Tanja Grendel: Bildungsgerechtigkeit im Ganztag
Rezensiert von Prof. Dr. rer.soc. Ulrich Deinet, 03.09.2024

Tanja Grendel: Bildungsgerechtigkeit im Ganztag. Handlungsansätze für die soziale Arbeit.
Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2023.
182 Seiten.
ISBN 978-3-17-040460-1.
29,00 EUR.
Reihe: Soziale Arbeit in der Gesellschaft.
Thema und Hintergründe
Der herkunftsabhängige Bildungserfolg in Deutschland und seine Hintergründe sind ein Hauptthema des Buches. Vor diesem Hintergrund wird dann eine Kooperation zwischen Sozialer Arbeit und Schule entwickelt und an den beiden Feldern Schulsozialarbeit und Kinder- und Jugendarbeit durchbuchstabiert. So entsteht ein Bild eines über die bisherigen Ansätze hinausgehendes Kooperationsverständnisses, das ein breites Bildungsverständnis, Gerechtigkeit und die Teilhabe von Jugendlichen in den Mittelpunkt stellt. Die Entwicklung des Ganztags und einer Ganztagsbildung kann so nicht nur begründet, sondern auch konzeptionell entfaltet werden.
Autorin
Dr. Tanja Grendel ist Professorin mit dem Schwerpunkt Soziale Arbeit in Bildungs- und Sozialisationsprozessen am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule RheinMain.
Inhalt
In der Einleitung entwirft die Autorin ihr Projekt einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Bildungsbenachteiligung. Ihr Anspruch ist es, eine „intersektionale, die Verwobenheit unterschiedlicher Differenzierungsmerkmale berücksichtigende Perspektive“ (Seite 14) herauszuarbeiten. Dabei bezieht sie sich auf das aktuell im Fokus stehende Feld der Ganztagsbildung, das – auch vor dem Hintergrund des kommenden Rechtsanspruches – zu einem weiteren Bereich werden kann, in dem Bildungsbenachteiligungen eine grundlegende Rolle spielen. Die Idee der Autorin besteht darin, Bildungsgerechtigkeit im Ganztag durch konkrete „Handlungsansätze und Maßnahme Sozialer Arbeit“ (Seite 15) aufzuzeigen und die Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule in diesem Bereich weiterzuentwickeln.
Das erste Kapitel „Bildung und soziale Ungleichheiten: Theorie, Empirie und aktuelle Entwicklungen“ stellt zunächst theoretische Erklärungsansätze von Bourdieu über Bronfenbrenners sozial-ökologischen Entwicklungsansatz bis zur Empirie zu aktuellen Entwicklungen und Herausforderungen. Dieses einführende Kapitel stellt zentrale, theoretische Konzepte vor, in denen der Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungschancen thematisiert wird. Sehr wichtig ist der Autorin der Kapitalansatz von Bourdieu und sein Habitus-Konzept, das auch auf den schulischen Bereich übertragen werden kann. Die Verweise auf Bronfenbrenner zeigen stärker eine Wechselwirkung zwischen Familie und Schule in unterschiedlichen Zonen und Lebenswelten. Der dritte Teil dieses Kapitels arbeitet sozialstrukturelle Unterschiede in der Bildungsbeteiligung zwischen den Bereichen formaler und non-formaler Bildung heraus, die für ein ganzheitliches Verständnis in Wechselwirkung stehen.
Kapitel 2 „Der Ganztag: Ungleiche Bildungschancen im Kontext eines erweiterten Bildungsverständnisses“. Unter dem Leitsatz „Bildung ist mehr als Schule“ geht es (ab Seite 55) in die Terminologien der Bildungsdebatte, so wie sie z.B. im 12. Kinder- und Jugendbericht diskutiert wurden. Es folgt eine Diskussion von Funktionen und Verhältnisbestimmungen von Schule und Sozialer Arbeit im Kapitel 2.2 (Seite 62 ff.) mit der Darstellung der unterschiedlichen Orientierungen von Schule und Sozialer Arbeit und einer Zwischenbilanz ab Seite 67 ff. In den das Buch durchziehenden Zwischenbilanzen und Zusammenfassungen beschreibt die Autorin auf Seite 75 ihr Plädoyer für die Entwicklung eines Ganztags, der die Chance bieten soll „als gemeinsames Ziel den Abbau von Bildungsungleichheiten politisch und konzeptionell zu stärken“ (Seite 75). Dafür muss aber das spezifische Profil und die Expertise der Sozialen Arbeit auch im Kontext von Bildungsungleichheiten konkretisiert werden.
Das dritte Kapitel „Soziale Arbeit an bzw. ergänzend zu Schule: Benachteiligungen abbauen und vermeiden“ (Seite 76 ff.) beschäftigt sich nun mit diesem Thema. Am Beispiel der Felder der Schulsozialarbeit (Seite 78 ff.) und der Kinder- und Jugendarbeit (Seite 84 ff.).
In ihrer Zusammenfassung auf Seite 97 beschreibt die Autorin die besondere Expertise Sozialer Arbeit im Kontext ungleicher Bildungschancen. „Sie (die Soziale Arbeit, Anm. des Verfassers) ermöglicht Erfahrungsalternativen an bzw. neben Schule und trägt zu einer subjektorientierten und emanzipatorischen Bildung bei“ (Seite 97). In ihrer Argumentation bezieht sie sich vor allen Dingen auf den Subjektbegriff und die von Albert Scherr entwickelte subjektorientierte Jugendarbeit.
