Sarah Schirmer: Vom Jobcenter unabhängige Sozialberatung
Rezensiert von Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf, 09.08.2024
Sarah Schirmer: Vom Jobcenter unabhängige Sozialberatung. Eine Ethnografie mit Blick auf Adressat*innen, Sozialberatung und Jobcenter.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2024.
235 Seiten.
ISBN 978-3-7799-7690-5.
D: 48,00 EUR,
A: 49,40 EUR.
Reihe: In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779972082.
Autor
Sarah Schirmer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Department Erziehungswissenschaft der Fakultät II an der Universität Siegen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind soziale Ungleichheit, Sozialpolitik, Forschung zu Stigmatisierung und Kriminalisierung sowie zu Armut.
Thema
Die Beratung im Jobcenter erfolgt im Spannungsfeld von Fordern und Fördern. Das birgt Konfliktpotenzial. Eben deshalb suchen diverse Menschen, die Leistungen des Jobcenters in Anspruch nehmen müssen, unabhängige Sozialberatungsstellen auf, wenn sie sich vom Jobcenter falsch beraten oder unfair behandelt fühlen. In einer ethnografisch angelegten Studie nimmt sich Sarah Schirmer dieser unabhängigen Sozialberatung an. Sie analysiert systematisch, wie diese abläuft, was häufige Themen sind und wo Hürden und Probleme liegen. Im Zentrum der Analyse steht die komplexe Dreiecksbeziehung von Adressat*innen, Sozialberatung und Jobcenter, aber auch die rechtlichen Grundlagen, die das Handeln im Jobcenter und in der Sozialberatung bedingen oder beeinflussen, werden aufgegriffen und ob ihrer Wirkung auf die Sozialberatung kritisch reflektiert. Die Autorin macht deutlich, warum ein vom Jobcenter unabhängiges Sozialberatungsangebot ein wichtiges Dienstleistungsangebot in unserem Sozialstaat ist. Wie dieses Angebot sich konstituiert, wird im Buch umfassend dargelegt.
Aufbau und Inhalt
Beim rezensierten Buch handelt es sich um eine an der Fakultät II der Universität Siegen angenommene Dissertation. Das Werk ist in acht Kapitel unterteilt und hat 240 Seiten. Im ersten Kapitel schildert die Autorin die Grundlagen ihres Forschungsinteresses. Sie legt dar, wie ihre Forschungsfrage lautet und wie sie diese entwickelt habe. Zudem werden begriffliche Klärungen und einleitende Bemerkungen vorgenommen. Schirmer hebt hervor, dass ihre Forschungsfrage, ob und wie Sozialberatung Adressat*innen im Umgang mit den Anforderungen des SGB II und in der Interaktion mit dem Jobcenter unterstützt würden, weit gefasst sei. Die breite Fragestellung habe es ihr ermöglicht, „offen zu sein für jegliche Interaktion, die zwischen Sozialberatung und Adressat*innen und Jobcenter und Jobcenter und Sozialberatung stattfindet“ (S. 15 f.).
Von der Entstehungsgeschichte der Fürsorge in Deutschland von den Anfängen bis zu „Hartz IV“ handelt das zweite Kapitel. Hier wird die Geschichte der staatlich organisierten Fürsorge nachgezeichnet. Im Sozialstaat seien nach dem zweiten Weltkrieg die sozialen Rechte weiter ausgebaut worden. Der Staat habe eingegriffen, um Nachfrage zu schaffen (Keynesianistische Wirtschaftspolitik). Etwas später habe der Fokus dann verstärkt auf der Weiterqualifikation zum Vorteil der Menschen gelegen, „um sich stetig weiter nach oben zu qualifizieren“ (S. 61). Mit Einführung des AFG im Jahr 1969 habe dann aber eine Perspektivänderung stattgefunden, hin zum aktiven Staat, auch wenn die Konjunktur damals gewesen sei. Ab 1998 könne man von einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik sprechen, die auszeichne, dass sich vermehrt an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes orientiert werde. Bei der Einführung der Gesetze zu den modernen Dienstleistungen am Arbeitsmarkt in den 2000ern (die sogenannten „Hartz-Reformen“) sei die Grundprämisse gewesen, dass der Staat sich zurückhalten und die Marktkräfte sowie die individuelle Eigenverantwortung gestärkt werden sollten. „Die Subjekte sollen sich für den Markt passend machen. Es wird sich nun vollends auf die ,Bedürfnisse‘ des Arbeitsmarktes konzentriert, dabei wirkt die Subjektivierung von Arbeit unterstützend“, so Schirmer (S. 62).
