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Christoph von Dach, Hanna Mayer (Hrsg.): Personzentrierte Pflegepraxis

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 12.02.2025

Cover Christoph von Dach, Hanna Mayer (Hrsg.): Personzentrierte Pflegepraxis ISBN 978-3-456-86123-4

Christoph von Dach, Hanna Mayer (Hrsg.): Personzentrierte Pflegepraxis. Grundlagen für Praxisentwicklung, Forschung und Lehre. Hogrefe AG (Bern) 2023. 266 Seiten. ISBN 978-3-456-86123-4. D: 59,95 EUR, A: 61,70 EUR, CH: 77,00 sFr.

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Thema

Der „personzentrierte Ansatz“ kann als ein Produkt der „Humanistischen Psychologie“ verstanden werden, einer Denkrichtung, die im Kern nicht empirisch und damit wissenschaftlich im Sinne der Erkenntnisgewinnung ausgerichtet ist. Sie kann eher als eine Weltauffassung mit dem Ziel aufgefasst werden, die „Potenziale“ und schöpferischen Fähigkeiten der Menschen fördern zu wollen. „Wachstum“ und „Selbstverwirklichung“ sind in diesem Konzept zentrale Begriffe und Orientierungswerte, wobei hierbei besonders die geistige Weiterentwicklung („mental growth“) gemeint ist. Hauptvertreter dieser Denkrichtung sind u.a. Abraham Maslow, Carl Rogers, Erich Fromm und auch Erik Erikson, die teils auch dem Kreis der US-amerikanische Neo-Freudianer zugerechnet werden. Im Bereich der Demenzpflege wird der „personzentrierte Ansatz“ richtungsweisend von dem englischen Sozialpsychologen Tom Kitwood vertreten, dessen Ausführungen in der vorliegenden Publikation von zentraler Bedeutung sind.

Herausgeber und Autoren

Christoph von Dach (Prof. Dr.) ist u.a. Hochschuldozent an der Berner Fachhochschule. Hanna Mayer (Uni.-Prof. Mag. Dr.) ist u.a. Professorin für Pflegewissenschaften an der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften in Krems. Als Autoren wirkten Pflegende aus dem Ausbildungsbereich (Fachhochschulen u.a.) überwiegend aus Österreich und der Schweiz mit: Corinne Auer, Teresia Bartolomeoli, Dr. Shaun Cardiff, Ana Cartaxo, Theresa Clement, Prof. Dr. Doris Eberhardt, Thomas Falkenstein, Dr. Irena Anna Frei, Catherine Gassmann, Florian Grossmann, Stefan Gschwenter, Kathrin Hirter, Dr. Susanne Knüppel Lauener, Sabine Köck-Hodi, Jaqueline Martin, Nadine Saladin, Dr. Angela Schnelli, Maria Schwaighofer, Gabriela Tarnutzer und Martin Wallner.

Aufbau

Die Publikation ist in fünf Kapitel nebst Einleitung untergliedert. Mehrere Tabellen und Abbildungen illustrieren den Text.

Kapitel 1 (Das Modell der personzentrierten Pflegepraxis, Seite 19 – 73) entfaltet zu Beginn die geisteswissenschaftlichen Theorien und Wertvorstellungen, die die Grundlagen für den personzentrierten Ansatz in der Pflege konstituieren. Es sind u.a. die humanistische Psychologie (Martin Buber, Carl Rogers), die Phänomenologie mit dem Konstrukt der Leiblichkeit (Merleau-Ponty) und die Ideen von Heidegger bezüglich der „Eigentlichkeit“ beziehungsweise „Authentizität“. Die Konzepte bilden den sozialphilosophischen Rahmen und dienen zugleich auch als Orientierung für das pflegerische Handlungsfeld. Hierauf aufbauend wird anschließend das Modell der „personzentrierten Praxis“ als theoretischen Bezugsrahmen mit den allgemeinen Strukturelementen expliziert. Im Zentrum stehen „personzentrierte Ergebnisse“ auf dem Hintergrund einer „gesundheitsförderlichen Kultur“ u.a. mit den folgenden Faktoren: „sich authentisch einbringen“, „ganzheitliches Arbeiten“ und „gemeinsam Entscheidungen treffen“.

