Maike Wagenaar: Das Frauen- und Mutterbild im Nationalsozialismus und seine Auswirkungen bis heute
Rezensiert von Prof. Dr. Volker Jörn Walpuski, 11.09.2024
Maike Wagenaar: Das Frauen- und Mutterbild im Nationalsozialismus und seine Auswirkungen bis heute. Eine sozialpsychologische Untersuchung zu unbewussten Übernahmen. Budrich Academic Press GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2023. 287 Seiten. ISBN 978-3-96665-076-2. D: 38,90 EUR, A: 40,00 EUR.
Thema
Die qualitative Studie untersucht anhand von Gruppendiskussionen die unbewusste Weitergabe nationalsozialistischer Frauen- und Mutterbilder über Generationen hinweg bis heute und unabhängig von familiären Zusammenhängen.
Autorin
Maike Wagenaar ist Professorin für Gesundheitsbezogene Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Sozialpsychiatrie und Suchthilfe an der Hochschule Hannover. Zuvor war die Sozialarbeiterin dort bereits Lehrkraft für besondere Aufgaben.
Entstehungshintergrund
Die Gruppendiskussionen als empirische Grundlage der Studie wurden im ländlichen Raum Nordwestdeutschlands im Landkreis Aurich (Ostfriesland) durchgeführt. Mit der vorliegenden Publikation wurde Wagenaar 2022 an der Leibniz Universität Hannover von der Sozialpsychologin und Gruppenanalytikerin Angela Moré promoviert.
Aufbau
Die qualitative Studie von 287 Seiten ist in acht Kapitel untergliedert. Nach der Einleitung führt die Autorin im zweiten Kapitel in die psychoanalytischen Grundlagen sowie Begriffsklärungen ein. Im dritten Kapitel rekonstruiert sie die historische Entwicklung des Frauen- und Mutterbildes und im vierten Kapitel das Männer- und Vaterbild jeweils vor, während und nach dem Nationalsozialismus. Das fünfte Kapitel stellt den Forschungsansatz in seiner Methode sowie dem Vorgehen dar. Im sechsten Kapitel werden die Ergebnisse aus fünf Gruppendiskussionen und ihrer tiefenhermeneutischen Auswertung präsentiert. Das siebte Kapitel dient dem Abgleich mit der vorhandenen Literatur. Ein kurzes Resümee mit Literaturverzeichnis schließt als achtes Kapitel die Arbeit ab.
Inhalt
„Was macht Sie zu der Frau, die Sie heute sind?“ (S. 8), ist die Frage, die die Autorin in Gruppendiskussionen vor dem Hintergrund stellte, dass zwar transgenerationale Weitergaben im Kontext der NS-Zeit bereits vielfach erforscht wurden, bisher jedoch die „Frage, inwiefern der Nationalsozialismus einen Einfluss auf das Frauen- und Mutterbild der Nachkriegszeit bis heute hat“ (S. 9), noch nicht bearbeitet wurde. Dabei war die Frau als Mutter zentrales Element der NS-Ideologien, es entstand ein regelrechter ‚Mutterkult‘. Aber hat sich diese Ideologie nach dem Ende des NS-Regimes bis in die heutige Enkel- und Urenkelgeneration weitergetragen? Fragen wie diese lassen sich kaum direkt erheben, noch viel mehr, weil es um die Erforschung unbewusster Übernahmen im Sinne der Psychoanalyse geht. Dabei musste die Autorin auch einen Umgang mit der Dichotomie der Zweigeschlechtlichkeit finden, insbesondere in den historischen Kontexten, in denen die genutzten Kategorisierungen noch nicht als Konstruktionen gesehen und – wie inzwischen – erweitert werden.
