Judith Hack: Komische Kinder, komische Eltern?
Rezensiert von Anja Karliczek, 11.09.2024
Judith Hack: Komische Kinder, komische Eltern? Belastungen, Kompetenzen und Wünsche von Eltern autistischer Kinder. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2023. 163 Seiten. ISBN 978-3-17-042106-6. 29,00 EUR.
Thema
Das vorliegende Buch richtet seinen Blick nicht direkt auf Menschen im Autismus-Spektrum, sondern widmet sich der komplexen Situation der Familien von autistischen Kindern. Vor allem die täglichen Herausforderungen ihrer Eltern und deren emotionale Situation sind Themen dieses Beitrages zur Autismus-Literatur.
Autor:in
Judith Hack ist Diplom-Sozialarbeiterin und Autismusberaterin. Sie bietet außerdem Fortbildungen im Bereich Autismus- und Konfliktkompetenz an. Zudem ist sie Mutter zweier Kinder, von denen sich eines im Autismus-Spektrum befindet.
Entstehungshintergrund
Die Autorin hat täglich sowohl fachliche als auch persönliche Einblicke in das Leben von Familien mit Kindern im Autismus-Spektrum. Sie möchte mit diesem Buch als deren Sprachrohr fungieren, da im alltäglichen Miteinander die Elternperspektive oft wenig gesehen und kaum thematisiert wird. Die Intention von Judith Hack ist es, damit sowohl Fachkräfte als auch andere Menschen aus dem Umfeld von Familien mit autistischen Kindern Einblicke in deren Leben gewähren. So will sie diese für die vielfältigen täglichen Anforderungen sensibilisieren, um mehr Verständnis und Offenheit zu fördern.
Aufbau
Das Buch teilt sich in vier inhaltliche Abschnitte. Nach einigen einleitenden Worten wird der Fokus zunächst auf den Familienalltag mit den Bereichen Diagnostik und (Verhaltens-)Besonderheiten gelegt. Im Anschluss stehen die Geschwister im Mittelpunkt. Der dritte Teil ist der gesellschaftlichen Dimension gewidmet, in der sich die Familien bewegen. Dabei liegt das Augenmerk auf den Themen Herausforderungen durch die Gesellschaft, Behörden und Hilfesysteme, Schule, innere Haltung und Bewertung von Situationen sowie Effekte der Corona-Pandemie. Der letzte inhaltliche Abschnitt fasst die Auswirkungen aller vorher beleuchteten Aspekte auf das Verhalten der Eltern zusammen und formuliert deren Wünsche. Abschließend folgen Schlussworte der Autorin sowie Literatur- und Internet-Tipps.
Inhalt
Zu Beginn des Buches erläutert Judith Hack zunächst in der Einleitung die Titelbezeichnung „komisch“. Sie legt die Grundsituation von Eltern autistischer Kinder mit den täglichen Herausforderungen und Belastungen dar, betont aber auch deren Leistungen, Ressourcen und Wünsche. In diesem Zusammenhang werden die Wahrnehmung von außenstehenden Personen und die innere Situation der Eltern gegenübergestellt.
Der erste inhaltliche Abschnitt behandelt die alltäglichen Herausforderungen von Familien mit Kindern im Autismus-Spektrum. So geht es unter anderem um die Frage nach der Diagnostik und deren Folgen. Ausgeführt werden der Abwägungsprozess der Eltern zwischen Vor- und Nachteilen sowie die damit verbundene Bandbreite an Gefühlen. Thema ist auch die Aufklärung des Umfeldes unter der Beachtung der Vielfalt an Systemen, in die Familien eingebunden sind. Die Autorin verdeutlicht die Komplexität der Situation, in der die Eltern sich befinden, und zeigt deren vielfältige innere und äußere Herausforderungen auf.
Anschließend befasst sich der längste Abschnitt des Buches mit speziellen (Verhaltens-)Besonderheiten von Kindern im Autismus-Spektrum. Hack beschreibt die jeweilige Situation, bietet Erklärungsansätze für Verhaltensursachen und benennt Auswirkungen auf das „System Familie“ und dessen Alltag. Das Themenspektrum umfasst:
- Emotionen
- Nähe und Distanz,
- personelle Fixierung,
- Kommunikation,
- Essen,
- Motorik,
- Grenzen,
- Routinen und Flexibilität,
- Gesundheit inklusive Schlaf und
- Freundschaften.
