Michael Städtler, Michael Heidemann (Hrsg.): Herrschaft oder Organisation
Rezensiert von Dr. phil. Kevin-Rick Doß, 20.03.2024
Michael Städtler, Michael Heidemann (Hrsg.): Herrschaft oder Organisation. Zur politischen Form menschlicher Gesellschaft.
zu KLAMPEN! Verlag
(Springe) 2024.
172 Seiten.
ISBN 978-3-98737-004-5.
D: 14,80 EUR,
A: 15,30 EUR.
Reihe: Grundlinien kritischen Denkens.
Thema
Der hier zu besprechende Band umfasst mit „Herrschaft“ einen Begriff, der bereits in eine lange Forschungstradition eingebettet ist und bis heute immer wieder Konjunktur hat innerhalb der kritischen Theorie sowie im handelsüblichen sozialwissenschaftlichen Diskurs. Herrschaft meint in diesen Kontexten oftmals unmittelbare politische Herrschaftsmechanismen, instrumentelle, sichtbare Verfügungen von Gewalt, ihre Ausübungsformen durch Staat, Recht und Gesetz oder auch Formen der Subjektivierung. Die Autoren dieses Werkes begreifen diese Aspekte durchaus mit ein, positionieren sich allerdings anders. Antizipiert wird die Aufgabe, „zur theoretischen Bestimmung und zur grundsätzlichen Kritik der Gründe und Formen gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse in Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise beizutragen“ (S. 7). Das impliziert den Rekurs auf anonyme Herrschaft und wie diese sich in und durch das Kapitalverhältnis vermittelt. Aber nicht nur. Der Begriff „Organisation“ zeigt an, dass es zudem um die Überwindung dieser historisch begriffenen Herrschaftsform geht. „Organisation“ hier allerdings nicht verstanden als Anachronismus gegenüber herrschender Gewalt, sondern als Erinnerung an „grundsätzliche Alternativen zu der These von der Naturgegebenheit oder Selbstverständlichkeit von Herrschaft“ (S. 44).
Die Beiträge sind im Kontext der 4. Tagung des Peter-Bulthaup-Archivs am 25. Juni 2022 entstanden und gravitieren in der Hauptsache um die Marxsche „Kritik der politischen Ökonomie“, unter Aufnahme der sog. älteren kritischen Theorie.
Aufbau und Inhalt
Der Band fasst insgesamt sieben Beiträge und schließt mit zwei bisher unveröffentlichten Vorlesungen von Peter Bulthaup aus dem Februar 1994 mit dem Titel „Zur logischen Form des Staats der bürgerlichen Gesellschaft“, wo entlang der Hegelschen Rechtsphilosophie das Verhältnis von Staat und bürgerlicher Gesellschaft ausgelotet wird. Eng entlang des Hegelschen Textes arbeitet Bulthaup den antagonistischen Charakter der Staatsmacht heraus und macht deutlich, dass der Staat und seine Exekutivorgane (Polizei) einerseits als notwendige Machtinstitution angesehen werden, um die Folgen kapitalistischen Wirtschaftens einzuhegen. Andererseits sorge der Staat aber zugleich dafür, das losgelassene Konkurrenzprinzip zu sichern und mitunter zu befeuern, indem er rechtlich und notfalls mit unmittelbarer Gewalt das Privateigentum an Produktionsmitteln garantiere (vgl. S. 149). Im weiteren Verlauf der Vorlesung macht Bulthaup deutlich, dass sich der bürgerliche Staat nicht allein aus seinen Funktionen ableiten lasse (S. 158). Eine derartige Ableitung erweist sich darum als problematisch, weil der Staat immer bereits „als Staatsgewalt als Subjekt erscheint“ (S. 160). Er ist bereits etwas genuin Vermitteltes. Dass sich das so verhält, wird u.a. sichtbar an den Staatsorganen, denen die „Vermutung der Unschuld als Pflicht“ auferlegt werden müsse, da den Staatsorganen diese Vermutung nicht selbstverständlich sei (S. 165). Mit anderen Worten, Bulthaup deutet in seinen Vorlesungen auf jene in der Staatsmacht reüssierenden Widersprüche hin, die letztlich in kapitalistisch vermittelten Prozessen situieren und dort für etwaige Ohnmachtstendenzen sorgen. – Und genau dorthinein zielen die vorhergehenden Beiträge: Herrschaftskritisch und ohne eine Gesellschaftsform jenseits kapitalistischer Produktionsverhältnisse aus den Augen zu verlieren.
