Martin Klein: Geschichte der Betrieblichen Sozialen Arbeit
Rezensiert von Dr. Andreas Marx, 02.07.2024

Martin Klein: Geschichte der Betrieblichen Sozialen Arbeit - Fabrikpflege im Ersten Weltkrieg.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2024.
137 Seiten.
ISBN 978-3-7799-7861-9.
D: 13,00 EUR,
A: 13,40 EUR.
Reihe: Betriebliche Soziale Arbeit. .
Thema
Die Publikation gewährt anhand von Zeitzeugendokumenten interne Einblicke in die damals so bezeichnete „Fürsorgetätigkeit“ in einer Fabrik. Dabei wird auf die Lebensrealitäten in dem von Kriegswirren geprägten Alltag verschiedentlich eingegangen – persönlich, politisch und aus dem historischen Blickwinkel der Sozialen Arbeit, was eine methodische Besonderheit in der Aufbereitung des Gegenstandes ausmacht.
Innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses um frühe Betriebssozialarbeit als auch um Frauenarbeit im Kontext des Ersten Weltkrieges erschienen in den letzten Jahren bereits diverse Veröffentlichungen (bspw. von Kuhlmann, Carola (2014): Erster Weltkrieg und Soziale Arbeit – Heimatfront, Frauenbewegung und Kriegsfürsorge), wodurch in „Geschichte der Betrieblichen Sozialen Arbeit – Fabrikpflege im Ersten Weltkrieg“ eine Aufrechterhaltung jenes Diskurses interpretiert werden kann.
Autor und Herausgeber
Martin Klein ist Professor für Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen. Er ist Vorsitzender des Bundesfachverbandes Betriebliche Soziale Arbeit. Er ist als Autor gleichermaßen Herausgeber der Reihe „Betriebliche Soziale Arbeit“, innerhalb welcher nun das Buch als sechste Veröffentlichung im Verlag Beltz Juventa erschien. Klein publizierte bereits zu Themen der betrieblichen Sozialen Arbeit, über Gesundheitsmanagement in der Sozialen Arbeit und zu Inklusion.
Entstehungshintergrund
Die Publikation erscheint vor dem aktuellen Hintergrund des Entstehens verschiedener Kriege in unserer Zeit und der Frage, wie Soziale Arbeit sich hierzu positioniert. Auch die Diskussionen um humanitäre Hilfen in jenen Ausnahmesituationen stellen eine indirekte Verbindung des historischen Gegenstandes mit gegenwärtigen Herausforderungen dar.
Klein selbst führt unterschiedliche Gründe an, welche die nähere Betrachtung der Fabrikpflege im Ersten Weltkrieg zum jetzigen Zeitpunkt rechtfertigen. Dabei verweist der Autor auf die lange Geschichte der Betriebssozialarbeit insgesamt, deren Ursprünge sich in der Zeit des deutschen Kaiserreichs auffinden lassen. Zum einen sei der vierjährige Zeitraum der Kriegszeit überschaubar, zum anderen sei jene Zeit aber intensiv erforscht, was das hinzuziehen digitaler Quellen vereinfacht (vgl. S. 9). Wichtiger aber noch erscheint das Argument des Ersten Weltkrieges als einschneidende Zäsur für die Soziale Arbeit insgesamt (vgl. ebd).
Für die Fabrikpflege im Speziellen barg sie die Chance, sich überhaupt zu etablieren, womit ein neues Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit Anerkennung fand.
Da, wie noch nie in der deutschen Geschichte zuvor, das Militär auf die Unterstützung von Frauen in der Produktion angewiesen war, und aufgrund des gesamtgesellschaftlichen Notstandes erlebte auch die Frauenbewegung neuen Aufschwung; was in der vorliegenden Publikation anhand des von einer Fabrikpflegerin geführten Tagesbuches exemplarisch aufgezeigt wird. So beschreibt dieses eine lange Wegstrecke des Eintretens der Frauen für ihre Rechte am Arbeitsplatz und gegenüber dem Arbeitgeber und endet schließlich mit der erstmaligen Teilnahme von Frauen an politischen Wahlen.
Aufbau
Das Werk ist in sechs Teile gegliedert, wobei es sich als Hauptteil auf das Tagebuch der Fabrikpflegerin Lina Klingspor aus den Kriegsjahren 1917/18 stützt. Auszüge aus dieser Quelle werden den Lesenden mit Erläuterungen des Autors über das Wirken von Frau Klingspor sowie über historisch-politische Hintergründe näher gebracht.
Einleitend umreißt Klein in einem Vorwort die Komplexität des durchaus vielseitigen Themas und erläutert die Hintergründe zur Beschaffung der Quellen. Im zweiten Kapitel „Vor dem Krieg“ wird auf die biographischen Eckpunkte der Protagonistin Klingspor eingegangen, welche in direkten Kontext zu politischen Ereignissen, wie etwa dem Zusammenfallen der Geburt Klingspors mit der Inthronisierung Wilhelms II. im selben Jahr, gestellt werden. In Kontexte zur Protagonistin werden zudem die Entwicklungen der Profession Sozialer Arbeit gestellt; zu denen etwa „patriotische“ Reaktionen der damaligen Frauenbewegung auf den Ausbruch und Verlauf des Ersten Weltkrieges gehören.