Diese Veränderung hin zur Verantwortung des Individuums verstelle den Blick auf strukturelle Gegebenheiten für Arbeitslosigkeit. Sie blende überindividuelle Faktoren, die Arbeitslosigkeit begünstigen oder bewirken können, aus und laste die Verantwortung allein auf den arbeitslosen Individuen ab, denen mangelnde Aktivität unterstellt werden. Neben der Überprüfung der Arbeits(un)willigkeit und -fähigkeit würden heute „mehr Eigenbemühungen erwartet, damit sich das Subjekt marktfähig macht. Dazu soll es aktiviert werden bzw. sich selbst aktivieren. […] Seit 2005 wird dabei vom Slogan Fördern und Fordern Gebrauch gemacht“ (S. 65). Auffallend sei allerdings, dass davon heute ausdifferenzierter Gebrauch gemacht werde. Die Zumutbarkeits- und Mitwirkungsregeln hätten sich verändert, etwa durch die Lockerung des Berufsschutzes, durch die Erwartung immer flexibler für einen Arbeitsplatz umzuziehen oder auch durch die Beweislastumkehr, „sodass nun eine größere Bringschuld bei den arbeitslosen Menschen liegt (Butterwegge 2015: 135). Ebenso wird die Forderung nach Eigenbemühungen immer größer, indem nun detailliert Bewerbungsbemühungen nachgewiesen werden müssen“ (S. 65).
»Soziale Arbeit im aktivierungspolitischen Diskurs und die Frage nach Bevormundung« lautet die Überschrift des dritten Kapitels. Ein Ziel Sozialer Arbeit bestehe darin, Menschen zu unterstützen und Hilfe zu leisten, damit sie an Autonomie gewinnen und die Möglichkeit eines lebenswerten Lebens hätten, schreibt die Autorin (S. 69). Dabei sei es wichtig, „dass die Adressat*innen ihre Selbstzuständigkeit nicht verlieren bzw. dass diese v.a. von professioneller Seite anerkannt wird (Thiersch 2020: 113)“ (ebd.). Kurzum stünde die Soziale Arbeit vor der Herausforderung, Adressat*innen zu unterstützen, ohne dass eine Abhängigkeit von der Unterstützungsleistung eintrete. Denn schließlich sollten die Klient*innen letztlich befähigt werden, am Ende des Hilfeprozesses wieder ohne professionelle Unterstützung selbst für sich sorgen zu können. Mit Einführung der Hartz-Reformen habe die Annahme in der Verwaltung Einzug gehalten, „Menschen dürften es sich nicht in einer ,sozialen Hängematte‘ bequem machen“ (S. 73). Daher sei der Begriff der fürsorglichen Belagerung wieder aufgegriffen worden. Das Individuum solle solange fürsorglich belagert werden, bis sich eine aktivierungspolitisch gewünschte Verhaltensänderung, v.a. durch Aufnahme einer Erwerbsarbeit, zeige. Dies gehe einher mit sanktionsbeschwertem Druck, jede zumutbare Arbeit anzunehmen.
Im vierten Kapitel, das mit »Beratung als spezielles Handlungsfeld Sozialer Arbeit und im Kontext von Arbeitslosigkeit« überschrieben ist, geht die Autorin dergestalt vor, dass sie zunächst eine definitorische Einordnung von Beratung vornimmt. Sie zeigt deren Voraussetzung und Ziele auf. Schirmer hebt hervor, dass der Beratungsbegriff uneindeutig sei, zumal diverse methodische und ideologische Unterschiede zwischen diversen Beratungsschulen-, -orten und -zielgruppen existierten. Es fände sich eine große Bandbreite an Literatur zu Beratung. Ferner sei zu bedenken, dass – neben den vielfältigen Verständnissen von Beratung – diese volatil sei, da sie sich ständig an aktuelle soziale Probleme und Auseinandersetzungen anpassen müsse. Ihre Schilderungen in diesem Kapitel beruhen Schirmer zufolge auf der Beobachtung von drei Akteur*innen in Bezug auf ALG II: Den Adressat*innen, dem Jobcenter und der (unabhängige) Sozialberatung.