Deutlich gemacht ist dies bereits in der Einleitung der Herausgeber. Michael Städtler und Michael Heidemann skizzieren hier „affirmative(.) Schwundstufen ‚Kritischer Theorie‘“ (S. 7) und machen gleich zu Beginn deutlich, dass Herrschaft nicht auf „Struktur“ reduziert werden könne (vgl. S. 9). Der allgemeine Zweck von Herrschaft sei vielmehr in der Aneignung fremden Mehrprodukts und seinen historisch-konstitutiven Voraussetzungen zu suchen (vgl. S. 9 f.). Das schließt Eigentumsfragen ebenso ein wie die „gesetzmäßige(.) Form kapitalistischer Akkumulation“ (S. 12f). Um Herrschaft in kapitalistischen Gesellschaften zu begreifen sei es wichtig das damit verbundene Klassenverhältnis systematisch zu erfassen und zwar hinsichtlich der „systematische[n] Differenz“ von Privateigentum an Produktionsmitteln im Verhältnis zur Ware Arbeitskraft (S. 13). Gerade dieser Aspekt spielt allerdings kaum oder gar keine Rolle mehr in Herrschaftstheorien, was an Honneth und Habermas exemplifiziert wird. Kursorisch zwar, aber keineswegs unter Substanzverlust, stellen die Herausgeber gut nachvollziehbar heraus, wie und warum Marxens Arbeitswerttheorie selbst aus der kritischen Theorie nach und nach exiliert wurde, ja überhaupt die Marxsche „Kritik der politischen Ökonomie“ unberechtigterweise aus den Erklärungsansätzen einer Theorie über Herrschaft verschwand. Das hat Folgen für deren Erklärungsreichweite vor allem dort, wo Antagonismen schlichtweg personalisiert wurden und nach wie vor werden (vgl. S. 17). Die Autoren weisen nach, inwieweit es sich bei Weber, Luhmann, Bourdieu und insbesondere Foucault (graduelle Unterschiede natürlich eingepreist) um affirmative Herrschaftstheorien handelt (S. 18–22). Trotz herrschaftskritischer Anleihen gibt insbesondere der poststrukturalistische Machtbegriff eigentlich keine immanent-kritische Perspektive mehr frei, die auf ein Jenseitiges kapitalistischer Herrschaftsformen verweisen könnte. Jeder Kampf gegen Macht könne immer nur als eine neue Macht aufgefasst werden (S. 22). Ähnliches gilt für Herrschaftsansätze in der Politologie (Stichwort: Globalisierung) und Rechtswissenschaft, die sich „ihrem Gegenstand übergeben“ (S. 27), während Rechtsgesetze „die anonyme Herrschaft der Produktionsverhältnisse [prozeduralisieren]“ (S. 26). Im zweiten Teil der Einleitung ist es den Herausgebern zu tun um das Einkreisen einer „bewussten Organisation des gesellschaftlichen Lebens“, die sie allein durchführbar sehen im Sinne „bestimmte[r] Negation der theoretisch verstandenen Mängel bestehender Verhältnisse“ (S. 29). Dies wird stark gemacht gegenüber anthropologischen Konstanten eines vermeidlichen Naturwesens Mensch (vgl. S. 37) oder in Richtung einer Politischen Theorie, in der sich „Herrschaft und Organisation als Relation“ findet (S. 33) – mit einer z.T. unbewussten Anbiederung an funktionelle Herrschaft. Dabei festgehalten ist, dass „die humanen gesellschaftlichen Fortschritte (.) historisch mit der bürgerlichen Demokratie verbunden, aber (.) nicht systematisch an sie gebunden [sind]“ (S. 34) – ein Affront gegen regressive Theorien (wie diejenige Heideggers), die sich teils mit heftiger Polemik noch am minimalen Rest rechtlich verbürgter Freiheit vergehen wollen (S. 36). Am Schluss der Einleitung konkretisiert sich die Organisation gesellschaftlicher Freiheit (Voraussetzungen zur Verkürzung des Arbeitstages etc.), die sich ausschließlich realisieren ließe durch die Abschaffung des Kapitalismus „unter Bewahrung seiner politökonomischen Errungenschaften“ (S. 42).
Andreas Fisahn führt in „Brahamanen und Kshatriya – Mechanismen der Herrschaft“ die Diskussion um eine Dechiffrierung „der Mechanismen entpersönlichter politischer Herrschaft“ (S. 49) weiter und zeigt mit Marx auf, dass Herrschaft sich im Austausch von Äquivalenten realisiert, Aneignungsrechte „außerhalb des juristischen Begriffs von Herrschaft“ liegen (S. 50). Dennoch schreibe das Recht durch seinen Inhalt Herrschaftsbeziehungen fest (S. 51). Dies geschehe durch unmittelbare Gesetze, aber eben auch durch Garantie der Vertragsfreiheit, was die Ausbeutung innerhalb des Kapitalverhältnisses mystifiziert und stabilisiert. Konstatiert wird u.a. unter Aufnahme von Franz Neumann eine „Ambivalenz von Freiheit und Gleichheit“ (S. 60). Beide Pole, eng miteinander vermittelt, seien „Basisideologie der bürgerlichen Gesellschaft“ (S. 59).