Es folgt Kapitel 4 „Bildungsgerechtigkeit statt Chancengleichheit: Normative Vergewisserung über ein gemeinsames Ziel“. Ausgehend von den unterschiedlichen Gerechtigkeitsverständnissen diskutiert die Autorin zunächst den Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit (Seite 103 ff.) und dann den Aspekt der Teilhabegerechtigkeit (Seite 109) vor dem Hintergrund des Ansatzes des Capability Approach. Ein weiteres Unterkapitel zur Anerkennungsgerechtigkeit bezieht sich auf Axel Honneth und sein Werk sowie den darauf aufbauenden Arbeiten z.B. von Fraser, der von einem Statusmodell der Anerkennung spricht (Seite 118). In diesem Kapitel werden die unterschiedlichen Zugänge zum Konzept der Bildungsgerechtigkeit und den sich daraus herzuleitenden Prämissen für pädagogische und politische Interventionen beschrieben. Dabei bringt die Autorin die unterschiedlichen Aspekte zusammen, indem sie davon spricht, dass „sich die Zugänge zu Bildungsgerechtigkeit im Sinne einer Verteilungs-, Teilhabe- und Anerkennungsgerechtigkeit sowohl im Hinblick auf ihr Verständnis von Bildung als auch von der Gerechtigkeit unterscheiden und jeweils unterschiedliche pädagogische und politische Interventionen nahe legen“ (Seite 126).
Das fünfte und letzte Kapitel beschäftigt sich nun mit dem Thema „Handlungsfelder und Ansätze der Förderung von Bildungsgerechtigkeit im Ganztag: Soziale Arbeit und die Gestaltung von Bildungsprozessen“. Die potenziale Soziale Arbeit im Kontext von Bildungsgerechtigkeit werden ab Seite 131 ausgeführt und die Aspekte einer ungleichheitskritischen und gerechtigkeitsorientierten Schulentwicklung ausformuliert, als Grundlage einer Kooperation und Vernetzung im Sozialraum und einer Bildungspolitik für Bildungsgerechtigkeit.
Das abschließende Kapitel zeigt die Ebenen, auf denen der Anspruch eines Ganztags als Bildungsoffensive eingelöst werden können. „Maßgebend ist dabei die konsequente Orientierung an Bildungsgerechtigkeit im Sinne einer Anerkennungs- und Teilhabegerechtigkeit, die die Ermöglichung von Autonomie und Selbstbestimmung fokussiert, die Strukturen des Bildungssystems daran misst und entsprechend auch notwendige Veränderungen denkt“ (Seite 161).
Diskussion
Das ganze Buch bildet in einer für wissenschaftliche Werke überschaubaren und eher handhabbaren Länge von 160 Seiten die wesentlichen theoretischen Aspekte, die man zum Thema Bildungsgerechtigkeit kennen muss und entwickelt eine Grundlage für eine Kooperation zwischen Sozialer Arbeit und Schule (ausbuchstabiert in den Feldern Schulsozialarbeit und Jugendarbeit), die die bisherigen Probleme überwinden kann, weil sie auf der Grundlage einer ausformulierten Strategie Ziele und Handlungsfelder für einen kooperativen Ganztag formuliert. Dabei werden Bildungsansprüche von Schule und „Allmachtsfantasien“ von Bildung offengelegt und kritisiert sowie Elemente der Sozialen Arbeit, wie z.B. die Fokussierung auf die Freiraumbedarfe von jungen Menschen, ihre Anerkennung und Teilhabe ausgebreitet.
Bedeutende Theorien, wie z.B. die von Bourdieu und seinem Habitus-Konzept werden nicht nur aufgegriffen, sondern auch noch einmal kurz erklärt, sodass das Buch insgesamt auch ein kleines Handbuch zu Bildungsbegriffen und Theorien im Umfeld des Themas Bildungsgerechtigkeit darstellt. Die Fokussierung auf den Ganztag gibt dem Buch eine aktuelle Note, wobei die Kooperation zwischen Sozialer Arbeit und Schule grundlegend betrachtet wird.
Fazit
Das anspruchsvolle Buch, das aber sehr leserfreundlich ist, bietet an vielen Stellen durch die eingebauten Kästen Resümees, Zusammenfassungen und Fokussierungen Haltepunkte für die Leserinnen und den Leser. Das Buch ist aber kein Praxisbuch, sodass auch die Bereiche von Schulsozialarbeit und Kinder- und Jugendarbeit hier keine Praxiskonzepte etc. erwarten können.
Rezension von
Prof. Dr. rer.soc. Ulrich Deinet
Dipl.-Pädagoge, bis 2021 Professur für Didaktik/Methodik der Sozialpädagogik an der Hochschule Düsseldorf, Co-Leiter der Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und –Entwicklung FSPE; Mitherausgeber des Online-Journals sozialraum.de. Freiberuflicher Kindheits- und Jugendforscher, Seminarleiter, Berater und Referent, Themen: Kooperation von Jugendhilfe und Schule, Schulsozialarbeit, Ganztagsbildung, Offene Kinder- und Jugendarbeit, Sozialraumorientierung, Konzept- und Qualitätsentwicklung.
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