Esther Bockwyt: Woke
Rezensiert von Prof. Dr. Georg Auernheimer, 05.03.2024
Esther Bockwyt: Woke. Psychologie eines Kulturkampfs. Westend Verlag GmbH (Neu-Isenburg) 2024. 178 Seiten. ISBN 978-3-86489-444-2. 18,00 EUR.
Thema
„Woke“ sind die Wachsamen, die auf versteckte oder sublime Diskriminierungen achten. Diejenigen, die sich selbst einer diskriminierten oder marginalisierten Minderheit zurechnen, fordern eine „Achtsamkeit“, die teilweise umstrittene Konsequenzen hat. Die Autorin stellt diese Praxis dar, interpretiert die Motive, zeigt am Schluss aus psychologischer Sicht Auswege auf und gibt Ratschläge.
Die Autorin
Esther Bockwyt ist Psychologin und arbeitet als Fachgutachterin und Publizistin.
Inhalt und Aufbau
Die Ausführungen sind in drei Teile gegliedert. Zitierens wert ist die Beschreibung der woken Bewegung. Ziele und Methoden seien „die Bewusstwerdung von Privilegien durch deren Inhaber, der Entzug von Plattformen für bestimmte Inhalte und Personen (Deplatforming), die Quotierung von Machtverhältnissen bis hin zu dem, was als Cancel-Culture benannt wird und die Schaffung sogenannter safe spaces (sicherer Orte) für marginalisierte Personengruppen…“ (24).
Im ersten Teil „Woke Welten“ verdeutlicht die Autorin die meist nicht in den Köpfen präsenten Theorien oder Denkansätze von Wokeness, nämlich das sprachwissenschaftliche Performanztheorem – Sprache schafft Realitäten – den Sozialkonstruktivismus, die Diskurstheorie und die Identitätspolitik. Dann richtet sie nacheinander einen kritischen Blick auf „woken Anti-Rassismus“, auf woke Zugänge zu Geschlecht, Körper und Sexualität und auf die Neudefinition von psychischer Gesundheit, unter anderem die Entstigmatisierung psychischer Krankheiten und die Body-Positivity-Bewegung. Mehrmals bringt sie die Rolle sozialer Medien zur Sprache. Abschließend verdeutlicht sie für die Leserinnen und Leser „Woke Kernelemente“.
Im zweiten Teil „Woke Psyche“ will die Autorin „die wichtigsten psychologischen Variablen beim Verständnis der Wurzeln und Folgen des woken Kulturkampfs“ erklären (106). Sie geht in einzelnen Abschnitten ein auf Narzissmus, auf „Zwanghaftigkeit und das woke Über-Ich“, auf Aggression, auf negative, verzerrte Realitätswahrnehmung („Negativitätsverzerrung“) und in Kontrast dazu auf „Histrionie“, die beglückende Illusion „Du kannst alles sein“, die Konzentration auf das Kindliche in uns mit den entsprechenden Vermeidungsstrategien. Am Schluss werden unter der Überschrift „Woker Korpsgeist“ gruppenpsychologische Prozesse zur Erklärung der woken Bewegung herangezogen.
Die Botschaft des dritten Teils „Zwei Seelen wohnen in jeder Brust!“ ist insofern versöhnlich, als die Psychologin bei uns allen, natürlich auch den woken Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, zwei „bipolare Kräfte“, nämlich das Bedürfnis nach Sicherheit und nach Freiheit ausmacht, die aber in ein „gesundes“ Verhältnis zueinander gebracht werden müssten.
Diskussion
Das Buch bietet einen guten Eindruck von Wokeness und einen Überblick über die vielfältigen Erscheinungsformen. Die öfters geschilderten Konflikte illustrieren die Hypersensibilität, die das Verlangen nach content warnings und safe spaces verständlich macht. Bei der psychologischen Erklärung von Wokeness argumentiert die Autorin weithin auf der Basis des Common Sense, gelegentlich gestützt auf Autoritäten des Fachs Psychologie und wissenschaftliche, teils auch populärwissenschaftliche Studien. Ihre zentrale Lehre oder Lebensweisheit ist das gesunde Maß oder „gesunde Augenmaß“ zwischen unseren widerstreitenden Bedürfnissen (z.B. 194, 196).
Die fachliche Herkunft erschwert der Autorin den Zugang zum sozialwissenschaftlichen Approach. Die Feststellung oder Annahme „struktureller“ Benachteiligung ist für sie befremdlich und empirisch nicht nachweisbar, weil sie nur auf Vorurteile Bezug nimmt. Dass das Schulsystem, der Wohnungs- und Arbeitsmarkt aufgrund eines selektiven Aufbaus oder aufgrund von Marktmechanismen diskriminieren (können), ist ihr fremd. Der Wunsch nach Gerechtigkeit betrifft bei Bockwyt nur soziale Interaktionen, nicht soziale Strukturen. Unverständlich wäre sonst ihre Meinung: „Wenn alles in dieser ‚gerechten‘ Weise reguliert wäre, gäbe es kein spontanes Leben mehr, sondern nur noch ein angestrengtes“ (132).
Mit Empfehlungen, wie die Welt positiv wahrzunehmen, „auch schmerzliche Realitäten anzuerkennen“ (205) verlässt die Autorin die wissenschaftliche Argumentationsebene, weil sie in ihrer Allgemeinheit eine konservative Gesellschaftsauffassung stützen, auch wenn sie als Tipp für den privaten Lebensbereich gemeint sein mögen.
Schließlich hätte man sich ein aufmerksames Lektorat gewünscht. Aber das ist heute eine Seltenheit. Schon die oben eingebrachten Zitate zeigen unüberlegte sprachliche Formulierungen wie „Quotierung von Machtverhältnissen“. Den Satz „Narzissmus… findet im alltäglichen Leben permanent statt“ (107) oder die Formulierung Wissenschaftlerinnen „erforschten, dass…“ (statt „ob“) findet vielleicht nur der Rezensent schief.
Fazit
Wer sich informieren möchte, was Wokeness alles meint, welch teilweise kuriose Forderungen da erhoben werden, vielleicht auch um sich als pädagogische Fachkraft darauf einstellen zu können oder um manche Reaktion der Klientel zu verstehen, der ist mit dem Buch gut bedient.
Rezension von
Prof. Dr. Georg Auernheimer
Lehrte Erziehungswissenschaft, Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik, in Marburg und Köln.
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Zitiervorschlag
Georg Auernheimer. Rezension vom 05.03.2024 zu:
Esther Bockwyt: Woke. Psychologie eines Kulturkampfs. Westend Verlag GmbH
(Neu-Isenburg) 2024.
ISBN 978-3-86489-444-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31977.php, Datum des Zugriffs 11.11.2024.
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