Heinz Cornel, Christian Ghanem et al. (Hrsg.): Resozialisierung
Rezensiert von Prof. Dr. Günter Rieger, 12.11.2024
Heinz Cornel, Christian Ghanem, Gabriele Kawamura-Reindl, Ineke Pruin (Hrsg.): Resozialisierung. Handbuch für Studium, Wissenschaft und Praxis.
Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2023.
5., aktualisierte und erweiterte Auflage.
663 Seiten.
ISBN 978-3-8487-8331-1.
58,00 EUR.
Reihe: NomosHandbuch.
Thema
„Zur Umsetzung des Resozialisierungsauftrags bedarf es in der Praxis des Strafvollzugs und der Straffälligenhilfe eines breiten rechtlichen, kriminologischen, methodischen und institutionellen Wissens“ (Klappentext). Das Handbuch „Resozialisierung“ hat hier den Anspruch für „in der Praxis der Resozialisierung Tätige, Lernende und Forschende einen weiterführenden Überblick zu geben und dabei interdisziplinär die notwendigen und aktualisierten Fachkenntnisse zu vermitteln“. Die vorliegende 5., aktualisierte und erweiterte Neuauflage erscheint mit neuem Herausgeberteam (Rüdiger Sonnen beendet seine Herausgebertätigkeit und das Herausgeberteam Heinz Cornel und Gabriele Kawamura-Reindl wird um Christian Ghanem und Ineke Pruin erweitert) 5 Jahre nach der 4. Auflage und steht in der Tradition des erstmals 1995 erschienenen, damals von Heinz Cornel, Bernd Maelicke und Bernd Rüdiger Sonnen herausgegebenen „Handbuch der Resozialisierung“. Gestartet als Pionierleistung auf dem Feld der Resozialisierung mit einem Umfang von 392 Seiten hat sich das Handbuch Resozialisierung längst als Standardwerk (von nunmehr 663 Seiten) in Praxis, Lehre und Forschung etabliert.
Autor:in oder Herausgeber:in
Prof. Dr. Heinz Cornel, Jurist, Dipl.-Pädagoge; von 1988–2019 Professor für Jugendrecht, Strafrecht und Kriminologie an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin (Mitbegründer des Handbuchs der Resozialisierung)
Prof. Dr. Christian Ghanem, Sozialarbeiter (B.A./M.A.), Bewährungshelfer, seit 2019 Professor für Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit an der Technischen Hochschule Nürnberg
Prof. Gabriele Kawamura-Reindl, Dipl.-Kriminologin, Dipl.-Sozialarbeiterin, von 1988–2023 Hochschullehrerin an der Fakultät Sozialwissenschaften der Technischen Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm.
Prof. Dr. jur. Ineke Pruin, Professorin am Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Bern.
Entstehungshintergrund
Fünf Jahre nach der 4. Auflage des Handbuchs geht es den Herausgebern wesentlich um die „Aktualisierung und Weiterentwicklung“ des Handbuchs. Für die Neuauflage wurden zwei neue Herausgeber*innen (Ghanem und Pruin) sowie eine Vielzahl neuer Autor*innen gewonnen. Der Seitenumfang des Herausgeberbandes ist im Vergleich zur vorherigen Ausgabe im Wesentlichen gleich geblieben.
Aufbau und Inhalt
Für die 5. Auflage wurde die bewährte Gliederung in fünf große Abschnitte beibehalten:
- Grundlagen
- Resozialisierung junger Menschen
- Resozialisierung erwachsener Menschen
- Besondere Zielgruppen und Problemlagen
- Vertiefungsgebiete
Dabei hat man für die Überschriften der Abschnitte B und C die Bezeichnung der verhandelten Lebensabschnitte im Sinne einer zeitgemäßeren und weniger diskriminierenden Sprache von „Jugendlicher und heranwachsender Straftäter“ und „erwachsener Straftäter“ schlicht in „junge Menschen“ und „erwachsene Menschen“ umformuliert.