Christian Ibers Beitrag zu „Staatliche Herrschaft, Revolution und Kommunismus bei Karl Marx“ ändert etwas die Perspektive und fokussiert staatliche Herrschaft als politische Gewalt und fragt nach jenen Überwindungsmöglichkeiten und Klassenkampferfahrungen, die historisch aufkeimten. Nachgezeichnet wird Marxens Einschätzung zur Pariser Kommune (S. 66ff) und welche Aufgabe er den Revolutionären zugesprochen hat (S. 69). Iber geht allerdings noch einen Schritt weiter und versucht zu klären, „wie Marx in seiner Kapitalismuskritik Formverhältnisse befreiter Gesellschaftlichkeit antizipiert“ (S 70). Allgemein meint dies die „vernünftige Selbstverwaltung einer Gesellschaft, deren Ausgangspunkt und Ziel das freie gesellschaftliche Individuum ist“ (S. 74), was mitunter konkretisiert wird entlang der „Ökonomie der Arbeitszeit“ (S. 75) und der „Kritik des Gothaer Programms“. Zum Schluss angerissen und auf die Gegenwart bezogen wird zudem das Klassenbewusstsein der Lohnarbeiter, das mitnichten einfach ausgestrichen sei. Vielmehr wüssten die Arbeiter weiterhin um den Klassengegensatz, auch wenn ihr Bewusstsein „auf dem Standpunkt der ‚trinitarischen Formel‘“ stünde (S. 79).
Mit dem Beitrag „Rätedemokratie oder das Ende der Politik“ von Alex Demirović sieht sich die Frage nach den Alternativen weitergetrieben und vertieft. Sehr detailliert ist hier eingegangen auf die Bildung und Schwäche einer prospektiven Rätedemokratie. Eine Schwierigkeit liege u.a. darin begründet, dass, und darauf zielten Marx sowie andere Rätetheoretiker ab, bei der organisatorischen Konstituierung von Räten auf die Verhinderung einer erneuten Bündelung von Macht achtgegeben werden müsse (S. 91). Ein Aspekt, den Demirović (und Marx ergänzend) am Volkssouverän verdeutlicht, der eine „irrationale Kategorie“ sei, die an Irrationalität zunehme, „wenn zur Begründung des Volks auf vorpolitische Vorstellungen wie dem Volk als Herkunfts- und Schicksals-, als Sprach- und Kulturgemeinschaft zurückgegriffen wird“ (S. 92). Der Charakter des Volks gerinnt hier zum „Mythos“, was den Verein freier Menschen in weitere Ferne rückt. Die Rätetheoretiker nach dem Ersten Weltkrieg begriffen die Räte vor allem als „vorrübergehende Kampfform“ (S. 97). In den Räten selbst solle sich „eine demokratisch bewusst vollzogene Abstimmung zwischen den Arbeiten der einzelnen Produktions-, Dienstleistungs- und Verteilungsstätten und dem gesamtgesellschaftlichen Bedarf“ herstellen, was auf den nachfolgenden Seiten weiter ausgeführt wird (98ff).
Ulrich Ruschig trägt mit seinem Text „Zum Begriff der Herrschaft in der kritischen Theorie“ einen darstellungslogisch äußerst stringenten und konzentrierten Vortrag bei. Nachgewiesen wird, inwieweit der apersonale und anonyme Charakter von Herrschaft aus einem spezifischen Verhältnis der Arbeitsbedingungen erwuchs. Kennzeichnend für dieses Verhältnis sei das Eigentum an den Produktionsmitteln, seine historisch gewaltsame Durchsetzung. Es bildet sich ein Produktionsverhältnis aus, welches „den Widerstand der lebendigen Arbeit bricht“ (S. 109). Dass der darin liegende Herrschaftszweck „wesentlich abstrakt und doch objektiv“ sei (S. 110), wird eingehend begründet entlang des antagonistischen Charakters kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Das meint jene innere Logik des Kapitals, die „die von ihm beherrschte und benutzte Arbeit [attackiert]“. Obwohl das Kapital die Arbeitskraft für die Produktion des relativen Mehrwerts zwingend benötigt, wird die Arbeit (aber auch die Natur) „aufgezehrt und zugrunde gerichtet“ (S. 112). Grundsätzlich findet dieser „prozessierende Widerspruch“ statt mittels des repressiven Diktums der Integration, das die Einwanderung des Klassenverhältnisses und die Verelendung in die Subjekte orchestriert (S. 113/119). Vermittelt durch die Aneignung des Mehrwerts wird die Dialektik von Gleichheit und Ungleichheit, von Freiheit und Unfreiheit perpetuiert, die Integration ist (objektiv) aber niemals so total, dass das „ramponierte“ Bewusstsein nicht doch auf das, „was Klassenherrschaft ist“, stoßen könnte (S. 118). Diese Bewusstwerdung selbst wird allerdings vom „fortschreitende[n] Angriff des abstrakten Kapitalvermehrungszwecks auf die Subjekte“ (S. 120) unter Feuer genommen, jene „incorruptile Substanz“ des intelligiblen Charakters (Kant) beschädigt (S. 121).