Nachdem im Hauptteil Einblicke in den Notstand wie auch in die durch Lina Klingspor geleistete Pionierarbeit auf dem Gebiet der Fabrikpflege durch die Tagebucheinträge erlebbar wurden, reflektiert Klein in einem vorletzten Kapitel den Stand des heterogenen Tätigkeitsfeldes „Fabrikpflege“ zum Ende des Ersten Weltkrieges als auch den weiteren persönlichen Lebensweg der Protagonistin nach Kriegsende. Abgerundet werden die Einblicke mit einem offiziellen Bericht von Anna Nieder über Fabrikpflege an das Kriegsamt; als ein Stilmittel, den Kontrast zu der persönlichen Berichterstattung in Tagebuchform sichtbar werden zu lassen.
Inhalt
Betriebliche Soziale Arbeit im Ersten Weltkrieg wird im mit Abstand umfassendsten Kapitel „Das Fabrikpflege-Tagebuch“ exemplarisch am Tagebuch der Fabrikpflegerin Lina Klingspor verdeutlicht. Charakteristisch ist dabei die Kontextualisierung der subjektiven Eindrücke der Fabrikpflegerin mit der Darlegung heutiger Kenntnisse über die frühe Phase der Etablierung von Betriebssozialarbeit, gesundheitliche Risiken am Arbeitsplatz und den Verlauf der Rüstungsentwicklung im Ersten Weltkrieg.
Ein Beispiel dafür ist der Umgang mit Pikrinsäure, einer giftigen Chemikalie, welcher die Fabrikarbeiterinnen in der Rüstungsindustrie ausgesetzt waren. Klingspor beschrieb an mehreren Stellen, wie sie als Helferin von jenen Frauen um Schutzausrüstung zum Umgang mit dem Gift gebeten wurde; was die unmittelbare Konfrontation der Anfänge von Betriebssozialarbeit mit Leid und Elend exemplarisch verdeutlicht. In diesem Zusammenhang berichtet die Zeitzeugin von einem speziell für sie provisorisch eingerichteten Büro, welches sie sich behelfsmäßig mit einer Verkaufsstelle teilen musste. Sie schilderte Ohnmachtsanfälle der Fabrikarbeiterinnen aufgrund der dortigen Arbeitsbedingungen, welche es erforderten, dass sie einen Liegestuhl in ihr Büro stellte.
Es wird beschrieben, inwieweit die Fabrikpflegerin für die Frauen Anfragen an den Arbeitgeber und an Behörden zur Lebensmittelversorgung, zur Schutzausrüstung und zur Vergütung der Arbeiterinnen richtete und, trotz der offensichtlichen Zustände, von deren Antworten enttäuscht wurde. Dabei handelte es sich, neben der Prävention vor giftigen Substanzen, auch um essentielle Dinge wie Schutzbrillen vor herumfliegenden Metallsplittern und warme Kleidung zum Schutz vor der Winterkälte.
Weitere Aspekte in dem Zeitzeugenbericht treten mit einem von den Fabrikarbeiterinnen beklagten Mangel an Kinderbetreuungseinrichtungen und staatlich organisiertem „Unterstützungsgeld“ zutage. Insofern geht aus den Tagebucheinträgen die Vielschichtigkeit als auch Komplexität der Aufgaben der damaligen Fabrikpflege hervor; wobei auf die Besonderheit betrieblicher Sozialer Arbeit in einem Rüstungsunternehmen in Kriegszeiten hingewiesen wird.
Immer wieder spielt das „Unterstützungsgeld“ für Frauen, deren Ehemänner Kriegsdienst leisteten, und dessen Verrechnung mit dem Arbeitslohn eine gewichtige Rolle in der täglichen Arbeit der Fabrikpflegerin. Es wurde von dem Unmut der Arbeiterinnen berichtet, da sich der harte Dienst angesichts der dadurch vorgenommenen Kürzungen des „Unterstützungsgeldes“ nicht lohne. Auch berichtete Klingspor von Beratungen in finanziellen Angelegenheiten, wie etwa dem Nachrechnen von Steuerbescheiden an die Arbeiterinnen.
Unter anderem führte die daraus resultierende Armut in einzelnen Familien zu der Entscheidung, auch Kinder – vorwiegend wird von Mädchen berichtet – in die Rüstungsfabrik zur Arbeit zu entsenden. Klingspor äußerte tiefe Besorgnis über diese Entwicklung und führte mit den Müttern Gespräche, um nach anderen Lösungen zu suchen.