In Abschnitt A Grundlagen werden – wie in den vorherigen Auflagen – (1) der schwierige Begriff der Resozialisierung (auch in Abgrenzung zu Besserung, Erziehung, Sozialisation, Behandlung, Integration und Rehabilitation) erörtert, (2) die Rechtsgebiete der Resozialisierung besprochen (beides Heinz Cornel), (3) Resozialisierung und strafrechtliche Sozialkontrolle als „Überblick über die Sanktionssysteme im Jugendstrafrecht und im Erwachsenenstrafrecht (auch Allgemeines Strafrecht) in Deutschland sowie über die Kriminalitätsentwicklung und Sanktionierungspraxis anhand offizieller Statistiken“ (S. 67) berichtet (neue Autorin Kirstin Drenkhahn) und schließlich in Kapitel (5) Resozialisierung in den Kontext internationaler Menschenrechtsstandards gesetzt (wie bisher (Frieder Dünkel). Neu hinzugekommen ist das Kapitel (4) zu Desistance und Resozialisierung (von Christian Ghanem und Hannes Stadler). Hier wurde offensichtlich einer Kritik aus der Rezension von Wolfang Klug zur 4. Auflage, die die fehlende Vertiefung des Desistance Ansatzes deutlich beklagt hatte, Rechnung getragen. Der Beitrag zur Desistance-Forschung führt jetzt präzise zu den unterschiedlichen Richtungen dieser seit den 1990-Jahren an Bedeutung gewinnenden Forschungen zu Verlauf und Bedingungen eines Ausstiegs aus kriminellem Verhalten ein und erörtert detailliert die Konsequenzen die sich daraus für die professionelle, sozialarbeiterische Begleitung solcher Prozesse ergeben.
Abschnitt B zur Resozialisierung junger Menschen arbeitet wie bisher die unterschiedlichen Gebiete der Resozialisierungspraxis für Jugendliche und Heranwachsende ab. Dabei wurde auf die bisherige Teilung des Abschnitts in ambulante und stationäre Maßnahmen verzichtet und zwei Kapitel zu Jugendhilfe im Strafverfahren (6) Jugendhilfe im Strafverfahren – Aufgaben und Grundsätze sowie (7) Jugendhilfe im Strafverfahren – Verfahrensbegleitende Jugendhilfe) gestaltet, die die bisherigen Ausführungen zu allgemeiner Jugendhilfe und Jugendgerichtshilfe (alte Begrifflichkeit) ersetzen. Diese Kapitel wurden wie in der letzten Ausgabe von Thomas Trenczek verfasst, der auch das nächste Kapitel (8) Jugendstraffälligenhilfe – Leistungen der Jugendhilfe beigesteuert hat. Es folgen Kap. (9) Geschlossene Unterbringung in der Kinder- und Jugendhilfe (Michael Lindenberg), Kap. (10) Jugendarrest (neu von Anne Kaplan) und Jugendstrafe (von Bernd-Rüdeger Sonnen und (neu) Ineke Pruin).
Abschnitt C beschäftigt sich mit der Resozialisierung im Erwachsenenalter. Hier werden die Themengebiete (12) Gerichtshilfe (Stefan Thier), (13) Bewährungshilfe (Christian Ghanem und Franz Zahradnik (beide neu)), (14) Führungsaufsicht (Rudolf Grosser und (neu) Bernd Kammermeier), (15) Freie Straffälligenhilfe (Gabriele Kawamura-Reindl), (16) Gemeinnützige Arbeit zur Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen (Nicole Bögelein und Gabriele Kawamura-Reindl), (17) Resozialisierung im Kontext von Haftentscheidungshilfe, Haftvermeidung und Untersuchungshaft (Heinz Cornel – Untersuchungshaft ist in der 5. Auflage kein eigenständiges Kapitel mehr), (18) Resozialisierung im Strafvollzug (Heinz Cornel); (19) Maßregelvollzug – Unterbringung und Behandlung für psychisch kranke Straftäter:innen (Gernot Hahn) und (20) Sicherungsverwahrung (Tillmann Bartsch) behandelt. Neu hinzugekommen ist in diesem Abschnitt der Beitrag von Gernot Hahn zum Maßregelvollzug. Ein Beitrag zur Zielgruppe der psychisch Kranken Straftäter*innen war in der vorherigen Ausgabe noch im Abschnitt D. Besondere Zielgruppen und Problemlagen angesiedelt und ist dort in der 5. Auflage folgerichtig entfallen.