Mit „Die enteignete Öffentlichkeit – ein Ideal der politischen Philosophie“ von André Kistner werden Hannah Arendt und John Rawls einer Kritik unterzogen. Gut begründet, wird Arendt die Unbestimmtheit ihres Handlungsbegriffs vorgehalten, der sich in die „idealistische Tradition des Existentialismus“ einreihe (S. 135). Vor allem die Zuordnung zu „moralpsychologische[n] Kategorien“ verwässert den Herrschaftsbegriff, das „entpersonalisierte Kapitalverhältnis“ (S. 133) ist so nicht in den Griff zu kriegen. Rawls‘ Idee einer gerechten Gesellschaft versucht sich hingegen „mit den empirischen gesellschaftlichen Verhältnissen zu vermitteln“ (S. 138). Eines der Hauptprobleme des Rawlsschen Verfahrens sei, dass es „schon voraussetzt, was es herleiten will“ (S. 142), was Kistner eingehend und kritisch darzustellen versteht (vgl. S. 138ff).
Diskussion
„So, wie das Menschenfressen vorbei ist, so wird es mit dem Kapitalismus vorbei sein“ (Louise Michel). Politisch pointiert, spricht diese längst vergessene Kommunardin etwas aus, das höchst vertrackt und voraussetzungsvoll ist, aber in dieser Knappheit einen historischen Gehalt aufweist, der nicht so einfach von der Hand zu weisen ist. Hier äußert sich nicht etwa ein naiv-utopischer Gedanke, der leichtfertig oder dogmatisch die Abschaffung des Kapitalismus kundtut, sondern eine konkrete geschichtliche Erfahrung, die sich fest eingeschrieben hatte in eine klassenkampferprobte Subjektivität. In dieser aufgehoben war das perspektivische Aufkeimen einer anderen Gesellschaftsordnung als auch die fürchterliche Brutalität des Mordens seitens der Versailler Truppen. Für viele Rezipienten war die Pariser Kommune daher nicht nur der mutige Versuch, unter schwierigen historischen Umständen zu einem höheren Grad politischer und wirtschaftlicher Autonomie zu gelangen, woraus am Ende vielleicht mehr hätte werden können als alter Wein in neuen Schläuchen (wir wissen es nicht). Worum wir allerdings haargenau in Kenntnis gesetzt sind: Ihr Abschlachten sendete zugleich eine unmissverständliche Warnung aus an all diejenigen, die sich im Ernst um eine andere Organisation jenseits kapitalistischer Herrschaft bemühen wollten. Diese Mahnung, unzählige Male sich wiederholend im Kleinscheinenden, das weniger Furore macht, aber dadurch nicht weniger jenen intelligiblen Charakter „ramponiert“ (Ruschig), hat sich tief in die kapitalistisch vermittelte Triebstruktur eingeschliffen. Das zeitigt Konsequenzen. Man möchte meinen, die Integrationskraft des Kapitalverhältnisses erhält dadurch zusätzliches Gewicht, das am Abbinden „empirischen Klassenbewusstseins“ (S. 15) unheilvollen Anteil hat. Soviel sich lernen lässt aus dem vergangenen Scheitern freiheitlicher Bestrebungen, um bestenfalls strategische Fehler in künftigen Klassenkämpfen zu vermeiden, so sehr schleifen sich Melancholie, Depressivität sowie Zynismen oder anachronistische Winkelzüge ein angesichts der eigenen Verohnmächtigung und den vielen namenlosen Opfern bisheriger kapitalistischer Geschichtsschreibung. Alfred Seidel wird diese hartnäckige Redundanz mitbedacht haben, wenn er über das „Bewusstsein als Verhängnis“ schrieb.
