Lutz H. Michel: Betreutes Wohnen für ältere Menschen
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 10.10.2024

Lutz H. Michel: Betreutes Wohnen für ältere Menschen. Nachhaltig gestalten und erfolgreich realisieren. Vincentz Network GmbH & Co (Hannover) 2023. 184 Seiten. ISBN 978-3-7486-0654-3. 54,90 EUR.
Thema
Betreutes Wohnen lässt sich unter versorgungstechnischen Aspekten als eine „Zwischen- oder auch Übergangswohnform“ zwischen Rüstigkeit und Gebrechlichkeit (Pflegebedürftigkeit) klassifizieren, also zwischen eigenständigem Privathaushalt und Pflegeheim. Die Zielgruppe besteht vor allem aus hilfebedürftigen, leicht gebrechlichen und meist auch alleinlebenden Senioren.
Bei der vorliegenden Veröffentlichung handelt es sich um einen Praxisleitfaden für Träger und Investoren im Bereich Wohnen im Alter.
Autoren
Dr. Lutz H. Michel ist Rechtsanwalt, der vorrangig als Berater für Anbieter-, Wohnungs- und Immobilienverbände und Investoren mit dem Schwerpunkt Serviceimmobilien tätig ist. Jana Bockholt, Prof. Dr. Lorenz Imhof und Dr. Markus Leser ergänzen die Publikation durch Länderberichte zum Betreuten Wohnen in Österreich und der Schweiz.
Aufbau und Inhalt
Die Publikation ist in zehn Kapitel untergliedert. 31 Abbildungen illustrieren den Text.
In Kapitel 1(Einleitung, Seite 1 – 2) wird kurz angeführt, dass es sich bei der Publikation um einen Praxisleitfaden für die Konzeptionierung, Planung und Realisierung von Einrichtungen des Betreutes Wohnens handelt.
Kapitel 2 (Strukturen und Grundlagen, Seite 9 – 29) enthält den ordnungsrechtlichen Rahmen des Betreuten Wohnens. So werden zu Beginn neben der Erläuterung der Begrifflichkeit „Betreutes Wohnen“ vor allem die inhaltliche Abgrenzung zu anderen Wohn- und Betreuungsformen im Alten expliziert (u.a. Pflegeheime, ambulant betreute Wohngemeinschaften und Mehrgenerationen-Wohnen). Es folgen einleitende Ausführungen zu ordnungs- und leistungsrechtlichen Aspekten nebst dem Immobilienrecht und den finanz- und betriebswirtschaftlichen Rahmenbedingungen.
In Kapitel 3 (Erfolgsfaktoren – so gelingt Betreutes Wohnen, Seite 31 – 55) werden die Erfolgsfaktoren des Betreuten Wohnens in Gestalt des „magischen Siebenecks des Betreuten Wohnens“ beschrieben: 1. Die richtige Zielgruppe, 2. Das richtige Konzept und Angebot, 3. Kosten und Nutzen, 4. Marktpositionierung – Produktgestaltung – Konkurrenz, 5. Modularität und Integration in Leistungsketten, 6. Zertifikate und Gütesiegel und 7. Typgesicherte und konzeptgerechte Vertragsgestaltung. Hervorgehoben wird hierbei vor allem der Sachverhalt, dass es sich beim Betreuten Wohnen um „Management-Immobilien“ handelt. Das bedeutet u.a. das gleichzeitige Verwalten, Vermieten und Vermarkten der Immobilien zur optimalen und damit langfristigen Nutzung und damit gleichzeitig kapitalbezogen Verwertung.