Im zweiten Kapitel führt Wagenaar unter Aufnahme vorliegender Forschung in Begriffe ein, die sie ihrer Arbeit zugrunde legt. Zunächst betrifft dies die Einführung in die psychoanalytischen Grundlagen (S. 11–15), insbesondere in das Konzept von Inkorporation, Introjektion und Identifikation, das sie als Ausgangspunkt ihrer Forschung nimmt. Anschließend konkretisiert sie den Generationenbegriff, insbesondere in Hinblick auf unterschiedliche Verständnisse von Kriegskinder- und Kriegsenkelgeneration im Diskurs, und führt ihn mit dem zuvor dargestellten, psychoanalytischen Konzept der Introjektion zusammen zu einem Verständnis von Transgenerationalität (S. 16–25). Dafür ist die Begriffsklärung von Schuld und Schuldgefühlen sowie dem Umgang damit in der Nachkriegszeit hilfreich und relevant (S. 26–32). Deutlich wird, dass Schweigen sowohl im als auch nach dem Nationalsozialismus ein „aktiver Akt des Nicht-Sagens“ (S. 33) war, der bis heute in Form unbewältigter Vergangenheiten nachwirkt (S. 33–38). Mit einem Abschnitt zu Traumata (S. 38–51), in dem insbesondere die Themenkomplexe Vertreibung und Flucht sowie sexualisierte Gewalt im Kontext des Krieges bearbeitet werden, schließt das Kapitel.
Das dritte Kapitel bearbeitet zentrale Aspekte des Frauen- und Mutterbildes in Deutschland beginnend im 18. Jahrhundert (S. 53–99). Es nimmt sowohl soziokulturelle wie auch psychoanalytische Perspektiven in den Blick und betont vor allem grundlegende Aspekte. Verdeutlicht werden Kontinuitäten beispielsweise in Hinblick auf Rasseideologien und Eugenik, die deutlich vor der NS-Zeit beginnen und sich durch diese bis in die Bundesrepublik fortsetzen. Dabei wird für die NS-Zeit unterschieden zwischen dem postulierten Ideal von „Frausein und Mutterschaft“ (S. 69–74) und den davon abweichenden ‚realen Lebenssituationen von Frauen und Müttern‘ (S. 74–77). Diese Spur wird anschließend weiterverfolgt, wenn „übernommene Anteile aus der NS-Zeit“ (S. 78–83) herausgearbeitet und in den Kontext von Studierendenprotesten der 1968er und die sich herausbildende zweite Frauenbewegung gestellt werden. Als wichtige Bezugstheorien werden hier zusätzlich zur Psychoanalyse die Bindungstheorie nach John Bowlby und die Arbeiten Judith Butlers eingeführt. Das Kapitel schließt mit dem weiterhin aktuellen gesellschaftlichen Diskurs über Geschlechterunterschiede, der sich in aktuellen Parteiprogrammen widerspiegelt und wie darin – im Fall der AfD – NS-Konzepte wie das Ehestandsdarlehen reproduziert werden.
In Kapitel 4 wird das „Männer- und Vaterbild“ theoretisch fundiert (S. 101–115), weil es mit dem Frauenbild zum Teil diametral korrespondiert. Deutlich wird in der historischen Perspektive, wie Militarismus und Kriege Väter- und Männlichkeit in den vergangenen zwei Jahrhunderten beeinflussten und welche Aus- und Wechselwirkungen dies auf das Frauen- und Mutterbild hatte. Besonders herausgestellt wird dabei der Widerspruch zwischen starken, kämpferischen, überlegenen Männern, die dennoch zwei Weltkriege in Folge verloren und dadurch in ihrem Selbst- und Fremdbild depotenziert wurden.
Nach der theoretischen Fundierung stellt das fünfte Kapitel (S. 117–138) das Forschungsvorhaben in seiner methodischen Planung und Umsetzung mit Gruppendiskussionen in Generationsgruppen und deren tiefenhermeneutischen Auswertung dar.