Wir wollen den geschichtsphilosophischen Bogen nicht überstrapazieren. Aber auch über diese Achse drückt sich Herrschaft aus. Hingewiesen sei darauf, dass mit der repressiven Ordnung mitunter historische Erfahrungszusammenhänge derangiert, am Ende zerrissen und vereinzelnd werden. Dies findet bisweilen statt in der dann doch unmittelbaren Gewalt einer allzu oft sich militarisierenden oder autoritären Gesellschaft. Dort zeigt sich der Kapitalismus dann weniger anonym als sonst. Das geht zu Lasten des o. g. empirischen Klassenbewusstseins, emanzipatorischer Solidarität überhaupt. Selbst ein Autor wie Max Weber fühlt sich schließlich in der Schlussphase des Ersten Weltkriegs genötigt, auf die „vergängliche Ungebundenheit“ der Soldaten (durch Kriegslöhne) hinzuweisen sowie ein verlorenes „Solidaritätsgefühl“ (durch Militarisierung) anzuprangern. Noch im selben Satz wird jenes Gefühl der Solidarität dann amalgamiert mit der Klage darüber, dem Krieger sei „jede Brauchbarkeit und Anpassungsfähigkeit an den geordneten wirtschaftlichen Kampf aberzogen“ (vgl. „Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland“). Verdächtig klingt der Begriff „aberzogen“. Was aberzogen wurde, soll wieder anerzogen werden, Neues, die Klassenverhältnisse Transzendierendes darf unter keinen Umständen sich ausbilden. Wie ein behäbiger Güterwagon bewegt sich Geschichte bloß noch vor oder zurück. Inmitten kriegsbedingter Desintegration packt kapitalistische Integration zu, ein herrschaftsordnendes Nachfassen, wofür Weber ihr scharfsinnigster Exponent ist. Noch in den letzten Kriegsmonaten drückt sich in ihm die Angst aus, Gewerkschaften und Sozialdemokratie wären möglicherweise nicht mehr imstande, die lauernde Gefahr der „irrationalen Straßenherrschaft“ wie einst korporativ einzuhegen. Spießbürgerlicher Ordnungsfilz, der auf Massendisziplin pocht, um der demokratischen Nachkriegsordnung willen? Mehr noch meldet sich an. Es ist sicherlich nicht zu weit hergeholt, wenn man davon ausgeht, dass sich in dieser Weberschen Sorge implizit ein geschichtlicher Erfahrungsverlust ankündigt, der, durch die Schrecknisse des Krieges vermittelt, auf abgetragenes Klassenbewusstsein deutet. Dass mit diesem Regress demokratische Institutionen Schaden nehmen könnten, geht ihm nicht auf. Er vertraute stattdessen auf die „Demokratisierung des Parteibetriebes auf der Linken wie auf der Rechten“ als eine „Tatsache“, die nicht wieder zu beseitigen sei.
Weber wird in diesem Punkt bekanntlich irren. Und von diesem Irrtum aus ist der Weg nicht mehr weit gewesen zu Ernst Fraenkels Feststellung, dass die klassische Arbeiterbewegung im Jahre 1933 mit Stumpf und Stiel ausgemerzt worden sei. Die sog. Volksgemeinschaft sollte den „Klassendünkel“ beseitigen, Theorie und Praxis des Marxismus (und seine Geschichte) diskriminieren und zwar dergestalt, dass die „Politik die Aufgabe übernimmt, den ‚Feind‘ zu liefern, gegen den die Missionswürde des Proletariats abreagiert und das Rüstungsbedürfnis des Kapitalismus akkumuliert wird“. Der kapitalistische Staat dürfe nun gegen die zu Feinden Erkorenen rüsten, „Feinde, die er gegen das Zukunftshoffen seiner Arbeiterschaft auszuspielen vermag“ (vgl. „Das Dritte Reich als Doppelstaat“). Politik dekretiert Herrschaft nicht mehr bloß. Indem der ‚Marxismus‘ und seine wie auch immer gearteten historischen Träger brutal zur geschichtlichen ‚Räson‘ gebracht werden (Hitler wird sich dessen bekanntlich rühmen), ist ihnen jene Missionswürde amputiert, praktisch wie theoretisch außer Reichweite geraten. Die Wirkung dieser gewaltsamen Trennung zieht sich bis in unsere heutige Zeit hinein. Wenn Fraenkel im „Urdoppelstaat“ klagte, dass die Romantisierung der Volksgemeinschaft nicht nur die „große Lebenslüge unserer Zeit“, sondern ebenso die „Pest unseres Jahrhunderts“ (des 20ten) sei, dann findet das genau darin seine Bewandtnis.