Ein spezifisches Beratungssetting, welches insbesondere die Beratung im Jobcenter präge, sei der dortige Zwangskontext. Als weiteres Beispiel für Beratung unter Zwang benennt die Autorin die Schwangerschaftskonfliktberatung und die Suchtberatung, wo es ebenfalls vorkomme, „dass Menschen mit einer Suchtproblematik von außen dazu gebracht werden, eine Beratungsstelle aufzusuchen“ (S. 85). Im Jobcenter konstituiere sich Zwang zum einen durch das faktische Angewiesen-Sein darauf, dort Geld beantragen zu müssen, um wohnen und essen zu können. Insbesondere werde Beratung beim Jobcenter aber vor allem deshalb zu einer Beratung unter Zwang, da es die Möglichkeit zur Sanktionierung gäbe, schreibt die Autorin (ebd.). Die SGB-II-Leistung sei an eine Mitwirkungspflicht gebunden, wodurch das Zwangsmoment verstärkt werde. Zudem gäbe es weitere Mitwirkungspflichten, wie z.B. das Erbringen eines Nachweises von Bewerbungen oder die Teilnahme an Coachings und Bewerbungstrainings.
Das bedinge, dass die der Beratung inhärente Wissensasymmetrie im Jobcenter noch durch eine Machtasymmetrie ergänzt werde. Um eine konstruktive Beziehung aufrechtzuerhalten, bedienten sich sowohl die Jobcenter-Mitarbeitenden als auch die Adressat*innen verschiedener Strategien, über die sie versuchten, sich als „gut“ zu inszenieren. Dies sei notwendig, da den Jobcenter-Mitarbeiter*innen bewusst sei, dass das Jobcenter Misstrauen ausstrahle. Um die Interaktion am Laufen zu halten, würden Zwänge und Autorität oft verschleiert. Wie die jeweiligen Strategien von Integrationsfachkräften, damit umzugehen, aussähen, wird von der Autorin beschrieben. Schirmer hebt hervor, dass sich die Art der Beratung von Institutionen der Arbeitsverwaltung im Verlauf der letzten Jahrzehnte verändert habe, dass die Überprüfung der Arbeitswilligkeit sich über alle Jahrzehnte hinweg aber als Konstante erwiesen habe. Die Situation in Gesprächen im Jobcenter zeige sich asymmetrisch und bleibe das auch, selbst wenn Jobcenter-Mitarbeitende versuchten, das zu minimieren, um eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung zu ermöglichen (S. 106).
Was die diverse Gruppe der Adressat*innen im Jobcenter auszeichne, wird ebenfalls beschrieben. Bezugnehmend auf arbeitspsychologische Studien legt sie dar, dass verschiedene Typen von Arbeitslosen unterscheidbar seien, die sich in ihrem Auftreten und auch in der Art, wie im Jobcenter mit ihnen kommuniziert werde (und wie oft das geschehe) unterschieden. Alle Adressat*innen etablierten gewisse Handlungsstrategien, um mit den Anforderungen des SGB-II-Systems umzugehen und ihre Prekarität nicht zu verschlimmern, schreibt die Autorin, die darauf dann vertiefend eingeht (S. 111 ff.). Grundsätzlich stimmten die Adressat*innen überein, dass jede*r fähig sein sollte, ihre*seine Existenz aus eigenen Mitteln zu stemmen, schreibt die Autorin (S. 113). Auch Erwerbslose hätten die Erwerbsnorm internalisiert und seien im Gros interessiert daran, auf eine selbstbestimmte Lebensführung hinzuarbeiten.
Das sechste Kapitel ist betitelt mit »Das Herausarbeiten des Bearbeitbaren«. Darunter subsumieren lasse sich das Herausarbeiten und die dazugehörigen Strategien, mit denen die unabhängigen Sozialberater*innen versuchten, die Anliegen der Adressat*innen in Bezug auf die Erfolgsaussichten beim Jobcenter einzuordnen. Grundsätzlich sei die Selbstpositionierung der Sozialberatung in Abgrenzung und konträr zum Jobcenter zu sehen. Konstatiert werde, so erklärt es die Autorin bezugnehmend auf die Auswertung der von ihr geführten Interviews mit unabhängigen Sozialberatenden, eine Asymmetrie zwischen Jobcenter und Adressat*innen. Überdies nähmen die unabhängigen Sozialberater*innen für sich in Anspruch, qualifizierter zu sein als die Mitarbeitenden des Jobcenters und auch menschlicher als diese im Umgang mit den Adressat*innen zu sein.