Das sechste Kapitel (S. 139–236) ist das umfangreichste Kapitel, das detailliert die tiefenhermeneutischen Auswertungen der fünf durchgeführten Gruppendiskussionen präsentiert und immer wieder empirisches Material einfließen lässt. Es ist nach den gebildeten Generationsgruppen gegliedert, so dass die Lektüre den chronologischen Entwicklungen von den ältesten Jahrgängen (1933–1955, zwei Gruppen, S. 140–155 und 156–173) und ihren Übernahmen und Weitergaben über die mittleren Jahrgänge (1956–1977, zwei Gruppen, S. 174–192 und 193–210) hin zu den jüngsten Jahrgängen (1978–1999, eine Gruppe, S. 210–223) folgt. Eine beispielhafte Darstellung der tiefenhermeneutischen Auswertung (S. 224–235) schließt daran an, bevor eine Verifizierung der Ergebnisse erfolgt (S. 235–236). Inhaltlich werden in der ältesten Generation Themenkomplexe wie Bildung, Leistung und Erwerbsarbeit, Heimat, Flucht und Vertreibung, das Verhältnis zu Männern, negative innere Objekte und Schuldgefühle sowie der Nationalsozialismus angesprochen und in der Thematisierung Übernahmen von der Elterngeneration sichtbar. In der folgenden Kohorte werden Gehorsam, Anpassung und Unterordnung, Partnerwahl und Kinderwunsch, Einstellung zum Nationalsozialismus in den Herkunftsfamilien, Männer- und Frauenrollen angesprochen. Die jüngste Kohorte spricht unter anderem über die eigene Rollenerwartung als Mutter und damit die zugrundeliegenden Frauen- und Mütterbilder sowie das Verschweigen der NS-Geschichte innerhalb der Herkunftsfamilie. Anschließend verdeutlicht die Autorin anhand zweier Textstellen exemplarisch den tiefenhermeneutischen Auswertungsprozess (S. 224–235).
In Kapitel 7 (S. 237–262) gleicht die Autorin ihre Befunde mit der Literatur ab und fokussiert ihre Forschung auf fünf Themenkomplexe. Sie identifiziert „Schuld und Schuldgefühle als Einflussfaktoren auf den Umgang mit dem Erbe des Nationalsozialismus“ und stellt fest, dass in den Gruppendiskussion keine Schamgefühle angesprochen und tendenziell die Männer als für den Krieg und seine Folgen schuldig wahrgenommen werden (S. 237–241). Neben der Schuld, an den Gräueln des Nationalsozialismus beteiligt gewesen zu sein, kommt ein Schuldgefühl bei Frauen und Müttern hinzu, keine gute Mutter zu sein. Diese Schuldgefühle erfahren über die Generationen hinweg Abwehr (Verdrängung, Verleugnung). Diese Abwehr steht in Verbindung mit dem zweiten Komplex, den die Autorin mit „Schweigen als unbewusste Übernahme“ zusammenfasst (S. 241–246). War es im NS-Regime überlebensnotwendig zu schweigen, wurde das Geschehen dieser Zeit unmittelbar danach tabuisiert und weiterhin geschwiegen. Zwar kann allgemein über die Gräuel des NS-Regimes gesprochen werden, aber der Bezug zur eigenen Familiengeschichte ist (durch Schweigen) abzuwehren, damit die Vorfahren weiter idealisiert werden können. So bleibt das Geschehen im Nationalsozialismus weiterhin unbewältigt in Hinblick auf das persönliche Umfeld und wirkt „als teils traumatisch verschwiegenes weiter fort“ (S. 246). Daraus resultiert auch „Der Einfluss von Traumata auf das Frauen- und Mutterbild“ (S. 246–252), denn in den Gruppendiskussionen wird immer wieder die unbewusste Übertragung erfahrener (sexualisierter) Gewalt – auch aus Flucht, Vertreibung und Nicht-Zugehörigkeit am neuen Wohnort – deutlich. In der Folge entwickeln die Frauen ein Bewusstsein, auf sich selbst gestellt zu sein „und nur in der Selbstverantwortung einigermaßen schadlos durchs Leben kommen zu können“ (S. 252). Auch „Das Männer- und Vaterbild als Einflussgröße auf das Frauen- und Mutterbild“ (S. 252–255) identifiziert die Autorin als wichtigen Themenkomplex, der sich durch die Generationen zieht. In den Augen der Frauen erscheinen Männer tendenziell als Verlierer, Krüppel und allgemein defizitär. Frauen übernehmen Care- und zum Teil auch Erwerbsarbeit, sie sorgen für sich und die Familie. Gleichwohl ist auch das Ideal des starken, beschützenden Mannes weiterhin erkennbar (S. 256) und führt zu Diskrepanzen zwischen Ideal und erlebter Realität. Insgesamt lassen sich so viele „Unbewusste Übernahmen in Bezug auf das Frauen- und Mutterbild“ (S. 255–262) aufzeigen, wodurch sich auch junge Frauen weiterhin mit durch das NS-Regime und Krieg bedingten Fragestellungen auseinandersetzen müssen, ohne die ursprünglichen Anlässe für die Fragestellungen überhaupt zu kennen.