Man wird dem Rezensenten vielleicht entgegnen, dass er an dieser Stelle über Spinnweben stolpert. Aber es gibt doch gute Gründe anzunehmen, dass die historische Tatsache vom Eliminieren der aus dem 19. Jahrhundert sich konstituierenden Arbeiterbewegung, die natürlich bereits zu Marxens Zeiten einem reformistischen Regress unterlag, nach wie vor eine ungeheuerliche Bürde bleibt. Gerade der Krieg und sein Vorlauf lassen nicht nur prospektives Klassenbewusstsein unter die Räder geraten, sondern beschädigen es womöglich auf Jahrzehnte hinaus, sodass es einzig noch als Verdrängtes unerkannt in der (von vielen Seiten) bedrängten Triebstruktur der Subjekte fortdauert. Das ist natürlich kein Determinismus. Spontane Klassensolidarität bleibt möglich und erfahrbar, wenngleich die Wege dorthin heutigentags weiter als je erscheinen mögen. Brecht musste davon noch eine Ahnung gehabt haben als er seiner „Mutter Courage“ ins Stammbuch schrieb, dass für die Bekämpfung des Krieges kein Opfer zu groß sei. Auch dies wäre in eine kritische Theorie, welche sich über kapitalistische Herrschaft (und ihre Überwindung) zu verständigen hat, mit einzupreisen.
Sich in der Desorganisation neu zu arrangieren kostet Triebenergie und Aufmerksamkeit. Doch was sich noch verweigern könnte, liegt oftmals als Kadaver in einer ausgemergelten Physiologie begraben. Hier äußert sich ein harter ökonomischer Kern, der in der „Intensifikation der Arbeit“ (Marx) gründet und auf die Produktion des relativen Mehrwerts weist. Und obwohl die Betroffenen allesamt und beruflich übergreifend im Wesentlichen die gleichen Entrückungen erleben, bleibt es schwer, sich gemeinsam des Unbestreitbaren der Mehrwertaneignung und ihrer undurchsichtigen Vermitteltheit zu erinnern. Das geht u.a. unter im Getöse um Verteilungsfragen, die im Ringen um Mittel für die Beschaffung von Rüstungsgütern (mal wieder) konjunkturelle Resonanz erfahren, aber niemals wirklich aus der Debatte verschwunden sind. Es wird u.a. Gustav Schmoller sein, der im Zuge der ‚Sozialen Frage‘ das Geraune um Ungleichheit in der Vermögens- und Einkommensverteilung prominent im politischen Diskurs als auch als Gegenstand in die frühe Sozialwissenschaft platzierte. ‚Klassenkampf‘ heißt nun nicht mehr Abschaffung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln, sondern schlichtweg staatliche Regulation. Weit vor Geigers Schichttheorie finden sich bei Schmoller bereits Äußerungen, die, wenn auch noch anfangs in metaphorischen Zungen, einem ‚Mittelstand‘ das Wort reden, der im Zuge einer Polarisierung von ‚Armut‘ und ‚Reichtum‘ unter die Räder gerate. Da geht es dann um die psychologische Wirkung der Produktionsverhältnisse auf Sitte und Verhalten, woraus Gerechtigkeitsgefühle erwachsen, denen sich – im marxistischen Kontext – Kautsky nicht andienen wollte, nur um dann die naturnotwendige Entwicklung zum Sozialismus zu beteuern, welchen er, idealistisch, auf einen anderen Verteilungsmodus des Arbeitsertrags herunterkommen ließ (vgl. „Die Vertheilung des Arbeitsertrages im sozialistischen Staate“). An Stelle des Staatszwanges werde man eben versuchen, die „Anziehungskraft der Arbeit zu setzen“. Darin drückte sich die in der Folge (und bis heute) politisch instrumentalisierte Sorge aus, niemand mehr würde im Falle des ‚Sozialismus‘ die dort ebenfalls anstehende Drecksarbeit erledigen. Kautsky machte einer Debatte Konzessionen, die sich wesentlich von einer bürgerlichen Gesellschaft nährte, die Angst vor der Chuzpe ihrer eigenen (und nicht konsequent verwirklichten) Freiheitsversprechen hatte. Doch wer sollte diese ‚Probleme‘ steuern? Der Staat natürlich. Denn ohne Zwang ging es auch bei Kautsky nicht.