Statt dessen wurde Abschnitt D nun um einen Text zu Wohnungslosigkeit ergänzt. Dieser Abschnitt zu den besonderen Zielgruppen und Problemlagen beschäftigt sich mit (21) der Resozialisierung straffälliger Frauen (Gabriele Kawamura-Reindl), (22) Drogenkonsumierende[n] Menschen in Haft (Heino Stöver), (23) der Behandlung von männlichen Gewalt- und Sexualstraftätern im Strafvollzug (Denis Köhler und (neu) Romina Müller), (24) der Resozialisierung bei nicht-deutscher Staatsangehörigkeit (Christine M. Graebsch), (25) Resozialisierung und Verschuldung (Carsten Homann), (26) Wohnungslosigkeit (Marion Müller und Sebastian Kleele (beide neu) sowie (27) Arbeitslosigkeit (Ernst-Georg Henke und Eduard Matt (beide neu)).
Abschnitt E beginnt nun mit einem neuen eigenen Kapitel (28) zu Restorative Justice von Christoph Willms (neuer Autor). Es folgen die Beiträge (29) zum Täter-Opfer-Ausgleich (Frank Winter), (30) zu den Hilfen für Angehörige Inhaftierter (Gabriele Kawamura-Reindl), (31) den Rechtsfolgen nach dem Registerrecht (Bern-Rüdeger Sonnen), (32) zu Schweigepflicht – Datenschutz – Zeugnisverweigerungsrecht (Klaus Riekenbrauk), (33) zu Gnadenrecht und Gnadenpraxis (jetzt von Achim Kruppke und Marcus Rogge), (34) der Gestaltung von Übergängen (Ineke Pruin), (35) der Kriminalpolitik für ein Resozialisierungsgesetz (Heinz Cornel, Frieder Dünkel, Ineke Pruin, Bernd-Rüdeger Sonnen und Jonas Weber) und schließlich (36) Opferhilfe (Jutta Hartmann und Rosmarie Priet). Ganz weggefallen ist das Thema Resozialisierung, Medien- und Öffentlichkeitsarbeit.
Diskussion
Insgesamt bleibt festzustellen, die Neuausgabe des Handbuchs Resozialisierung ist gelungen. Sie ist gründlich aktualisiert und bezieht neueste (dort wo nötig und möglich auch englischsprachige) Literatur mit ein. Es wurde insbesondere mit Artikeln zu Desistance, Wohnungslosigkeit sowie Restorative Justice sinnvoll ergänzt und weiterentwickelt. Die 36 Kapitel des Handbuchs stellen ihre jeweiligen Themenbereiche umfassend dar und bieten umfangreiche Literaturlisten für die Weiterarbeit. Das Handbuch Resozialisierung darf getrost weiterhin als Standardwerk bezeichnet werden. Zu Recht heißt es im Klappentext: „Die 5., aktualisierte Neuauflage […] vermittelt praxisorientierte interdisziplinäre Fachkenntnisse rund um Resozialisierung, Erziehung und Sozialisation. Das Handbuch berücksichtigt aktuelle rechtliche Entwicklungen und kriminologische Erkenntnisse und zeigt eine Vielzahl von möglichen Resozialisierungsmaßnahmen und Hilfeleistungen für straffällig gewordene Menschen auf“.