Das 2. Kapitel (Praxisentwicklung: der Weg zur personzentrierten Kultur, Seite 75 – 122) enthält die Schritte, die zu einer „personzentrierten Kultur“ führen. Ausgehend von Überlegungen des Philosophen Jürgen Habermas werden diesbezüglich drei Ansätze einer technischen, emanzipatorischen und transformationalen Praxisentwicklung erläutert. Die Praxisentwicklung wird hierbei wie folgt definiert: sie „verbindet Kreativität mit Lernen und öffnet Herz, Verstand und Seele der Menschen, um neue Wege des Denkens, Tuns und Seins zu gehen.“ (Seite 80). Hierbei kann bei erfolgreichem Handeln in Anlehnung an die „positive Psychologie“ nach Seligman und Schumacher regelrecht ein „Aufblühen“ oder ein „authentisches Glück“ bei den Mitarbeitern erwartet werden. Zugleich ist die „personzentrierte Kultur“ auch mit hohen Arbeitsbelastungen verbunden: „Die Belastung kann sogar noch steigen durch die erhöhten Anforderungen an sich und die eigene Arbeit.“ (Seite 83).

In Kapitel 3 (Leadership: das Fundament personzentrierter Entwicklungsprozesse, Seite 123 – 150) werden die Erwartungen, Anforderungen und auch Kernelemente des Leitens und Führens bei den personzentrierten Entwicklungsprozessen aufgezeigt. Zentral hierbei ist die Gestaltung von „Arbeitsplatzkulturen“, die gute Arbeitsbedingungen mit den Leitmotiven „kollektives Leadership“, „Gemeinsame Werte leben“ und „sichere, kritische, kreative Lernumgebungen“ gewährleisten sollen. Als Ergebnisse werden u.a. erwartet: „starke, leistungsstarke Teams“, „Mitarbeitendenbindung und niedrige Krankheitsraten“ und dass die „Mitarbeiter gedeihen, sich entwickeln und ihr Potenzial erweitern“. Beim Führen und Leiten gilt es vor allem, dass die Mitarbeitenden „Bestleistungen erzielen“. Des Weiteren wird die „kontinuierliche Entwicklung einer gesundheitsfördernden Kultur“ einschließlich der Förderung der „Selbst- und Fremdreflexion“ erwartet (Seite 146).

In Kapitel 4 (Evaluation: Erforschung personzentierter Praxis, Seite 123 – 190) wird einleitend auf den Sachverhalt hingewiesen, dass die Evidenz für die Wirksamkeit personzentrierter Interventionen häufig unzureichend ist. Diesbezüglich wird der Mangel an einer Interventions- und Wirksamkeitsforschung im Bereich der „personzentrierten Pflege“ angeführt. In diesem Arbeitsfeld wird eine intensive Weiterentwicklung eingefordert, um den Anforderungen einer „(Re) – Humanisierung der Gesundheitsversorgung“ gerecht werden zu können. Einen großen Stellenwert nimmt bei dieser Erarbeitung und Bewertung die Selbstreflexion und Introspektion ein, die als methodologische Prinzipien in dem Forschungsprozess aufgefasst werden. Bezüglich der konkreten Evaluation werden verschiedene Instrumente zur standardisierten Erhebung von „Personzentrierung“ angeführt: u.a. das „Person-Centred Practice Inventory – Care“. Überwiegend werden hierbei neben Interviews und strukturierten Beobachtungen auch standardisierte Fragebogenerhebungen eingesetzt, um „Personzentrierung“ zu messen.

Kapitel 5 (Ausbildung: dort wo alles anfängt, Seite 191 – 257) enthält das Spektrum an Ausbildungsmöglichkeiten bezüglich der „personzentrierten Pflege“ im Rahmen eines Pflegestudiums. Im Zentrum steht hierbei besonders das „Mentoringskonzept“ für Einrichtungen der Langzeitpflege, wobei die „Lernkultur“ neben der theoretischen und praktischen Ausbildung auch eine Abstufung der auszubildenden Personen beinhaltet. Unterschieden werden diesbezüglich die Rollen und Funktionen: Gesundheitsfachpersonen an der Basis, es folgen Mentoren, „Fazilitatoren“ (Praxisbegleiter) und an der Spitze Führungskräfte. Den Abschluss des Kapitels bildet ein theaterpädagogisches Projekt mit Demenzkranken in einem Pflegeheim in der Schweiz.