Dem schloss sich Hans Kelsen prinzipiell an (vgl. „Sozialismus und Staat. Eine Untersuchung der politischen Theorie des Marxismus“). Da sich in der angepeilten ‚sozialistischen‘ Gesellschaft schließlich nicht jede zugewiesene Arbeit mit dem individuellen Bedürfnis decken könne, müsse autoritärer Zwang her. Was nicht passt muss passend gemacht, die Arbeitskraft verwertet werden, koste es, was es wolle. Kelsen sah voraus „erhebliche Differenzen“ „zwischen den von jedem einzelnen angenommenen ‚Fähigkeiten‘ und dem Bedürfnis der genossenschaftlichen Produktion“. Er konnte oder wollte sich eine neue Gesellschaftsform jenseits kapitalistischer Verhältnisse nicht vorstellen, das gab seine positivistische Haltung nicht her. Stattdessen verallgemeinert er den Widerspruch von individuellem und gesellschaftlichem Bedürfnis, macht ihn zu etwas Naturhaften und projiziert alles in eine Zukunft, die nichts als dröge Gegenwart sein möchte. Die Ökonomie wird einseitig von der politischen Sphäre aus gedacht, und damit um diese verkürzt: Ökonomie bleibt eine Verteilungsangelegenheit, die notfalls mit Gewalt durchzusetzen ist. Die Frage nach dem Eigentum an Produktionsmitteln wird unscharf und somit entpolitisiert. Dazu gesellt sich passend der nimmermüde Verweis auf den potentiellen Missbrauch „aller Springquellen des Reichtums“. Dem „Recht, sich nach seinem Bedürfnis zu befriedigen“, sind Grenzen zu setzen. Der Potenzialität des Menschen, seiner emanzipatorischen Verwirklichung ist im Ernst, und wenn es darauf ankommt, nicht zu trauen. Implizit schlägt ein Kulturpessimismus durch, dessen spröder Konservatismus sich nicht zurückhalten kann. Was Kelsen ideologiekritisch und berechtigterweise dem bürgerlichen Staat in der Sache vorwirft (s.u.), wird auf das Menschsein an sich angewandt: der ewige Tenor, wir stünden vor dem Problem einer vermeintlich festgeschriebenen Natur des Menschen. Welche Grenze da eigentlich überschritten würde sowie die gesellschaftlichen Bedingungen, worunter diese sich produziert, kann nicht klar werden, da Kelsens Begriff des Bedürfnisses – für ihn eigentlich untypisch – merkwürdig unscharf bleibt. Unverhohlen stattdessen wird mit drohendem Zeigefinger vor dem Gesicht derjenigen gefuchtelt, die sich als Ausgebeutete und in den Dreck Getretene hinauswinden wollen: man sollte es ja nicht zu bunt treiben mit dem Ruf nach Freiheit.
Freilich war der Staat (bisher) nie ohne „Politische Justiz“ zu denken. Otto Kirchheimer wird im Vorwort seines Hauptwerks anmerken, dass es dem Staatsgebilde weniger um ‚Gerechtigkeit‘ ginge als um eine „administration of justice“, die „Verwaltung gegebener Rechtsverhältnisse“ also, was Tür und Tor öffnen könne für ‚ungerechte‘ Justizpraxen, während Kelsen den Staat als eine „metarechtliche Natur“ identifiziert hatte; dieser werde zum „Zurechnungsendpunkt“, auf den sich letztlich alle Rechts- und Machtordnung vereidigt. Analog zum religiösen und fetischisierten Gottesglauben griff er bekanntlich damit das Gerechtigkeitsdogma an. Es ginge im Gerichtsprozess nicht um die Ergründung und Wahrheitsfindung darüber, warum jemand stiehlt oder mordet, sondern: „Wenn von jemanden in einem bestimmten Verfahren in letzter Instanz angenommen wird, dass er gestohlen, gemordet usw. hat, dann soll er bestraft werden. Und diesem Rechtssatz gegenüber gibt es keinen Justizirrtum, kein Staatsunrecht“ (vgl. „Gott und Staat“). Diese Faktizität, Fluch und Segen zugleich, macht eine Seite der Positivität des Rechts aus. In ihr kann „möglicher Irrtum zur Wahrheit“ werden, schlimmer noch das „theologische Dogma von der Infallibilität“ lässt sich politisch unterwandern und ideologisch nutzbar machen – der NS-Staat (und nicht nur der) eröffnete darüber einen neuen Danteschen Höllenkreis. Aus Kelsens Kritik ging hervor, dass der NS die Positivität des Rechts nicht einfach nur zerstörte, wie die wichtigen Studien von Franz Neumann nahelegen konnten. Er (der NS) bediente sich, so eine zugespitzte Lesart, jenes theologischen Kerns des Positivismus, um Unrecht als Recht erscheinen zu lassen. In autoritär angekränkelten Subjekten manifestiert sich hingegen der Wunsch, die Selbstunterwerfung mit einer Selbsterhöhung zu verbinden, sich derart selbst zu unterwerfen, sodass die anderen gleichermaßen der Autorität (nämlich der eigenen) unterworfen werden. Indem das Subjekt ‚die anderen‘ nicht über sich, sondern allenfalls (und gleichgemacht) neben sich zu dulden vermag, wird hier eine ‚Gerechtigkeit‘ wiederhergestellt, die in der Psychologie des Unterwerfungstriebs situiert. Anonym gerät die Herrschaft, da es sich, laut Kelsen, um eine nicht mehr unmittelbare, sondern mittelbare Beherrschung handelt. Allein durch meine Anerkennung der politischen Autorität gerate ich für ‚die anderen‘ selbst zu einer Autorität, sie werden unter Zugzwang gesetzt, sich unter die Fahne der Herrschaft zu beugen, die zugleich die meine ist. Psychologisch mag das eine nicht unwichtige Aufwertung sein. Das reicht allerdings nicht an die Frage heran, wie diese Unterwerfung denn nun objektiv in die Subjekte sich hineinschraubte. Die geschichtlichen wie ökonomischen Bedingungen von Herrschaft verkapseln sich zu psychologischen, untereinander agierenden Monaden und sind nur noch schwer zu durchschauen.
