte Recherche der Schreibenden, vielmehr mangelt es noch immer der Kindheitsforschung an Forschungsprojekten, in denen die Rekonstruktion der Perspektive des Kindes im Vorschulalter erforscht und in den kindheitswissenschaftlichen Diskurs miteinfließen kann. Diesen Mangel hätten die Autorinnen und der Autor in ihrem Buch aus meiner Sicht stärker thematisieren und diskutieren können.
Im Kapitel 9: „Kinderrechte, Kinderschutz und Kinderhilfe“ unter Punkt 9.5: „Hilfen für Kitas und Schulen“ stellen die Schreibenden das Konzept der „Erziehungs- und Bildungspartnerschaft“ vor. Intention des Konzepts ist, über den Auftrag der herkömmlichen Elternarbeit im Elementarbereich hinaus, die „bessere Förderung von Kindern hinsichtlich ihrer Bildungs- und Entwicklungschancen, insbesondere für Kinder in benachteiligten Lebenslagen (Höke & Voth 2019)“ (Rathmann et al., S. 308). In diesem Kapitel kritisieren die Schreibenden die mangelnde Umsetzung der Erziehungs- und Bildungspartnerschaft. Dies lässt sich in der Praxis beobachten.
Es bleibt offen, warum der Kinderschutz im Buch nur im Kontext Schule diskutiert wurde und die KiTa in diesem bedeutendem Diskurs fehlte. Werden in Deutschland täglich rund 6 Millionen Kinder im Alter von 0 bis sechs Jahren im System KiTa betreut. Wertvolle Zeit in denen pädagogische Fachkräfte frühzeitig gewichtige Anhaltspunkte wahrnehmen und gemäß ihrem Schutzauftrag Hilfemaßnahmen einleiten.
Fazit
Das Buch „Kindheit heute“ bietet auf insgesamt 300 Seiten einen strukturierten, gut lesbaren und kompakten Überblick über die Lebensphase Kindheit. Aus meiner Sicht ist dieses Werk für Akteur:innen der Fachszene geeignet, um ein wissenschaftlich fundiertes Gesamtbild über die Entwicklungen und Herausforderungen aktueller Kindheit zu erhalten. Aus meiner Sicht hätten die vermeintlichen Erkenntnisse anderer Wissenschaftler:innen im Lichte der Grundlagen des Buches stärker diskutiert werden können.
Rezension von
Ina-Mareike Giangrande
Masterstudiengang Kindheitswissenschaften, Schwerpunkt Management und Beratung an der Hochschule Koblenz, Kita-Fachberatung Stadt Haiger
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Zitiervorschlag
Ina-Mareike Giangrande. Rezension vom 18.11.2024 zu:
Katharina Rathmann, Heidrun Bründel, Klaus Hurrelmann: Kindheit heute. Entwicklungen und Herausforderungen. Beltz Verlag
(Weinheim, Basel) 2024. 2. Auflage.
ISBN 978-3-407-83207-8.
Mit E-Book inside.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31967.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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