Michael Frey, Daniel Illy (Hrsg.): Schnittstelle Kinder- und Jugendpsychiatrie
Rezensiert von Prof. Dr. Tobias Falke, 31.10.2024
Michael Frey, Daniel Illy (Hrsg.): Schnittstelle Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ein Praxishandbuch für Lehrer*innen, Erzieher*innen und Fachkräfte der Jugendhilfe. Urban & Fischer in Elsevier (München, Jena) 2023. 334 Seiten. ISBN 978-3-437-21307-6. D: 44,00 EUR, A: 45,30 EUR, CH: 60,00 sFr.
Thema
Das Praxishandbuch beschäftigt sich intensiv mit kinder- und jugendpsychiatrischen Krankheitsbildern und hat hierbei einen weiten Blick auf die praktischen Herausforderungen für die Zielgruppe. Diese Zielgruppe sind Lehrer:innen, Erzieher:innen und Fachkräfte der Jugendhilfe. Um diese Personen sicherer im Umgang mit psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen zu machen, wird neben einem fachlichen Verständnis für die Symptome und Behandlungsmethoden ein großes Augenmerk auf mögliche Lösungsansätze für praktische Herausforderungen und gelingende Kooperation zwischen den Berufsgruppen gelegt.
Herausgeber und Autor:innen
Herausgeber des Buches sind Michael Frey und Daniel Illy. Beide sind Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. Während Dr. med. Daniel Illy, der ebenfalls Facharzt für Psychiatrie und -psychotherapie als leitender Oberarzt und als Autor diverser fachbezogener Ratgeber tätig ist, lehrt Prof. Dr. med. Michael Frey an der Technischen Hochschule Deggendorf. Frey ist ebenso diplomierter Sozialpädagoge (FH).
Expert:innentipps durch erfahrene Lehrkräfte, Fachkräfte der Jugendhilfe und Sozialarbeitende finden sich ebenfalls, wie ganze Unterkapitel, die von Spezialist:innen z.B. für Kinderschutzaspekte verfasst wurden.
Entstehungshintergrund
Das Buch greift im Nachklang der Coronakrise und damit zu einem Zeitpunkt, an dem die psychischen und teilweise auch psychiatrischen Folgen der Pandemie nicht nur offenbar werden, sondern über schulverweigernde Jugendliche, sozialängstliche Kinder zunehmend Druck auf die unterschiedlichsten Systeme ausüben. „Nur gemeinsam kann es gelingen, Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen in der Bewältigung und nach Möglichkeit Heilung der psychischen Erkrankung kompetent zu unterstützen.“ beschreiben die Herausgeber ihre Sicht im Vorwort.
Aufbau
Das Buch mit seinen 334 Seiten besteht aus 40 Kapiteln, die sich in sechs Oberkapitel untergliedern:
- I) Kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung
- II) Psychische Gesundheit im Kindes- und Jugendalter
- III) Gefährdungssituationen und Kriseninterventionen
- IV) Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter
- V) Jugendhilfe
- VI) Rechtliche Rahmenbedingungen
Die Anzahl der Unterkapitel variiert stark, sodass sich unter II insgesamt 20 Störungsbilder- bzw. Störungskategorien wie z.B. Essstörungen oder Schlafstörungen in einzelnen Kapiteln finden und das Oberkapitel VI mit den Themen Schweigepflicht und Gefährdungssituationen nur zwei Unterkapitel hat.
Inhalt
Das Praxishandbuch „Schnittstelle Kinder- und Jugendpsychiatrie“ beschreibt neben kinder- und jugendpsychiatrischen Störungen auch Aspekte wie z.B. Elternarbeit, psychisch erkrankte Elternteile, Datenschutzaspekte, Krisen und die relevanten Überschneidungen zu den Systemen Jugendhilfe und Schule. Bereits zu Beginn jedes Kapitels finden sich „Die fünf wichtigsten Punkte“, die bereits deutliche Aussagen zum jeweiligen Thema machen und einen Überblick ermöglichen. Im weiteren Verlauf des Kapitels wird dann differenziert, belegt und in einem praxisnahen Kontext beschrieben. Zusätzlich finden sich in den Unterkapiteln konsequent Abschnitte zu den Themen „Schnittstelle Schule“ und „Schnittstelle Jugendhilfe“.