Ein kurzes Resümee (S. 263–268) schließt die Arbeit als achtes Kapitel ab. Darin fokussiert die Autorin das Allzuständigkeitsgefühl der Frauen, also sowohl für Mutterschaft, Care-Tätigkeit als auch Erwerbsarbeit zuständig zu sein bzw. diese notfalls selbst übernehmen zu können, um unabhängig von Männern sein zu können. Darin erkennt die Autorin letztlich eine permanente Überforderung und unerfüllbare Erwartung. Zudem erkennt sie in der „narzisstische[n] Erhöhung des Mannes bei gleichzeitigen Überlegenheitsgefühlen der Frau“ (S. 266) eine „Stagnation der Emanzipation. So erfolgt eine Zementierung der Rollenmuster“ (ib.). Deshalb sei eine Reflexion des „transgenerationale[n] Erbe[s] in Bezug auf das Frauen- und Mutterbild in Relation mit dem Männer- und Väterbild“ (S. 266 f.) notwendig, damit das NS-Erbe nicht im Verborgenen weiter wirkt.
Diskussion
Der Ansatz der Autorin, unbewusste Übernahmen über mehr als eine Generation hinweg nachzuspüren, verdient Beachtung – wie auch Schlüter (2024) und Hörtner (2024) urteilen. Er verdeutlicht, dass die Wirkung beispielsweise von Traumata oder normativen Vorgaben deutlich länger anhält als nur bis in die nächste Generation. Für die Geschlechterforschung ist dies ein wichtiger Beitrag, weil er Erklärungsansätze für gegenwärtige Diskurse bietet.
Die Arbeit lese ich in der Einteilung der Autorin als Angehöriger der Mittleren Generation mit einer Familiengeschichte voller Tod, Flucht und Vertreibung. In meiner Kindheit begegnete ich – Jahrzehnte nach der NS-Zeit – wiederholt der Parole: „Hart gegen sich selbst, grausam gegen andere“ (vgl. Hasold 1940: 19; Herz 1963: 133; Morgner 1983: 110), in dem sich auch Haarer’sche Kindererziehung spiegelt (e. g. Haarer 1936: 158), aber mehr noch eine männliche Vorbereitung auf Krieg. Die Erzählungen der Frauen rühren mich stellenweise aus persönlicher Betroffenheit an und bringen Erinnerungen an längst Verstorbene und ihre Erzählungen und mehr noch ihr Schweigen hervor. Kurz gesagt: Auch ich als Leser bin in unbewusste Übernahmen und Delegationen involviert und lese die Arbeit mit dieser Prägung!
Eine solche Reflexion über eigene Verstrickungen hätte ich von der Autorin in der sonst methodisch sehr gut begründeten Arbeit erwartet, auch in Hinblick auf das Forschungsinteresse. Denn das Forschungskonzept ist aufwändig und enthält viele Reflexionsschleifen zur Interpretation und Bestätigung der Ergebnisse in Kontroll-Interpretationsgruppen. Aber es fehlt die Klärung des eigenen Standpunkts und der damit verbundenen Perspektive. Standpunkt und Perspektive ermöglichen Zugänge, lassen aber auch Verzerrungen entstehen – als Frau, als Tochter und Enkelin, als Ostfriesin, als Teil einer Familiengeschichte, die bis in die Zeit des Nationalsozialismus reicht. Die Autorin hält sich hier leider – ohne methodische Begründung – vollkommen abstinent und wird lediglich in ihrer Rolle als Moderatorin der Gruppendiskussionen als Person sichtbar, wenn sie ihre Gedanken über mögliche Interventionen reflektiert. Dass eine solche Reflexion Not getan hätte, wird in Fußnote 106 (S. 141) deutlich, als die Autorin in der Anmoderation der ersten Gruppendiskussion in den Personalpronomen zwischen „Sie“ als Anrede und dem sie selbst einschließenden „uns“ wechselt. Dies allein mit dem Zwiespalt zwischen abstinenter Distanz und dem Wunsch, eine gelingende Gesprächsatmosphäre zu schaffen, zu erklären, scheint unterkomplex.