Umfassend geht Schirmer im weiteren Textverlauf auf die Komplexität ein, die die Interaktion mit und das Handeln der Mitarbeitenden des Jobcenters im Umgang mit ihren Adressat*innen wie auch im Umgang mit externen Beratungsfachkräften auszeichne. Sie rekurriert auf Komplexität als Kontext und Komplexität im Umgang mit Regeln, die sich daraus ergebe, wie unterschiedliche fachliche Weisungen sowie Muss- und Kann-Vorschriften ausgelegt würden. Des Weiteren seien die Leben der Adressat*innen von hoher Komplexität geprägt, da das Leben am Existenzminimum Auswirkungen auf die Alltagsgestaltung der Adressat*innen habe (S. 165 f.). Einschätzungen der Beratungsfachkräfte, die die Erfolgsaussichten beeinflussten und mitunter unmöglich machten, ergäben sich aus dem unterschiedlich ausgeprägten Gestaltungsspielraum bei der Ausgestaltung der Regeln durch die Jobcenter-Mitarbeitenden, durch den Aushandlungsprozess zwischen Sozialberatung und Adressat*innen, durch die Involviertheit anderer Institutionen und deren Regeln sowie durch das Beratungssetting (S. 176). Was es damit auf sich hat, wird umfassend analysiert und im weiteren Textverlauf des sechsten Kapitels dargelegt.
Im siebten Kapitel legt die Autorin den Fokus auf den Adressat*innenblick der Sozialberatung, auf die Beziehung zwischen der Sozialberatung und den Adressat*innen, auf das Verhältnis von Sozialberatung und Jobcenter sowie auf die Frage nach Parteilichkeit und Mündigkeit. Zudem erfolgt ein Rekurs auf die Grundannahmen der Lebensweltorientierung, die unabhängige Sozialberater*innen an den Tag legten, um die zeitlichen und räumlichen Kontexte der Adressat*innen sowie die sozialen Zusammenhänge zu berücksichtigen, in denen sie sich befänden. Als Spezifikum hebt Schirmer die Beziehung von Sozialberatung und Adressat*innen hervor. Anders als im Jobcenter, wo ein Über-/Unterordnungsverhältnis herrsche, das bisweilen durch Druck, Nicht-Respekt, Angst und wahrgenommene Willkür geprägt sei, stünden die Adressat*innen und die Sozialberatung in einer wertschätzenden und respektvollen Beziehung zueinander, was sich in einen lebensweltorientierten Blick der Sozialberatung einfüge. Anders als im Jobcenter, wo die Prämisse „Wir steuern die Kund*innen“ herrscht, zeige sich die Sozialberatung offen dafür, das Wissen der Adressat*innen ernst zu nehmen.
Essenziel für unabhängige Sozialbereitung sei, dass sich das Hilfeverständnis der Sozialberatung anders als im Jobcenter nicht hin zu Kontrolle verschiebe. Die Sozialberatung trage die wohlfahrtsstaatlichen Logiken von Aktivierung und Subjektivierung nicht mit, da sie nicht das vom Jobcenter verfolgte und vom Gesetzgeber vorgegebene Ziel der Employability verfolge. Daher lasse sich für die untersuchte unabhängige Sozialberatung konstatieren, dass diese einerseits ihre Arbeit durch einen mächtigeren Akteur (Jobcenter) geprägt sehe, sie aber mehr Freiheiten habe. Zu guter Letzt wird seitens der Autorin nochmals die Frage aufgegriffen, welche Möglichkeiten es für eine unabhängige Sozialberatung gäbe, nicht in die „Aktivierungsfalle“ zu tappen, die im Text bereits beschrieben wurde. Eine Option für die Sozialberatung bestehe darin, eine reflektierte Beratung vorzunehmen, die sich dadurch auszeichne, dass sie sich der Aktivierungsfalle bewusst sei. Es gehe aus sozialarbeiterischer Perspektive um einen Zugewinn von Mündigkeit, zu dem unabhängige Sozialberatung beitragen wolle und könne. Dabei freilich sei diese mit diversen Hürden konfrontiert, die in der Forschungsarbeit aufgezeigt werden.