Ergänzt werden die Tagebucheinträge Klingspors durch die im Anhang der Monographie befindliche Berichterstattung einer weiteren Fabrikpflegerin namens Anna Nieder an die Nebenstelle des Kriegsamtes. Auch darin berichtet die Quelle von gesundheitlichen Schäden von Fabrikarbeiterinnen in anderen Rüstungsfabriken. Anders als in den persönlichen Vermerken Klingspors wird dort an die von ihr als auch von Wohlfahrtseinrichtungen geleisteten Tätigkeiten die „kulturelle Hebung“ der Arbeiterinnen betreffend ebenso verwiesen wie auf die Verbesserung „sittlicher Verhältnisse“. Divergierend ist, dass Nieder die vermeintliche Eigenverantwortung der Frauen für Reinlichkeit, für Arbeitsschutz und damit für ihre gesundheitliche Prävention hervorhebt; wodurch ein Eintreten für das Mandat für die Arbeiterinnen in den persönlichen Tagebucheinträgen deutlicher erkennbar ist als in dem offiziellen Rechenschaftsbericht.
Diskussion
Die Publikation kann vor allem als ein Beleg für die Kontinuität des täglichen Balanceakts von Praktiker:innen Sozialer Arbeit in der Befriedung von Notlagen einerseits und im Umgang mit verschiedenen Mandatierungen anderseits gesehen werden. So kommt Klein unter Hinzuziehung der zur selben Zeit (1917) entwickelten Ausführungen Alice Salomons über den Beruf der Fabrikpflegerin zu dem naheliegenden Befund, dass sich deren Aufgaben von heutigen in der betrieblichen Sozialen Arbeit kaum unterschieden (vgl. S. 29).
Ein Aspekt etwa, welcher Mandatträger:innen damals wie heute belastet, ist das Angehen gegen bürokratische Mühlen, wie an einigen Passagen des Tagebuchs von 1917/18 verdeutlicht wird. So wurde Klingspor einerseits vom Kriegsamt entsandt und war dem Fabrikanten untergeben, an welchen sie Anregungen lediglich herantragen konnte, und musste andererseits bei dem Landratsamt Unterstützung für ihre Klientinnen erfragen und aushandeln. Anhand des historischen Beispiels wird ersichtlich, dass Berufe der Fürsorge und Wohlfahrtspflege sich bereits damals insofern selbst zu behaupten hatten, als dass zum einen „Allroundfähigkeiten“ abverlangt wurden und zum anderen deren Praktiker:innen aufgrund eben jenes aufopfernden Engagements für ihre Klientel der Belastung einer vielseitigen Vereinahmung ausgesetzt waren.
Wie Martin Klein treffend pointiert, gab es „nicht die Fabrikpflege im Ersten Weltkrieg“ (S. 123, Herv. i. O.); was sich an der Vielseitigkeit und der teilweisen Zweckentfremdung der Aufgaben der Fabrikpflegerin Lina Klingspor zeigt. So reichten die beschriebenen Realitäten des Kriegsalltags der Fabrikpflege in einer Rüstungsfabrik weit über das hinaus, was betriebliche Soziale Arbeit eigentlich leisten sollte und zu leisten imstande war. Fabrikpflegerinnen waren Ansprechpartnerinnen für vieles mehr. Sie waren Familienhelferinnen und nicht selten Seelsorgerinnen in den verschiedensten persönlichen Notlagen der Arbeiterinnen, welche von Armut, Hunger, Kleidernot und mangelnder gesundheitlicher Versorgung geprägt waren.
Das Werk greift darüber hinaus auf wichtige Quellen und Daten aus dem Handlungszeitraum 1917/18 zurück; neben Salomons „Der Beruf der Fabrikpflegerin“ und „Die Aufgaben der Fabrikpflegerinnen und ihre Stellung im Betrieb“ etwa auch auf Hintergrundinformationen von Charlotte von Caemmerer („Die Fabrikpflegerin“, 1919) oder Frieda Wunderlich („Fabrikpflege“, 1926).
Die Monographie zeigt anhand der durch die Protagonistin teils dramatisch geschilderten Zustände exemplarisch, dass frühe Betriebssozialarbeit gleich auf mehreren Gebieten Missstände aufzeigte und für deren Verbesserungen mit einem gewissen Pioniergeist herantrat. In diesem Zusammenhang kann anhand der aufgezeigten Beispiele nicht nur an die (damals wie heute) umkämpfte Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sondern gleichermaßen an das betriebliche Gesundheitsmanagement und an eine soziale Grundsicherung im Allgemeinen verwiesen werden – was das historische auch zu einem aktuellen Thema werden lässt.
Fazit
Mit „Geschichte der Betrieblichen Sozialen Arbeit – Fabrikpflege im Ersten Weltkrieg“ setzt Martin Klein die Reihe „Betriebliche Soziale Arbeit“ mit greifbar nahen Beschreibungen aus dem Tagebuch einer Fabrikpflegerin aus der Zeit des Ersten Weltkrieges fort. Dabei werden die persönlichen Eindrücke der Protagonistin mit wegweisenden Schriften, wie etwa von Alice Salomon, in Verbindung gestellt und durch Verweise auf die historischen Entwicklungen der frühen betrieblichen Sozialen Arbeit gerahmt.
Rezension von
Dr. Andreas Marx
Lehrbeauftragter an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der TH Köln, staatlich anerkannter Sozialarbeiter und Sozialpädagoge, Bewährungshelfer
Website
Mailformular
Es gibt 1 Rezension von Andreas Marx.