Die theoretischen Kapitel sind stark verdichtet, teilweise schon fast stakkatoartig, verschaffen dadurch aber eine fundierte und breite Grundlegung für den empirischen Teil. Sehr gut gelingt die Differenzierung von und Sensibilität für Geschlechterverhältnisse. Im gesamten Kapitel 6 ist viel empirisches Material in Form von Transkripten der Gruppendiskussionen eingebracht, so dass die Herleitungen transparent nachvollziehbar und belegt sind.
Persönlich überrascht mich in den Erzählungen der Frauen das Unwissen über die NS-Zeit, das aufgrund medialer Präsenz als auch Verankerung in den schulischen Lehrplänen umfassender sein sollte. Dass es das nicht ist, unterstreicht die Befunde der Autorin in Bezug auf Schweigen und Verdrängen.
Unter der Perspektive der Transgenerationalität muss die Untersuchung angelegt sein, wie sie durchgeführt wurde. Manche Aussagen in den Gruppendiskussion sind möglicherweise aber auch durch das jeweilige Lebensalter bedingt: Ältere Frauen und Mütter schauen anders auf ihr Leben zurück als junge Frauen, die (noch) keine Kinder haben. Manche Sichtweisen, Einschätzungen und Fragestellungen verändern sich nicht nur mit der Zeit, sondern auch mit der Lebensphase. Interessant wäre es also, die Studie längsschnittartig noch einmal durchzuführen, wenn die jüngeren Frauen jeweils eine bzw. zwei Generationen weiter gealtert sind.
Auch der manifest gewordene Binnenmigrationsperspektive insbesondere vor dem Hintergrund, mit dem die Wahl des Landkreises Aurich als Forschungsort begründet wird (hohe Kontinuität in der Bevölkerung, seinerzeit hohe Zustimmung zur NSDAP, …; s. S. 122–127), wird von der Autorin wenig Raum gegeben. Nur partiell wird sie mit Flucht und Vertreibung in Verbindung gebracht. Aber wenn Frau Ahrends Vokabeln wie „gell“ (S. 195) oder Frau Dietel „Schmarren“ (S. 208) nutzt – für Ostfriesland ein äußerst ungewöhnlicher Wortschatz – deutet dies auf eine Primärsozialisation fern der ostfriesischen Landschaften hin. Bei Frau Ebert (S. 194) wird die Vertreibungsgeschichte sichtbar, bei Frau Achter die Vertreibung der Mutter aus Schlesien (S. 231 f.), anderswo die Fluchtgeschichte aus Pommern oder der niederländische Vater von Frau Dries (S. 151). Vielleicht verhinderte die Anonymisierung die Darstellung der Biographien der Diskussionsteilnehmerinnen, vielleicht wurden sie nicht erhoben. Hier wären jedoch weitere Erkenntnisse möglich gewesen, und die These der relativ stabilen Bevölkerung mit hoher Zustimmung zum Nationalsozialismus wäre mindestens zu prüfen. Zudem wählt Ostfriesland seit Jahrzehnten mehrheitlich sozialdemokratisch; dies gilt insbesondere für den Bundestagswahlkreis Aurich-Emden, der seit 1949 mehrheitlich und durchgängig sozialdemokratisch wählt. Nahezu ähnlich stabil gilt dies für den Nachbarwahlkreis Friesland-Wilhelmshaven-Wittmund.