Diskussion
Was es mit einer solchen unabhängigen Beratung auf sich hat, wie diese sich konstituiert, was sie von der Beratung im Jobcenter unterscheidet und wo die Schnittstelle zur dortigen Beratung liegt, analysiert Sarah Schirmer aus sozialarbeiterischer Perspektive. Unter Zuhilfenahme der Zitation diverser Texte, die in den letzten 20 Jahren zur Arbeit des Jobcenters erschienen sind, deckt die Autorin verständlich auf, welche Probleme für Klient*innen die praktische Umsetzung des SGB II im Jobcenter mitunter mit sich bringen, was das dem SGB II inhärente Menschenbild auszeichnet und wie dieses sich in konkretem Beratungshandeln zeigt. Der deutsche Sozialstaat hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt. Er wurde vom Wellfare- zum Workfare-State. Was das bedeutet und wie sich das auf Menschen auswirkt, die Leistungen vom Jobcenter erhalten, wird im Text deutlich. Die Autorin schildert, mit welchen Problemen und Erwartungen die Menschen unabhängige Sozialberatungsstellen aufsuchen. Ebenso wird analysiert, wie die dort tätigen Menschen sich von ihrem Selbstbild her sehen, wie sie Anliegen von Klient*innen kategorisieren und welche Probleme auch sie in der Kommunikation mit dem Jobcenter haben.
Insbesondere das Machtgefälle, die evidente Nicht-Augenhöhe von Jobcenter-Klient*innen und Jobcenter-Berater*innen wird im Text ausführlich analysiert und ob ihrer Auswirkung auf persönlicher wie auch auf gesellschaftlicher Ebene reflektiert. Der aktivierungspolitische Diskurs, der im SGB II seinen rechtlichen Ausdruck findet, bewirkt, dass Beratung im Jobcenter nie ergebnisoffen erfolgen kann. Die Achtung der Autonomie der Menschen, wertschätzende Neutralität, Ganzheitlichkeit und Ergebnisoffenheit sind konzeptionell betrachtet keine Arbeitsgrundlagen im Jobcenter. Das wird bei der Lektüre von Schirmers Buch gut deutlich. Das Beratungsverständnis im Jobcenter ist, so beschreiben Kritiker*innen, mit »entfremdete Hilfe« (Kratz 2013), »hergestellter Folgsamkeit« (Grimmer 2018) und »individuell verantworteter Unzulänglichkeit« (Chassé 2017) beschreibbar. Daher ist es wenig verwunderlich, dass manche Sozialwissenschaftler*innen heute von einer um sich greifenden »Angst im Sozialstaat« (Betzelt & Bode 2017) sprechen. Diese Angst sei, so die Proklamation, im Jobcenter allgegenwärtig. Dafür gäbe es viele Gründe. Fehlkommunikationen, Enttäuschungen und falsche Erwartungen zum Beispiel. Dass Menschen, die Leistungen nach dem SGB II erhalten, im Jobcenter Kund*innen genannt werden, obwohl kaum ein*e Kund*in den Ausdruck als passend erachtet, spielt sicher auch eine Rolle dabei.
Eine Rolle spielt zudem, dass das Jobcenter als Ort für viele der Leistungsbeziehenden ein undurchschaubarer Ort ist und dass diese es mitunter als Glücksspiel erachten, ob sie an eine verständige IFK geraten, die sich um einen konstruktiven Austausch und nachhaltige Hilfe zwecks in Integration in Arbeit bemüht, oder an eine*n Berater*in, der vom eigenen Ermessen und Handlungsspielraum zugunsten der Klient*innen wenig Gebrauch macht, von oben herab mit den Menschen redet und das Erfüllen von Kennzahlen wie z.B. Maßnahme-Zuweisungen wichtiger nimmt als eine nachhaltige Unterstützung, die in dauerhafter Arbeit mündet. Die Menschen, die im Jobcenter beraten werden, haben oft multiple Vermittlungshemmnisse. Ca. 60 % von ihnen sind laut Angaben der BA gering qualifiziert. Viele haben neben Arbeitslosigkeit zu kämpfen mit privaten Probleme, Überschuldung, Gewalterfahrungen, Zwangsräumung oder Drogenkonsum. Hinzu kommt, dass auch psychische Erkrankungen eng mit Arbeitslosigkeit korreliert sind. Krankenkassendaten indizieren, dass Langzeitarbeitslose häufiger psychische Auffälligkeiten mit Krankheitswert aufweisen als der Rest der Bevölkerung.