Kapitel 4 (Betreuung und Personal, Seite 57 – 65) beinhaltet den Faktor, dass Betreutes Wohnen aus dem Leistungsspektrum „Wohnen“ und „Dienstleistungen“ besteht, wobei diese wiederum in „Grundleistungen“ und „Wahlleistungen“ unterschieden werden. Die Grundleistungen umfassen Betreuung, hauswirtschaftlicher Basisservice und Notrufsicherung, die Wahlleistungen hingegen weitergehende Unterstützungsleistungen und soziale Betreuung und Pflege. Wahlleistungen bestehen u.a. aus den folgenden Dienstleistungen: hauswirtschaftliche Hilfen, Reinigung und Wohnung, pflegerische Hilfe (Grund- und Behandlungspflege), Hol- und Bringdienste einschließlich Fahr- und Begleitdienste und Hilfen im Krankheitsfall und beim Krankenhausaufenthalt. Bezüglich des Personals wird die qualitative Anforderung gestellt, dass eine Berufsausbildung der Alten- oder Krankenpflege, Hauswirtschaft oder Sozialarbeit vorliegen sollte. Die quantitativen Anforderungen bestehen aus Maßgabe, dass pro Wohneinheit eine Personalkapazität von 2 Stunden pro Monat vorgehalten werden sollte.
In Kapitel 5 (Bauliche Aspekte, Seite 67 – 73) werden die baulichen Aspekte des Betreuten Wohnens übersichtsartig dargestellt. So sollte eine Wohnanlage über barrierefreie Gemeinschaftsflächen, barrierefreie und schwellenfreie Wohnungen mit Bewegungsflächen und Außenanlagen (barriere- und schwellenfrei und rollatorfreundliche Beläge) bestehen. Empfohlen wird bezüglich der Größe der Wohnungen ein Anteil von 20 Prozent Einzimmerwohnungen (ca. 40 – 50 qm), ein Anteil von ca. 60 Prozent Eineinhalb- und Zweizimmerwohnungen (50 – 65 qm) und um 20 Prozent Zweieinhalb- und Dreizimmerwohnungen (65 – 75 qm).
In Kapitel 6 (Gestaltung und Vertragsgestaltung, Seite 76 – 123) geht es im Wesentlichen um den Sachverhalt, welche einrichtungs- und heimrechtlichen Rahmenbedingungen zu beachten sind, um bei erhöhter Nachfrage nach personenbezogenen Dienstleistungen (u.a. Pflege und Hauswirtschaft) im Betreuten Wohnung eine Umwidmung in eine stationäre Pflegeeinrichtung zu vermeiden. In diesem Kontext werden u.a. verschiedene Gestaltungsmodelle expliziert: „Alles-aus-einer-Hand-Modelle“, „Kooperationsmodell“ (Wohnen und Betreuungsleistungen werden eigenständig von unterschiedlichen Leistungserbringer in kooperativer Form erbracht) und „Mischmodelle“ (Betreuungsgrundleistungen werden teils von den Leistungsanbietern selbst, teils in Kooperation mit anderen Trägern erbracht).
Kapitel 7 (Qualität und Qualitätssicherung, Seite 125 – 136) enthält die Beschreibung der sieben Qualitätskriterien für Betreutes Wohnen gemäß DIN 77800 und weiteren Standards. Dabei handelt es sich um die Anforderungen an den Standort, bauliche Aspekte, Dienstleistungserbringung, personelle Anforderungen, Transparenzanforderungen, Vertragsgestaltung und Qualitätssicherung. Bezüglich der Qualitätssicherung wird die interne Qualitätssicherung (u.a. Monitoring, Qualitätszirkel und Beschwerdemanagement) und die externe Qualitätssicherung (u.a. Zertifizierung) dargestellt.
In Kapitel 8 (Betreutes Wohnen im Verbund, Seite 137 – 142) wird das Betreute Wohnen in das Spektrum von Dienstleistungen für alte und teils gebrechliche Personen im Rahmen einer „Nachfragepyramide“ gemäß dem Leistungsbedarf eingeordnet. Erste Stufe: Ambulante Pflege („Betreutes Wohnen zu Hause“) – 2. Stufe: Betreutes Wohnen – 3. Stufe: ambulant betreute Wohngemeinschaften – 4. Stufe: teil- und vollstationäre Altenhilfeeinrichtungen – 5. Stufe: medizinische Leistungskomponenten, Rehabilitation sowie über die pflegerische Versorgung hinausgehende geriatrische (klinische-) Angebote.