Dass in den Gruppendiskussionen und der Arbeit immer wieder auf das Männer- und Väterbild rekurriert wird, verdeutlicht die dort existierende Forschungslücke. Als Desiderat entsteht eine Untersuchung der männlichen transgenerationalen Delegationen und Übernahmen, denn eine solche könnte die vorgelegte, sehr lesenwerte weibliche Sicht ergänzen und bestätigen und damit die Reflexion befördern.
Die Autorin beleuchtet mit Schweigen, Schuld und Schuldgefühlen sowie Traumata transgenerational das Frauen- und Mütterbild in seinen Übernahmen und Delegationen aus dem Nationalsozialismus. Interessanterweise findet sie dabei auch viel über das Männer- und Väterbild. Sie liefert mit ihrer Beschreibung eines Allzuständigkeitsgefühls der Frauen einen Erklärungsansatz mit langen Wurzeln für permanente Überforderung und unerfüllbare Erwartungen. Zudem erkennt sie in der „narzisstische[n] Erhöhung des Mannes bei gleichzeitigen Überlegenheitsgefühlen der Frau“ (S. 266) eine „Stagnation der Emanzipation“ (ib.), die Rollenmuster zementiert. Deshalb sei eine Reflexion des „transgenerationale[n] Erbe[s] in Bezug auf das Frauen- und Mutterbild in Relation mit dem Männer- und Väterbild“ (S. 266 f.) notwendig, damit das Erbe nicht im Verborgenen weiter wirkt. Die Autorin leistet einen sehr lesenswerten Beitrag für diese Reflexion und Bewusstmachung.
Fazit
Maike Wagenaar legt mit ihrer umfangreichen qualitativen Studie einen sehr lesenswerten tiefenhermeneutischen Diskursbeitrag zur unbewussten Weitergabe nationalsozialistischer Frauen- und Mutterbilder über Generationen hinweg vor und regt damit überzeugend an, verborgen wirkendes NS-Gedankengut im Frauen-/Mütter- aber auch Männer-/Väterbild zu reflektieren.
Literatur
Haarer, Johanna (1936 [1934]): Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, München: Lehmanns.
Hasold, Hans (1940): Ibn Saud – ein unbekannter Staatsmann, in: Wille und Macht. Führerorgan der nationalsozialistischen Jugend 8 (17), S. 17–20.
Herz, Peter (1963): „Volkspolizisten“ an der „Grenzen“, in: Zwischen Elbe und Oder: Mitteldeutschland im westdeutschen Rundfunkprogramm (1960–1963) (Gesamtdeutsches Bewußtsein 11), Leer: Rautenberg, S. 132–142.
Hörtner, Maria (2024): Prägungen bis heute. Rezension vom 18.6.2024, in: https://weiberdiwan.at/praegungen-bis-heute (letzter Zugriff: 26.6.2024)
Morgner, Irmtraud (1983): Amanda. Ein Hexenroman, Berlin: Aufbau.
Schlüter, Anne (2024): Maike Wagenaar, 2023: Das Frauen- und Mutterbild im Nationalsozialismus und seine Auswirkungen bis heute. Eine sozialpsychologische Untersuchung zu unbewussten Übernahmen. Opladen: Budrich Academic Press. In: Gender 16 (2), S. 162–164. DOI: 10.3224/gender.v16i2.13.
Rezension von
Prof. Dr. Volker Jörn Walpuski
Prof. Dr. phil., Professur für Supervision und Coaching an der Evangelischen Hochschule Freiburg sowie freiberuflicher Supervisor und Coach (DGSv), Mediator (BM) und Organisationsberater.
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Zitiervorschlag
Volker Jörn Walpuski. Rezension vom 11.09.2024 zu:
Maike Wagenaar: Das Frauen- und Mutterbild im Nationalsozialismus und seine Auswirkungen bis heute. Eine sozialpsychologische Untersuchung zu unbewussten Übernahmen. Budrich Academic Press GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2023.
ISBN 978-3-96665-076-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32005.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
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