Diskussion

Wie bereits weiter oben angeführt, handelt es sich bei dem „personzentrierten Ansatz“ um ein vorrangig geisteswissenschaftliches und damit zugleich nicht-empirisches Konzept, das Vorstellungen von „geistigem Wachstum“ und „Authentizität“ auf der Grundlage verschiedener philosophischer Ansätze in den Mittelpunkt stellt. Dieses Gedankengebäude dient zugleich auch als Orientierungsrahmen, wenn z.B. Begrifflichkeiten wie „Aufblühen“ und „authentisches Glück“ als Ziele genannt werden. Des Weiteren wird wiederholt ein im Einzelnen nicht begründetes Unbehagen an den bestehenden Verhältnissen im Gesundheitswesen betont, das es aus der Sicht der Autoren erforderlich macht, die „Re-Humanisierung des Gesundheitswesens“ voranzubringen. Diese Kritik wird u.a. auch bei dem Hauptvertreter dieser Richtung im Bereich Demenzpflege Tom Kitwood deutlich, der aufgrund seiner Meinung nach unzumutbaren Verhältnisse in den Pflegeheimen („maligne bösartige Sozialpsychologie“) eine „Neue Kultur“ in der Pflege Demenzkranker einfordert (Kitwood 2000). In der Praxis der stationären Pflege mit dem Schwerpunkt Demenzpflege und Demenzbetreuung hat sich hingegen herausgestellt, dass die „personzentrierten Ansätze“ in Deutschland abgelehnt werden und in den Pflegeheimen auch nicht angewendet werden, trotz einschlägiger Fort- und Weiterbildung der Pflegenden (Boggatz et al. 2022, Brandenburg 2023, Dammert et al. 2016 und Kotsch et al. 2013). Auch fehlt bisher ein Wirksamkeitsnachweis dieser Modelle (Nocon et al. 2010). Die Autoren dieser Publikation gestehen selbst ein, dass eine Evaluations- und Wirksamkeitsforschung ihrer Konzepte bisher noch nicht ausreichend erfolgt ist. Äußerst problematisch ist zusätzlich der Tatbestand, dass die Vertreter dieser Konzepte (u.a. neben Tom Kitwood auch Naomi Feil) die allseits praktizierte spontane Demenzpflege (u.a. Mitgehen und Mitmachen, Ablenken und Beruhigen) als „Lug und Trug“ diskreditieren. Aufgrund dieser Sachverhalte kann die Einschätzung gegeben werden, dass es sich bei dem Ansatz der „personzentrierten Pflege“ um ein bloßes normativ-ideologisches Gedankenkonstrukt handelt, das keinen konkreten Realbezug besitzt (Lind 2021 und 2022).

Fazit

Der „personzentrierte Ansatz“ hat das Problem, die Neurowissenschaften als Teil der Medizin nicht als Orientierungs- und Bezugsrahmen akzeptieren zu wollen: „neuropathische Ideologie“ und damit Leugnung des Kausalzusammenhanges von Hirn und Verhalten (Kitwood 2000). Da die eigenen Wertmaßstäbe (u.a. „Neue Kultur“) nicht mit den empirischen Wissenschaften kompatibel sind, entstehen Parallelstrukturen ähnlich denen der „Alternativmedizin“ (z.B. Homöopathie). Derartige Gegebenheiten dürften nach Einschätzung des Rezensenten keinesfalls im Bereich der Demenzpflege gestattet sein, können sich doch die Demenzerkrankten in den Pflegeheimen den Handlungsmustern der „personzentrierten Pflege“ nicht selbstständig entziehen.

Literatur

Boggatz, T. et al. (2022): Demenz. Ein kritischer Blick auf Deutungen, Pflegekonzepte und Settings. Verlag W. Kohlhammer. https://www.socialnet.de/rezensionen/​29548.php

Brandenburg, H. (Hrsg.) (2023). Pflegehabitus in der stationären Langzeitpflege von Menschen mit Demenz. Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart). https://www.socialnet.de/rezensionen/​30522.php

Dammert, M. et al. (2016): Person-Sein zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Beltz Juventa Verlag (Weinheim und Basel).

Feil, N. (2000a) Validation. München: Ernst Reinhardt Verlag https://www.socialnet.de/rezensionen/260.php

Feil, N. (2000b) Validation in Anwendung und Beispielen. München: Ernst Reinhardt Verlag

Kitwood, T. (2000) Demenz. Der personenzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. Bern: Verlag Hans Huber 

Kotsch, L. et al. (2013): Selbstbestimmung trotz Demenz? Ein Gebot und seine praktische Relevanz im Pflegealltag, Verlag Beltz Juventa, Weinheim und Basel.

Lind, S. (2021) Das Demenzmodell von Tom Kitwood (Teil 3). https://www.svenlind.de/2021/05/23/das-demenzmodell-von-tom-kitwood-teil-3/

Lind, S. (2022) Vorarbeiten für die Entwicklung einer Theorie der Demenzpflege (Teil 7). https://www.svenlind.de/2022/04/17/vorarbeiten-fuer-die-entwicklung-einer-theorie-der-demenzpflege-teil-7/

Nocon, M. et al. (2010) Pflegerische Betreuungskonzepte bei Patienten mit Demenz. Ein systematischer Review. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 43 (3): 183-189.

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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ISSN 2190-9245