Dabei betrachtet die Autorin das Dreieck aus Kind, Familie und deren Umfeld. Sie thematisiert gegenseitige Einflussfaktoren und Wechselwirkungsprozesse auf Verhalten, Emotionen und Wahrnehmungen aller Beteiligten und die Bedeutung von Informationsflüssen zwischen ihnen. Neben der Erklärung von Begriffen und Wissensteilen, wie zum Beispiel der Unterscheidung von Wutanfall und Meltdown/Shutdown, zeigt Judith Hack innere emotionale und gedankliche Prozesse der Eltern sowie deren Grenzen auf.
Auch das besondere Lernverhalten autistischer Kinder bleibt nicht unerwähnt. Die Autorin hebt zudem die besondere Bedeutung der Familie für das Kind hervor und stellt in diesem Zusammenhang das „Maskieren“ sowie das sogenannte „Türschwellen-Phänomen“ dar.
Zum Abschluss des Kapitels formuliert Hack, welche positiven Aspekte ein Kind im Autismus-Spektrum in die Familie einbringen und welche Bereicherung es für das System Familie sein kann.
Der zweite inhaltliche Schwerpunkt widmet sich der Situation der Geschwister in der Familie. Die Autorin betont in diesem Zusammenhang deren individuelle Situation und die Auswirkungen auf ihre soziale Entwicklung mit unterschiedlichen Risiken, aber auch Chancen. Die Spannungsfelder der Geschwisterbeziehung wie Nähe und Distanz, Last und Freude sowie Bezugspersonen und Konkurrenz werden aufgezeigt. Judith Hack thematisiert in diesem Zusammenhang die Besonderheiten wie Geschwisterrivalität, Überforderung, Schuldgefühle und Leidensdruck, die über grundsätzliche familiäre Konstellationen hinausgehen. Sie stellt Belastungen sowie Einschränkungen des Alltags im Vergleich zu anderen Familien dar. Dabei richtet sie den Blick auch auf die begrenzten Ressourcen der Eltern und die Gründe für deren hohe Belastungen.
Aufgezeigt wird auch die Problematik der unterschiedlichen Voraussetzungen, Entwicklungsstände und Kompetenzen der Geschwisterkinder sowie der daraus entstehenden Erwartungen und Reaktionen sowohl der Eltern als auch Außenstehender, welche die Geschwister beeinflussen.
Betrachtet werden die Wahrnehmungs-, Verhaltens- als auch die emotionale Ebene aller Beteiligten sowie im Speziellen auch das Thema psychische Probleme bei den Geschwisterkindern. Die Autorin gibt in diesem Zusammenhang Hinweise für deren Entlastung.
Der dritte Abschnitt widmet sich den Herausforderungen durch die Gesellschaft. Thematisiert wird der Umgang mit Familien, deren Kind eine nicht sichtbare Beeinträchtigung aufweist. Dabei geht es um Grenzverletzungen, gesellschaftliche Normen, Sprachgebrauch und innere Haltung. Judith Hack bietet Erklärungsansätze für die Handlungen und Erwartungen des Umfeldes und stellt mögliche Reaktionen der Eltern dar.
Sie verdeutlicht, warum es Eltern im Spannungsfeld zwischen unauffälligem Auftreten und auffälligen Verhaltensweisen der Kinder kaum möglich ist, es „richtig“ zu machen. Zudem werden die Defizitorientierung sowie der Erwartungsdruck, die (auch) von Fachleuten ausgehen, und deren Auswirkungen auf die Eltern gezeigt. Dies zeigt sich zum Beispiel beim Thema Selbstständigkeit, den damit verbundenen Erwartungen im Kontrast zu den Möglichkeiten und Ressourcen der Kinder. Die Gründe für den sozialen Rückzug und die Isolation vieler Familien sowie auch das Thema Freundschaften der Eltern werden ebenfalls ausgeführt.
Ein weiterer Themenbereich befasst sich mit Behörden und Hilfesystemen und den bürokratischen Hürden. Negative Erfahrungen und konkrete Fallbeispiele werden aufgeführt und der Unterstützungs- sowie Ressourcenbedarf auf dem Weg zu Informationen und Anträgen gezeigt. Die Autorin präsentiert verschiedene Spannungsfelder, die sich in diesen Prozessen auftun. Sie schildert Machtkämpfe, Entscheidungsgewalt und negative Erfahrungen der Eltern im Umgang mit Behörden und beschreibt den Krafteinsatz, den diese für die Durchsetzung der Rechte ihrer Kinder aufbringen. In diesem Zusammenhang wird das Spannungsverhältnis zwischen Zusammenarbeit und Vertrauensverlust sowie zwischen konstruktivem Miteinander und Gegeneinander thematisiert. In Form einer Tabelle veranschaulicht Judith Hack das Kräftemessen der Eltern und Behördenmitarbeiter.
