Andreas Wernet, Christiane Thompson et al. (Hrsg.): Hermeneutik - Kasuistik - Fallverstehen
Rezensiert von Moritz Niklas Frietzsche, 24.10.2024
Andreas Wernet, Christiane Thompson, Jörg Dinkelaker, Merle Hummrich, Wolfgang Meseth et al. (Hrsg.): Hermeneutik - Kasuistik - Fallverstehen. Eine Einführung.
Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2023.
2., aktualisierte Auflage.
230 Seiten.
ISBN 978-3-17-042140-0.
D: 34,00 EUR,
A: 35,00 EUR.
Reihe: Kohlhammer Urban Taschenbücher. Grundrisse der Erziehungswissenschaft.
Thema
In zweiter, überarbeiteter Auflage erscheint Andreas Wernets Einführung in „Hermeneutik. Kausistik. Fallverstehen“ bei Kohlhammer in der Reihe „Grundrisse der Erziehungswissenschaft“. Wernet führt in die Bedeutung des Fallverstehens für die erziehungswissenschaftichen Handlungsfelder ein. Hierbei illustriert er an Praxisbeispielen verschiedene hermeneutische und kasuistische Zugänge und zeigt ihre Bedeutung für die pädagogische Wissenschaft und Praxis. Außerdem stellt Wernet die aktuelle wissenschaftliche Diskussion zu Kasuistik vor.
Autor
Dr. Andreas Wernet ist Professor für Schulpädagogik, Schwerpunkt Schul- und Professionsforschung am Institut für Erziehungswissenschaft der Leibniz Universität Hannover.
Aufbau und Inhalt
Das Buch gliedert sich in vier Kapitel mit einem Prolog und einem Epilog. Wernet umreißt in beiden letzteren aktuelle Positionsbestimmungen einer „kasuistischen Bewegung“ (Wernet 2023: 7 f.), die der Autor vor dem Hintergrund der Vielzahl an Tagungen und Veröffentlichungen zu Kasuistik seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches im Jahre 2006, beobachtet und selbst mit trägt. In diesem Zusammenhang wehrt sich Wernet in seinem Vorwort zur zweiten Auflage wie in seinem Prolog gegen kritische Anfragen an die hermeneutische Forschung und Lehre durch die scientific community. Der Autor betont die Differenz von einer erziehunsgwissenschaftlichen und einer pädagogischen Hermeneutik. Während die erziehungswissenschaftliche Hermeneutik forschungslogisch begründet den Erkenntnisgewinn in den Fokus nimmt, zielt die pädagogische Hermeneutik auf Basis von Praxisreflexion auf Handlungsalternativen der pädagogischen Praxis. Er plädiert für eine zweite realistische Wende der Hermeneutik, die nicht diese Fraktionierung reproduziert sondern aus der Sinnkonstruiertheit der Erziehungswirklichkeit ihre Theorie gewinnt: „‘Realistisch’ ist diejenige Forschung, die sich den Phänomenen der Wirklichkeit der Erziehungsprozesse in verstehender Absicht zuwendet“ (Wernet 2023: 32). Damit bezieht Wernet die Position, dass die Erziehungswissenschaft mit ihrer Hermeneutik sich dem Normaitvitätsproblem stellen muss und es nicht an eine pädagogische Praxis abgeben kann. Hierfür plädiert Wernet im Folgenden für eine wirklichkeitswisssenschaftliche Hermeneutik, die sich als Forschungsansatz verbindet mit einer Kasuistik, die sich der pädagogischen Wirklichkeit zu wendet, um die Widersprüchlichkeiten der Problemstrukturen des tatsächlichen pädagogischen Handelns zu rekonstruieren.
Das erste Kapitel „Methodologische Verortungen“ stellt das Konzept der Wirklichkeitswissenschaft vor, um dann in einem zweiten Schritt den Übergang von einem skriptualen Hermeneutikverständnis zu einer Hermeneutik, die sich an alltäglichen Interaktionen orientiert zu skizzieren. Durch Wernets Darstellung zieht sich die Dialektik von Allgemeinem und Konkretem als zu lösendes Problem hermeneutischer Forschung. Es geht ihm darum zu zeigen, dass nur eine wirklichkeitswissenschaftlich orientierte Hermeneutik in der Lage ist ohne die einseitige Reduktion des Konkreten im Abstrakten das Konkrete als Fall des Allgemeinen und insofern in ihm aufgehoben zu begreifen.