Was fehlt? Die in früheren Rezensionen beobachtete und kritisierte Dominanz der juristischen Perspektive bleibt bestehen, ist angesichts der justiznähe des Feldes aber auch nicht ganz unberechtigt. Dass das für den Bereich der Resozialisierung inzwischen ausdifferenzierte sozialarbeiterisch-methodische Repertoire vergleichsweise stiefmütterlich behandelt wird, ist aus Sicht der Sozialen Arbeit nach wie vor unbefriedigend, ist inzwischen aber besser zu verschmerzen. Das Handbuch Resozialisierung richtet sich eben an alle im Bereich der Resozialisierung engagierten Berufsgruppen (Sozialarbeitende, Juristen, Psychologen, Vollzugsbedienstete usw.) und speziell für Studium und Praxis der Sozialen Arbeit sind in den letzten Jahren eine ganze Reihe guter Einführungs- und Lehrbücher mit einer stärker methodischen Ausrichtung erschienen (Cornel 2021 (https://www.socialnet.de/rezensionen/28172.php); Nickolai/Bukowski 2018 (https://www.socialnet.de/rezensionen/24613.php); Kawamura-Reindl/Schneider 2015 (https://www.socialnet.de/rezensionen/19615.php); Klug 2004 (https://www.socialnet.de/rezensionen/1091.php); Klug/Niebauer (2021): Soziale Arbeit in der Justiz. Professionelles Selbstverständnis und methodisches Handeln. Stuttgart: Kohlhammer). Dennoch bleiben auch Lücken. So wurde Teil A Grundlagen sinnvoll durch die Einführung zur Desistance-Forschung und ihre Konsequenzen für Resozialisierungshandeln ergänzt, wünschenswert wäre hier darüber hinaus aber ein Beitrag der grundlegend zu Kriminalpolitik (auch international vergleichend) einführt (zumal der in früheren Auflagen vorhandene Artikel zu Resozialisierung und Medien schlicht weggefallen ist!). Im Bereich der besonderen Zielgruppen (Teil D) vermisst der Rezensent Beiträge zu psychischen Problemen und Störungen in Haft (ein Thema das in den letzten Jahren deutlich an Brisanz gewonnen hat) ebenso wie das Themen Resozialisierung alter Menschen sowie Extremismus und Radikalisierung. Schließlich könnte man sich im Bereich E. Vertiefungsgebiete noch vor Opferhilfe einen Beitrag zu Bürgerengagement, Ehrenamtlichkeit, Selbsthilfe und Partizipation im Bereich Resozialisierung vorstellen.
Fazit
Das besprochene Handbuch bietet einen breit gefächerten, profunden Überblick über relevante Themenfelder der Resozialisierung. Es ist im besten Sinne des Wortes ein Handbuch, geeignet für „Studium, Wissenschaft und Praxis“. Wer in diesem schwierigen Arbeitsfeld grundlegende Orientierung (mit Blick auf die unterschiedlichen Handlungsfelder und ihre Resozialisierungsaufgaben, Organisation sowie Hilfsangebote (Jugendhilfe im Strafverfahren, Gerichtshilfe, Bewährungshilfe, Führungsaufsicht usw.) sucht oder sich zu bestimmten Problemlagen und Fragestellungen zum Umgang mit straffälligen Menschen in Strafvollzug und Straffälligenhilfe einarbeiten will, findet im Handbuch das nötige Basiswissen und umfangreich Literatur- und Quellenhinweise, um die eigenen Studien zu vertiefen.
Rezension von
Prof. Dr. Günter Rieger
Studiengangsleiter Soziale Dienste in der Justiz, Fakultät Sozialwesen DHBW Stuttgart
Website
Mailformular
Es gibt 13 Rezensionen von Günter Rieger.
Zitiervorschlag
Günter Rieger. Rezension vom 12.11.2024 zu:
Heinz Cornel, Christian Ghanem, Gabriele Kawamura-Reindl, Ineke Pruin (Hrsg.): Resozialisierung. Handbuch für Studium, Wissenschaft und Praxis. Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2023. 5., aktualisierte und erweiterte Auflage.
ISBN 978-3-8487-8331-1.
Reihe: NomosHandbuch.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32037.php, Datum des Zugriffs 12.12.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.