Sascha Lübbe: Ganz unten im System
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 14.05.2024
Sascha Lübbe: Ganz unten im System. Wie uns Arbeitsmigrant*innen den Wohlstand sichern. Hirzel Verlag (Stuttgart) 2024. 200 Seiten. ISBN 978-3-7776-3408-1. 22,00 EUR.
Der hässliche Rand der „heilen Welt“
Die Gesellschafts- und Kapitalismuskritik deckt auf, dass lokal und global die Wohlhabenden immer reicher und die Habenichtse immer ärmer werden. Diese Entwicklung widerspricht der humanen, menschenrechtlichen Forderung, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“ (Menschenrechtsdeklaration).
Entstehungshintergrund und Autor
Es gehe einiges schief in der Welt. Ökonomische und fiskalische Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Überfluss einerseits und Not andererseits, Migration und Flucht, Arbeit und Arbeitslosigkeit, Wohlstand und Prekariat. Der Berliner Journalist und Reporter Sascha Lübbe schaut mit seinem Buch auf diejenigen, die im gesellschaftlichen Diskurs allzu oft übersehen, als Selbstverständlichkeit oder Achselzucken wahrgenommen werden: „Miganten, die auf deutschen Baustellen und Autobahnen und in Schlachthöfen arbeiten“. Es sind die gesellschaftlich „Unsichtbaren“ und „Vernachlässigten“, die unsere Aufmerksamkeit und Solidarität erfordern. Sie werden gebraucht und sie sind nützlich.
Aufbau und Inhalt
Die Studie beginnt mit Fakten. Das deutsche BIP beträgt rund 4,5 Billionen US-Dollar. Das drückt aus, dass aktuell Deutschland drittgrößte Volkswirtschaft der Welt ist. Der Human Development Index, mit dem der ökonomische und gesellschaftliche Entwicklungsstand eines Landes gemessen wird, liegt immerhin weltweit auf dem neunten Platz von 191 Ländern. Lübbe geht der Frage nach, „wie sich das System der Branchen mit hohem Migrationsanteil etabliert hat, warum es sich hält“. In Fallbeispielen zeigt der Autor individuelle, prekäre Lebens- und Arbeitsverhältnisse von Migranten auf: „Auf dem Bau“ – „Im Schlachthaus“ – „Auf der Autobahn“. Es sind die staatlichen und ökonomischen Abhängigkeitsverhältnisse, Bürokratien und Kontrollmechanismen (Ausländerbehörden, Polizei, Zoll). Es sind egoistische, profitable, korrupte, bis hin zu kriminellen Machenschaften, die die alltäglichen Lebenssituationen bestimmen. Es sind die Arbeitsentgelte, Mindestlöhne und Abzüge, die Macht bei den Arbeitgebern und Konzernen verdeutlichen und Ohnmacht bei den abhängig Beschäftigten bewirken. Im deutschen Arbeitsrecht wird immerhin festgelegt, welche Möglichkeiten Arbeitnehmer haben: Durch Gewerkschaften, durch Streiks, Demonstrationen, Gerichtsbarkeit.
Diskussion
In den Zeiten der Globalisierung, der Wirtschafts-, Finanz- und Schuldenkrisen (David Graeber, Schulden, 2012) wirken kapitalistische, egozentristische Entwicklungen in besonderer, prekärer Weise. Gewinner und Verlierer in gesellschaftlichen Prozessen werden überdeutlich sichtbar, und zwar individuell, lokal und global. Die Werte „Haben und Sein“ treten als Bestandsaufnahmen der konkreten, aktuellen ökonomischen Entwicklungen zutage, und es werden Forderungen nach Veränderungen und Perspektivenwechsel laut. „Die Dreifaltigkeit der ‚Losen‘ (Arbeits-, Obdach- und Papierlose) belegt den Zustand symbolischer Irregularität, in dem sich Ränder und Risse der Sozial- und Stadtstruktur befinden“. Auf diesen Zustand hat 2009 die internationale Konferenz „Prekarisierung und Flexibilisierung: Umorientierung und neue Qualitäten innerhalb der Sozialstruktur; ökonomische und ideologische Perspektiven – Precarity and Flexibilisation; The New Qualities of the Social Structure Re-orientation of Economical and Ideological Perspectives“ hingewiesen: Deutsche, französische, italienische, dänische, polnische, Schweizer, österreichische, türkische und US-amerikanische Expertinnen und Experten, die sich im Netzwerk SUPI (Social Uncertainty Precarity Inequality) zusammen geschlossen haben, diskutierten die unterschiedlichen theoretischen und wissenschaftlichen Sichtweisen und nationalen Besonderheiten, analysierten die vielfältigen Dimensionen einer „social quality“ und stellten Lösungsansätze zur „precarity“ vor. Sie spannten einen weiten, interdisziplinären Bogen und verdeutlichten eine „neue Qualität sozioökonomischer Konfliktfelder, die unter den Bedingungen der Finanzkrise verstärkt die (jeweilige, JS) Gesellschaft prägen“ (Rolf-Dieter Hepp, Hrsg., Prekarisierung und Flexibilisierung, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/​13527.php). Die eher peinliche Frage: „Wieviel Sklaven halten Sie?“ darf nicht verdrängt werden (Evi Hartmann, Wie viele Sklaven halten Sie?, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/​21952.php).
Fazit
„Wir da oben, ihr da unten!“ – die Denk- und Handlungshierarchie gilt es aufzulösen. Wir sind aufgefordert, empathisch und solidarisch zu leben. Denn: Die einfache, ehrliche Nachdenke – „Wo stünde Deutschlands Wirtschaft ohne sie, die Unsichtbaren?“ – müsste jeden, der selbst denkt, die Augen öffnen und den Fake-Newsern, den Egoisten, Populisten und Nationalisten ein Contra entgegen setzen!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 14.05.2024 zu:
Sascha Lübbe: Ganz unten im System. Wie uns Arbeitsmigrant*innen den Wohlstand sichern. Hirzel Verlag
(Stuttgart) 2024.
ISBN 978-3-7776-3408-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32044.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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