In seinem zweiten Kapitel „Von der geistes- zur wirklichkeitswissenschaftlichen Hermeneutik“ verdeutlicht Wernet an zwei Beispielen die unterschiedlichen hermeneutischen Forschungslogiken. An Klafki zeig Wernet, dass dieser die Hermeneutik als Deutungswerkzeug für den von ihre getrennten und für sie nicht weiter relevanten empirischen Forschungsprozess sieht. Anders das Beispiel von Combe, mit dem Wernet zeigt, wie eine wirklichkeitswissenschaftliche Hermeneutik, die sich auch in ihren empirischen Zugängen der Wirklichkeit des pädadogischen Tuns und seinen Sinnkonstruktionen zuwendet, vorgehen kann. Bemerkenswert ist hierbei, wie sich das Normativitätsproblem in beiden Fällen jeweils (nicht) stellt. Während Klafki mit der Hermeneutik seine Empirie deutet und seine Ergebnisse auf seine exmanenten Normen bezieht, kennt Combe keine anderen Normen, außer jenen, die der Fall selbst entwickelt; sie sind also immanent gewonnen.
Das dritte Kapitel „Von der illustrativen zur rekonstruktiven Kasuistik“ wendet sich dem „zweiten Theoriestrang pädagogischer Wirklichkeitserschließung“ (Wernet 2023: 101) zu. Kasuistik unterscheidet sich nach Wernet von der Hermeneutik darin, dass sie in der Problematisierung einer pädagogischen Praxissituation auf Handlungsoptionen der Fachkräfte reflektiert. Sie sucht entsprechend weniger die Erkenntnis über den Fall als Entscheidungsalternativen im gegebenen Setting. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen illustrativer und rekonstruktiver Kasuistik, die Wernet an je zwei Beispielen verdeutlicht. Die illustrative Kasuistik nutzt den Fall, um an ihm die Routinen des pädagogischen Handelns als selbstverständliche Praxiserfahrung zu bebildern. Diese anti-forschende Betrachtungslogik, zeigt Wernet an Wünsche und seinem Buch „Die Wirklichkeit des Hauptschülers“ (1972). Wernet argumentiert, dass eine solche illustrative Kasusistik sich in ein manipulatorisches Instrument verwandeln kann, die pseudokritisch eine bestimmte pädagogische Praxis als Resultat der Untersuchung des Falles behauptet. Die rekonstruktive Kasuistik, wie Wernet an Helsper zeigt, wendet sich in sinnverstehender Absicht dem Fall zu. Sie macht sich frei von dem Imperativ eine Handlungsanweisung zum Resultat zu haben. Auf diese Art und Weise jedoch macht sich die praktische Bedeutung der rekonstruktiven Kasuistik geltend: Sie durchbricht das Primat der Praxis und damit die Routinen und eröffnet neue Perspektiven auf die pädagogische Praxis.
In dem Resümee „Zum Fallbegriff“ unterstreicht Wernet die Bedeutung einer solchen rekonstruktiven Kasuistik, die im Sinne der obigen Wirklichkeitswissenschaft agiert. Beiden Polen der Kasuistik, die Wernet behandelt, ist zu eigen, dass sie nicht bloß die Menschen, mit denen pädagogisch gearbeitet wird in den Blick nehmen sondern die Pädagog*innen und den pädagogischen Prozess selbst. Pädagogische Kasuistik ist insofern immer auch selbstreflexiv und will sie diesen Anspruch einlösen und die real stattfindende pädagogische Wirklichkeit verstehen, müsse sie rekonstruktive Kasuistik betreiben und mit ihr ihr Verhältnis von Theorie und Praxis immer wieder neu ausloten.
In Kapitel 4 „Kasuistische Erkundungen“ arbeitet Wernet an vier Beispielen aus der Schulpädagogik die Perspektive und Idee eines hermeneutisch-kausistischen Zugangs zur pädagogischen Wirklichkeit heraus. Wernet resümiert „dass die Einsichten in den jeweiligen pädagogischen Wirklichkeitsraum zu Feststellungen führten, die sich in irritierender Querlage zu impliziten oder expliziten Idealvorstellungen einer pädagogischen, erzieherischen oder unterrichtlichen Praxis befinden.“ (Wernet 2023: 198) Diese Irritationen aufzugreifen und an der pädagogischen Wirklichkeit die Theorie zu bilden ist für Wernet der Ertrag eines solchen hermeneutisch-kasuistischen Zugangs. Damit stellt sich jedoch erneut das Normativitätsproblem. Wenn der von Wernet postulierte wirklichkeitswissenschaftliche Zugang zum Fall sich der an den Fall herangetragenen externen Normativität eines Ideals pädagogischer Praxis verweigert, so ist sie selbst nicht frei von der Frage, wie sie zum Gelingen pädagogischen Handelns beitragen kann – schließlich ist Normativität der Sache eingeschrieben, der sie sich zuwendet. Zur Frage, welchen Nutzen diese Perspektive entfalten kann, bemerkt Wernet abschließend drei Punkte. Erstens kann die fallrekonstruktive Kasuistik nicht das Versprechen einer technischen Lösung abgeben. Hier kann ihr Nutzen nicht liegen. Zweitens verspricht sie deswegen Einsichten in die selbstwidersprüchliche Praxis, mit denen die Praxis selber in Diskurs treten muss. Drittens kann sie so gerade in der universitären Ausbildung ihren Nutzen entfalten, da sie Fragen nach der Verfasstheit der Pädagogik aufwirft und thematisiert und so zum Weiter- und Neudenken anregt.