In Kapitel 9 (Vorgehen in Projekten, Seite 143 – 153) werden die einzelnen Schritte von der Idee bis hin zur Realisierung eines Vorhabens Betreutes Wohnen detailliert erläutert. Zu Beginn steht das Konzept (Zielgruppen, Leistungen, Partner), es folgt die Projektkonfiguration u.a. in Gestalt einer Umsetzungsplanung. Anschließend werden die Leistungsbilder (Planung der Leistungen und der Wohnanlage) entworfen und zum Schluss werden die Kosten und Preise des Gesamtprojektes berechnet.
Kapitel 10 (Länderberichte, Seite 155 – 177) besteht aus einer übersichtsartigen Darstellung des Standes des Betreuten Wohnens in den Nachbarländern Österreich und der Schweiz. Während in Österreich bereits seit 2016 eine Normierung des Leistungsangebotes Betreutes Wohnen existiert (ÖNORM CEN/TS 16118), besteht in der Schweiz bisher noch keine landesweite Standardisierung dieser Wohn- und Betreuungsform für ältere und alte Menschen. Das Fehlen gesetzlicher Vorgaben führte u.a. dazu, dass ein „Wohn- und Pflegemodell 2030“ als Diskussionsgrundlage für die Entwicklung eines landesweit verbindlichen Konzeptes für das Betreute Wohnen in der Schweiz mit vier Leistungsstufen entwickelt wurde.
Diskussion
Die vorliegende Veröffentlichung gibt einen guten Überblick über die verschiedenen Aspekte des Betreuten Wohnens. Ausführlich werden die Rahmenbedingungen, Gesetze und einschlägigen Verordnungen allgemeinverständlich erläutert. Besonderen Wert legt der Autor auf das Faktum der Betriebswirtschaftlichkeit. So gilt es vor allem, Betreutes Wohnen als eine Kapitalanlage zu betrachten. Das Kernproblem hierbei besteht aus dem Faktum, dass viele Einrichtungen des Betreuten Wohnens durch die zunehmende Alterung der Bewohnerschaft verbunden mit der Nachrüstung an dementsprechend erforderlichen Dienstleistungen quasi schon Pflegeheime sind. Eine Umwidmung in eine Pflegeeinrichtung gemäß dem Heimgesetz sollte jedoch aus Gründen der Renditeerwartungen vermieden werden. Kritisch ist zu erwähnen, dass wesentliche Aspekte des Betreuten Wohnens, die vor allem die Begrenztheit des Leistungsspektrums verdeutlichen, keinerlei Erwähnungen finden. Dabei handelt es sich um die Verlegungspraxis in Pflegeeinrichtungen und um schwerst- und demenzkranke Bewohner (Kremer-Preiß 2019, Lind 2005).
Fazit
Das vorliegende Buch wird dem Anspruch nur teilweise gerecht, ein Praxisleitfaden für die Konzeptionierung, Planung und Realisierung von Einrichtungen des Betreutes Wohnens zu sein, denn es werden gravierende Gefahren und Problemlagen für diese institutionell äußert fragile „Zwischenwohnform“ gar nicht thematisiert. Für die Empfehlung zur Lektüre fehlen somit entscheidende Wesenszüge dieser Wohnform. Betreutes Wohnen kann für Schwerstpflegebedürftige und Demenzkranke aus der Sicht des Rezensenten und gemäß dem Stand der Versorgungsforschung nie eine Alternative zu einem Pflegeheim sein.
Literatur
Kremer-Preiß, U. et al. (2019) Betreutes Seniorenwohnen. medhochzwei Verlag GmbH (Heidelberg) https://www.socialnet.de/rezensionen/​25938.php
Lind, S. (2005). Betreutes Wohnen im Alter. Eine Literaturrecherche und Sekundäranalyse zur Entwicklung des Betreuten Wohnens in Deutschland, Großbritannien und den USA. https://www.gerontologische-beratung-haan.de/pdf/downloads/​Lind_Betreutes_Wohnen_im_Alter.pdf
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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