Die 20 Unterkapitel zu psychischen Erkrankungen folgen einem einheitlichen Aufbau mit
- diagnostischen Kriterien,
- Früherkennung,
- Ätiologie,
- Epidemiologie,
- Diagnostik,
- Differentialdiagnosen,
- Komorbiditäten sowie
- Therapie und Prognose.
Es finden sich ebenso Kapitel zu weiteren essentiellen Inhalten/Strukturen kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung wie den Behandlungssettings, den Therapieschulen und Querschnittsthemen wie dem Kinderschutz und der Eltern- und Familienarbeit.
Der Inhalt wird aufgelockert von Info-Kästen zur Vertiefung, Expertent:innentipps und Praxistipps. Bezugnahme auf die Praxis ist den Herausgebenden scheinbar sehr wichtig, denn es finden sich immer wieder weiterführende Hinweise auf diagnostische, therapeutische und pädagogische Ressourcen/Materialien. Auffällig und vielleicht Geschmackssache sind wörtliche Ausschnitte aus (fiktiven?) Gesprächen, die konkrete Beispiele dafür sind, wie die jeweiligen Themen angesprochen, vertieft und zielorientiert moderiert werden können.
Beispielhaft sei hier das Kapitel I Kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung näher beleuchtet:
Das Werk führt direkt in die oftmals irritierende Vielzahl ähnlich klingender Bezeichnungen ein und ordnet Psychotherapeut:innen, Psycholog:innen, Psychiater:innen sowie deren konkrete Möglichkeiten bzw. Limitationen ein (S. 3ff). Praxisnahe Hinweise wie das Kostenerstattungsverfahren, probatorische Sitzungen und unterschiedliche Therapieformen (Langzeit vs. Kurzzeittherapie) werden dargestellt.
Das Unterkapitel Behandlungssettings (S. 7 f.) stellt neben den klassischen Angeboten ambulanter, teilstationärer und stationärer Therapie auch aktuelle Entwicklungen wie die stationsäquivalente Versorgung als aufsuchende Therapie vor und zeigt eine hohe Aktualität. Für diejenigen, die aktuell Konzepte entwickeln, um solche Behandlungsformen aufzubauen, finden sich ebenso wichtige Hinweise für Aufbau und Struktur dieser Settings, wie für „externe“, die hier praktische Einblicke erhalten.
Eine Übersicht über die Therapieschulen und ihre Kernannahmen, Kernbegriffe sowie bevorzugte Methoden bildet Unterkapitel 3 und beschreibt untermalt von mehreren Grafiken die jeweilige Schule. Auch die Systemische Therapie, die durch ihre relativ junge Zulassung als Kassenleistung in vielen Lehrwerken randständig behandelt wird, nimmt einen großen Raum ein (S. 13–16). Besonders für diejenigen, die „Therapie“ vielleicht als etwas undurchsichtiges vielleicht sogar ominöses Wahrnehmen, bietet sich hier ein entspannter Einblick in das was Therapie ausmacht, was sie aber auch begrenzt.
Die Autor:innen des Unterkapitels 4 thematisieren umfassend die Bedeutung der Eltern- und Familienarbeit. Für den Rezensenten erfreulich früh und zentral werden Grundlagen, Herausforderungen und Potenziale beleuchtet und praxisrelevante Themen wie z.B. „Kinder psychisch kranker Eltern“ thematisiert. Hier erfahren die Leser:innen wie mit psychischen Erkrankungen, die mehrere Generationen einer Familie betreffen gearbeitet werden kann.
Perspektiven sowohl in technischer (Digitalisierung) als auch politischer Sicht (Versorgungsplanung) als auch Leuchtturmprojekte füllen das Unterkapitel 5.