Der Epilog „Kasuistik in erziehungswissenschaftlichen Forschungs- und Praxisfeldern“ ergänzt Wernets Einführung, die sich in ihren Beispielen auf die Schulpädagogik fokussierte, um die kasuistischen Ansätze in weiteren erziehungswissenschaftlichen Feldern. Hierfür schlägt Wernet die Unterscheidung in akteurs- und klientenzentrierte Ansätze vor. Akteursorientierte Ansätze finden sich vor allem in der Schulpädagogik, aber auch in den Erwachsenen- und Sozialpädagogik. Klientenorientierte Kasuistik hingegen sieht Wernet vor Allem in der Sozialpädagogik beheimatet. Jedoch betont Wernet, dass hier, wie in allen erziehungswissenschaftlichen Feldern, die Selbstthematisierung der Pädagog*innen und ihr Handeln immer wiederkehrendes Thema ist. Das macht dann auch die Bedeutung von hermeneutisch-kasuistischen Fallrekonkstruktionen für die Professionalisierungstheorie aus. Durch die Einblicke in die sinnlogischen Handlungsstrukturen, werden die der pädagogischen Praxis innewohnen Widersprüchlichkeiten und Porblemstrukturen reflektiert, welche eine Professionalisierungstheorie aufzunehmen hat.
Diskussion
Wernet wirbt für eine wirklichkeitswissenschaftlich fundierte Hermneutische und Kasuistische Forschungs- und Lehrpraxis in den Erziehungswissenschaften. Klar und überzeugend legt er Vorteile und Nachteile eines solchen Zugangs zum Fall dar. Kenntnisreich führt er so ein in die „kasuistische Bewegung“.
Man darf diese Einführung nicht missverstehen als ein Handbuch für die hermeneutische Forschungspraxis oder einer kasuistisch fundierten Lehre. Wer unter diesem Gesichtspunkt, als Student*in oder Forscher*in, das vorliegende Buch in die Hand nimmt, wird notwendig enttäuscht. Wernets Einführung ist vielmehr, wie er in der Einleitung zu seinem vierten Kapitel betont, eine Einladung sich mit den methodologischen Voraussetzungen, der Perspektive und der Idee wirklichkeitswissenschaftlicher Hermeneutik und Kasuistik zu befassen. Gerade Prolog und Epilog schwingen so zwischen voraussetzungsreichen Verweisen auf methodologische Debatten und einem leidenschaftlichen Plädoyer für die Wirklichkeitswissenschaft. Wernets Buch ist somit für alle diejenigen geeignet, die sich an vielen illustrativen Beispielen in die wirklichkeitswissenschaftliche Forschungslogik einführen lassen möchten.
Fazit
Andreas Wernet führt sachkundig und an vielen Beispielen in die Perspektive wirklichkeitswissenschaftlich fundierter Hermeneutik und Kasuistik ein und zeigt überzeugend ihre Bedeutung für die pädagogische Wissenschaft, Lehre und Praxis. Der Autor plädiert für eine wirklichkeitswisssenschaftliche Hermeneutik, die sich als Forschungsansatz verbindet mit einer Kasuistik, die sich der pädagogischen Wirklichkeit zuwendet, um die Widersprüchlichkeiten der Problemstrukturen des tatsächlichen pädagogischen Handelns zu rekonstruieren.
Rezension von
Moritz Niklas Frietzsche
M.A. Soziale Arbeit. Integrativer Lerntherapeut für Dyskalkulie. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Arbeitsbereich Sozialpädagogik. Freier Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen in Deutschland
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Zitiervorschlag
Moritz Niklas Frietzsche. Rezension vom 24.10.2024 zu:
Andreas Wernet, Christiane Thompson, Jörg Dinkelaker, Merle Hummrich, Wolfgang Meseth et al. (Hrsg.): Hermeneutik - Kasuistik - Fallverstehen. Eine Einführung. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2023. 2., aktualisierte Auflage.
ISBN 978-3-17-042140-0.
Reihe: Kohlhammer Urban Taschenbücher. Grundrisse der Erziehungswissenschaft.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32023.php, Datum des Zugriffs 02.11.2024.
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