Des Weiteren werden das Thema Fachkraft bzw. Fachkräftemangel sowohl in den Institutionen als auch in der Ausführung von Hilfeleistungen und die Auswirkungen auf die betroffenen Familien dargestellt.
Auch der Bereich Schule wird in einem Kapitel behandelt. Dargestellt werden verschiedene Argumente von Befürwortern und Gegnern des Themas Inklusion im deutschen Schulsystem. Anhand von Beispielen werden die Herausforderungen, die sich für alle Beteiligten, also Schüler, Eltern und Lehrer, ergeben, beschrieben. Voraussetzungen und Einflussfaktoren für eine gelingende Beschulung werden thematisiert. In diesem Zusammenhang werden auch Problematiken wie Erfolgsdruck, Kooperation, Erwartungshaltungen sowie die Einbindung der Eltern in pädagogische Maßnahmen angesprochen. Die Autorin zeigt den inneren Zwiespalt der Eltern zwischen Kooperation, Dankbarkeit und Nachgiebigkeit und dem Setzen von Grenzen, der Äußerung von Kritik und dem Einfordern von Rechten. Verdeutlicht werden dabei auch die Machtposition der Schule und das Spannungsfeld zwischen Schulpflicht auf der einen Seite und dem Recht auf Inklusion auf der anderen Seite.
In einem gesonderten Kapitel hebt die Judith Hack noch einmal die Bedeutung und den Einfluss der inneren Haltung und Situationsbewertung des Umfeldes der Familien hervor. Sie thematisiert deren Einfluss auf die Entwicklungschancen der Kinder, den Aufbau einer (Arbeits-)Beziehung sowie auf die Zusammenarbeit. In diesem Zusammenhang werden die Wechselwirkungen zwischen den Kindern und ihrer Umgebung aufgezeigt, sowie der Einfluss, den dies auf die Reaktionen der Eltern hat. Die Autorin betont die Bedeutung der Wortwahl, die Notwendigkeit einer Trennung zwischen Person und Verhalten sowie die Bedeutung der Selbstreflexion in diesen Prozessen.
Abschließend widmet sich das letzte Kapitel des Abschnitts der Corona-Pandemie mit deren positiven Effekten, aber auch Nachteilen und Herausforderungen für die Familien inklusive eines Ausblicks auf die mögliche langfristige Bedeutung dieser Zeit für die Inklusion und Unterstützungsmaßnahmen der Kinder und deren Familien.
Der letzte inhaltliche Abschnitt des Buches soll zusammenfassend die Frage nach der Titelformulierung beantworten. In diesem Kontext werden Belastungen und deren Folgen als auch positive Effekte für die Eltern benannt. Zudem ist auch das Verhalten der Eltern sowie der tägliche Einfluss des Autismus auf das ganze Familiensystem Thema. Es wird auch die Möglichkeit aufgezeigt, dass sich durch genetische Faktoren ggf. auch weitere Familienmitglieder im Spektrum befinden. Des Weiteren erfolgt eine Zusammenfassung der äußeren und inneren Einflussfaktoren auf das Verhalten der Eltern. In diesem Zusammenhang behandelt die Autorin auch den Aspekt der mangelnden Unterstützungsmöglichkeiten für die Eltern. Abschließend werden die Ergebnisse einer Umfrage aus dem Blog einer Mutter vorgestellt, die nach den Wünschen von Eltern autistischer Kinder gefragt hat.
In ihren Schlussbemerkungen hält Judith Hack ein Plädoyer für die Eltern mit ihrer speziellen Situation, den individuellen Wegen, dem Wunsch, gesehen zu werden und dem Bestreben, nur das Beste für ihr Kind zu wollen. Abschließend findet sich eine umfangreiche Liste mit Literatur- und Internet-Tipps.
Diskussion
Das Buch ist aufgrund der fachlichen und persönlichen Erfahrungen von Judith Hack sehr realitätsnah und vieldimensional. Die Komplexität der elterlichen Situation und die Vielfalt an alltäglichen Themen werden ebenso deutlich wie deren emotionale Dimension. Die Aussagen und Beispiele zeigen eine große Bandbreite an möglichen Situationen, sodass sich wahrscheinlich jede Familie darin wiederfinden kann. Durch die vielen Perspektiven ist das Buch sehr anschaulich und persönlich. Die Autorin macht die Individualität der Erfahrungen deutlich und vermittelt die Belastungen und Herausforderungen spürbar. Die Darstellungen sind dabei nicht wertend. Betrachtet werden die Situationen in Zusammenhängen und systemisch. Dabei werden verschiedene Sichtweisen berücksichtigt und auch die Hintergründe des gesellschaftlichen Verhaltens dargestellt. Hack agiert nicht verurteilend, sondern versetzt sich in die Lage der jeweils betrachteten Personengruppe.