Etwaige ‚Schwundstufen‘ (s.o.) lassen sich vielerorts festmachen, was hinsichtlich identifizierter Affirmationstendenzen bereits in der Vergangenheit ausgiebig diskutiert wurde und weiterhin Aufgabe für heute bleiben dürfte. Man denke z.B. daran, wie sich Burkhard Tuschling minutiös an Habermas abarbeitete oder rufe sich Harald Kerber/Arnold Schmieder ins Gedächtnis, die Mitte der 90er in „Duldungsstarre des Denkens“ an den Reformulierungen von Marx durch Habermas und Gorz aufzeigten, wie der Kerngehalt der Marxschen Theorie durch „Uminterpretation“ verfehlt wurde. Wir wollen die Geduld des Lesers aber nicht weiter beanspruchen. Darum abschließend wieder zurück zu Ernst Fraenkel, der mit Blick auf ‚Gerechtigkeit‘ an anderer Stelle mit der (gar nicht so) lapidaren Frage aufwartete, was denn eine Vertragsfreiheit nütze, wenn es keine Arbeit mehr gäbe? Das bringt uns zum Gravitationspunkt der meisten Beiträge zurück. So sehr auch Verdrängung und Ohnmacht sich breitmachen, Vernunft (oder das, was sie hätte sein können, aber nicht wurde) nestelt weiterhin am geschundenen Bewusstsein, was durch ‚Gerechtigkeit‘ oder ‚Gleichheit‘ nicht einzufangen ist und auf den Begriff zu bringen wäre. Vollständige Integration, die sich bruchlos einmengte in das angesengte Triebleben, ist durch kapitalistische Herrschaft nicht zu erreichen. Allein Gründe, um in berechtigte Verzweiflung über eine Menschheit zu geraten, die ihre derzeitige Gesellschaftsform (freilich in unterschiedlichen Graduierungen) nicht abzuschütteln vermag, gibt es derzeit genug. Umso wichtiger wäre es zu einem Denken anzusetzen, das die Ausbeutung des Menschen (und der Natur) durch den Menschen auf jene Ursachenzusammenhänge zurückführte, die die Autoren dieses Bandes klug und umsichtig antizipieren – und zu denen wir hier lediglich die Andeutung einer Fußnote hinzufügen konnten.
Fazit
Insgesamt liegt mit „Herrschaft und Organisation“ ein disziplinübergreifender und in seinen Einzelbeiträgen darstellungslogisch klug durchkomponierter Band vor, der durch seine tiefschichtigen Analysen und Nuancierungen besticht. Theoretisch gehaltvoll, sind die Beiträge allesamt sehr gut lesbar, d.h. auch für diejenigen geeignet, die sich in die Materie um Herrschaftskritik im und am Kapitalismus hineinarbeiten, ihre immanenten Voraussetzungen nachdenkend verfolgen wollen.
Rezension von
Dr. phil. Kevin-Rick Doß
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Zitiervorschlag
Kevin-Rick Doß. Rezension vom 20.03.2024 zu:
Michael Städtler, Michael Heidemann (Hrsg.): Herrschaft oder Organisation. Zur politischen Form menschlicher Gesellschaft. zu KLAMPEN! Verlag
(Springe) 2024.
ISBN 978-3-98737-004-5.
Reihe: Grundlinien kritischen Denkens.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31991.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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