Unabhängige Sozialberatungsstellen können sich dieser Menschen weit besser als Jobcenter annehmen, weil die unabhängigen Beratungsfachkräfte in Sachen Gesprächsführung häufig gut geschult sind, weil kein Machtungleichgewicht herrscht und weil die Beratenden hier – anders als die IFK im Jobcenter – wirklich ergebnisoffen beraten können. Anders als die Mitarbeitenden des Jobcenters haben sie keine Kennzahlen, an denen sie ihr Beratungshandeln ausrichten sollen. Der Druck, den Klient*innen des Jobcenters im Jobcenter so manches Mal spüren, herrscht in der unabhängigen Beratung nicht. Der Rapport gelingt hier in aller Regel besser. Das freilich ist keine Selbstverständlichkeit. Es bedarf auch in der unabhängigen Sozialberatung einer hohen fachlichen und kommunikativen Kompetenz. Um all den Klient*innen mit ihren unterschiedlichen Problemen, Erwartungen, Vorstellungen und auch Ressourcen gerecht werden zu können, müssen die unabhängigen Sozialberater*innen achtsam und sensibel agieren. Sie müssen interkulturelle Kompetenz mitbringen und rechtskundig sein, um adäquat herauszuarbeiten, was an Anliegen von Klient*innen bearbeitbar ist. Auch das wir in Schirmers Buch klar.
Was die Formalia anbelangt, handelt es sich um eine typische Dissertationsschrift. Es ist daher kaum verwunderlich, dass das Buch in einem für Nicht-Wissenschaftler*innen eventuell nicht immer ganz leicht lesbaren Schreibstil verfasst wurde. Der Text enthält diverse Fußzeilen und viele Literaturangaben, wie es sich für eine Forschungsarbeit gehört. Das Buch richtet sich damit am ehesten an Sozialwissenschaftler*innen und Studierende der Sozialen Arbeit oder der Sozialwissenschaften. Es richtet sich weniger an Fachpraktiker*innen aus Jobcentern oder aus unabhängigen Sozialberatungsstellen. Das Werk ist eindeutig ein Fachbuch und kein Ratgeber. Wer sich konkrete Tipps zur (Sozial-)Beratung erhofft, dürften bei der Lektüre kaum auf seine*ihre Kosten kommen. Wer so etwas sucht, wird mit »Gesprächsführung im Jobcenter: Die Kunst, wirksam zu beraten und gesund zu bleiben«(2015) von Jörg Heidig et al., mit »Wie kann ich Ihnen helfen, mich wieder loszuwerden?« (2007) von Marie L. Conen & Gianfranco Cecchin oder mit »Beratung ohne Ratschlag« (2002) von Sonja Radatz deutlich besser fahren.
Wer sich indes für ethnographische Forschung im Feld der Sozialpolitik, für arbeits- und sozialwissenschaftlich fundierte Analysen nicht nur der eigentlichen Interaktionsprozesse in der Sozialberatung, sondern auch für eine Analyse der gesellschaftlichen und rechtlichen Gegebenheiten interessiert, die den Rahmen eben dieser Beratung setzen, kommt in Schirmers Buch auf seine*ihre Kosten. In Folge dessen, dass bisher nur wenig Fachliteratur zu unabhängiger Sozialberatung im Rechtskreis des SGB II existiert, bereichert das Werk den Fachdiskurs.
Fazit
Über das Beratungshandeln im Jobcenter wurden in den letzten 15 Jahren diverse Bücher und zahlreiche Fachaufsätze verfasst. Die Beratung durch unabhängige Sozialberatungsstellen, die zu Themenkomplexen u.a. im Kontext des SGB II beraten, steht dagegen bisher kaum im Fokus der sozialwissenschaftlichen Forschung. Hier eine Forschungslücke geschlossen zu haben, ist ein Verdienst der Autorin.
Rezension von
Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf
Sozialwissenschaftler, Diplom-Sozialarbeiter/-pädagoge (FH), Sozial- und Organisationspädagoge M. A., Case Management-Ausbilder (DGCC), Systemischer Berater (DGSF), zertifizierter Mediator, lehrt Soziale Arbeit und Integrationsmanagement an der Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) in Mannheim.
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Zitiervorschlag
Christian Philipp Nixdorf. Rezension vom 09.08.2024 zu:
Sarah Schirmer: Vom Jobcenter unabhängige Sozialberatung. Eine Ethnografie mit Blick auf Adressat*innen, Sozialberatung und Jobcenter. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2024.
ISBN 978-3-7799-7690-5.
Reihe: In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779972082.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31997.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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