Die „Schnittstelle Schule“ mit ihren Potenzialen für die Früherkennung und Prävention, ihren sozialen Aufgaben und Herausforderungen, aber auch als Ort, in dem Kinder und Jugendliche nach einem Klinikaufenthalt wieder gut ankommen sollen, ist Inhalt des 7. Unterkapitels und bezieht hier erfreulicherweise auch die Klinikschulen mit ein. Hier gibt das Buch konkrete Hinweise, wie die Abläufe bei der Kooperationspartner:innen sind, welche Stolperfallen bestehen und bereitet so auch wenig erfahrene Kolleg:Innen gut vor.
Abschließend werden im Unterkapitel zur „Schnittstelle Kinder- und Jugendhilfe“ sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede (z.B. unterschiedliche Rechtskreise; S. 35) sowie Überlappungen thematisiert.
Diskussion
Der Rezensent war zugegebenermaßen etwas kritisch, als der erste Blick auf den Umschlag des Buches unter dem fettgedruckten Satz „Optimale Kooperation, um die Heilung psychischer Störungen zu unterstützen“ offenbarte, dass beide Herausgeber Fachärzte sind und andere Professionen zunächst wenig sichtbar sind. Umso beeindruckender ist das, was den Herausgebern und Autor:innen auf knapp mehr als 320 geschriebene Seiten gelungen ist: ein Handbuch, dass sowohl Grundlagen als auch die meisten praktischen Herausforderungen aufgreift. Etwas „exotisch“ wirkt das Kapitel zur Zukunft der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung, doch die hier präsentierten Inhalte erfüllen genau ihr Ziel, nämlich einen Blick und zukunftsweisende politische und fachliche Entwicklungen. Grafiken und Tabellen finden sich in großer Zahl, sind klar gegliedert, ansprechend im Layout und gut nachvollziehbar. Kritik, wenn überhaupt zu formulieren, ist, dass das Buch für sich stehend selbstverständlich nur einen Ausschnitt präsentieren kann und sämtliche Inhalte verkürzt dargestellt werden müssen, um eine solch großen Überblick zu ermöglichen. Die Veröffentlichung „Schnittstelle Kinder- und Jugendpsychiatrie“ stellt für Leser:innen unterschiedlichster Fachgebiete und auch mit unterschiedlichem Vorwissen ein praxisnahes Handbuch mit einem umfassenden Blick auf relativ wenigen Seiten dar. Das fundierte Wissen der Herausgeber und Autor:innen zeigt sich in einer klaren Struktur und einem hohen Praxisbezug. Die Kapitelstruktur ermöglicht eine schnelle Orientierung und auszugsweises Lesen z.B. in Krisensituationen.
Für den Rezensenten ist das Buch eine absolute Empfehlung für alle diejenigen, die mit der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen im professionellen Kontext in Berührung kommen. Neben den im Buch (und oben) genannten Zielgruppen sind sowohl für weitere pädagogische Kontexte als auch im Gesundheitswesen (z.B. Pädiater:innen) wertvolle Einblicke in ein spannendes und mittlerweile definitiv nicht mehr in einer kleinen Nische zu verortendes Fachgebiet möglich. Kinder- und Jugendpsychiatrie wird hier anschaulich, praxisnah und fundiert beschrieben, der Schreibstil ist animativ und lädt dazu ein, sich professionell mit der Kooperation in Fällen psychisch erkrankter Kinder und Jugendlicher zu beschäftigen.
Fazit
Ein Praxishandbuch, das seinen Titel absolut verdient, denn er ist praxisnah und -tauglich und schafft es, den Fokus auf Schnittstellen kontinuierlich im Blick zu behalten, ohne sich zu weit vom Gegenstand der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu entfernen.
Rezension von
Prof. Dr. Tobias Falke
gesundheitsfördernde Soziale Arbeit (M. A.); Kliniksozialdienst und Qualitätsmanagementbeauftragter in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie; systemischer Coach, Lehrbeauftragter an mehreren Hochschulen, ehrenamtlich sozialpädagogischer Leiter in einem Fußballverein, SRH Hochschule Hamm
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