Ein wichtiger Fokus des Buches liegt auf den Kräften und Ressourcen der Eltern inklusive den fehlenden Erholungspausen. Themen wie Selbstfürsorge und der Wunsch nach sozialen Kontakten werden angesprochen und die Eltern als Menschen und nicht als Maschinen dargestellt. Auch das Machen von Fehlern inklusive der Methode Versuch-und-Irrtum und die (notwendige) Setzung von Prioritäten werden offen angesprochen.
Das Buch widmet sich nicht nur den Eltern, sondern auch der Situation der Geschwister, die ebenfalls Teil des Systems sind und oft aus dem Blickfeld geraten. Die Bedeutung ihrer Situation und die Wechselwirkungen mit den anderen Mitgliedern des Systems sind wichtige Aspekte.
Judith Hack thematisiert auch den Sprachgebrauch und die innere Haltung im täglichen Miteinander, die jedoch nicht nur im Umgang mit Familien autistischer Kinder von Bedeutung sind.
Vor allem im ersten Teil werden positive und negative Aspekte des Zusammenlebens benannt. Geht es um die gesellschaftlichen Dimensionen, liegt der Schwerpunkt eher auf negativen Erfahrungen. Diese teilweise sehr defizitäre Sicht mit dem Schwerpunkt auf den Hürden und Schwierigkeiten sowie Worst-Case-Szenarien könnte auf die Leser:innen erdrückend wirken. Die Schilderung positiver Erlebnisse würde hier das Gesamtbild gut ergänzen. Zudem können die subjektiven Darstellungen aufgrund der unterschiedlichen Bildungs- und Hilfesysteme in den Bundesländern nur einen Teil der Realität abbilden. Die Autorin arbeitet zudem mit vielen Klammern und Einschüben im Text, um Möglichkeiten und Varianten auszudrücken, was den Lesefluss beeinträchtigen kann.
Betrachtet werden hauptsächlich Familien mit jüngeren Kindern. Eine interessante Ergänzung wäre daher der Blick auf die (Lebens-)Perspektive der älteren „Kinder“ im Autismus-Spektrum. Auch hier befinden sich die Eltern in einer besonderen Situation, weil sie oft eine andere und viel längere Begleitung und Verantwortung für ihre heranwachsenden und erwachsenen Kinder übernehmen.
Insgesamt ist das Buch ein sehr lesenswertes Plädoyer für die Eltern und schafft es, deren Situation in den Mittelpunkt zu stellen und zu vermitteln. Es hebt die individuellen Wege hervor, die die Familien suchen, den Wunsch, als Individuum wahrgenommen zu werden, sowie das Bestreben der Eltern, das Beste für ihre Kinder zu erreichen.
Fazit
Das sehr empfehlenswerte Buch Komische Kinder, komische Eltern? Belastungen, Kompetenzen und Wünsche von Eltern autistischer Kinder widmet sich der komplexen Situation von Familien autistischer Kinder. Autorin Judith Hack, Diplom-Sozialarbeiterin, Autismusberaterin und selbst Mutter eines Kindes im Autismus-Spektrum widmet sich den Themen besonderer Alltag, Geschwisterkinder sowie gesellschaftliche Herausforderungen und erörtert die Auswirkungen dieser Aspekte auf das Verhalten der Eltern und die Dynamik innerhalb der Familie. Sie möchte damit Verständnis und Offenheit sowohl bei Fachkräften als auch bei Menschen aus dem Umfeld der Familien fördern. Ihr gelingt es, auf Grundlage ihrer fachlichen und persönlichen Erfahrungen die täglichen Herausforderungen der Eltern, deren individuelle Wege und emotionale Situation realitätsnah und vielschichtig sichtbar zu machen.
Rezension von
Anja Karliczek
Dipl.-Sozialarbeiterin / Dipl.-Sozialpädagogin, Schulbegleiterin von Jugendlichen im Autismus-Spektrum, Lektorin und Korrektorin
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Es gibt 6 Rezensionen von Anja Karliczek.
Zitiervorschlag
Anja Karliczek. Rezension vom 11.09.2024 zu:
Judith Hack: Komische Kinder, komische Eltern? Belastungen, Kompetenzen und Wünsche von Eltern autistischer Kinder. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2023.
ISBN 978-3-17-042106-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32012.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
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