Thorsten Benkel, Matthias Meitzler (Hrsg.): Mythenjagd
Rezensiert von Prof. Dr. Joachim Thönnessen, 21.08.2024
Thorsten Benkel, Matthias Meitzler (Hrsg.): Mythenjagd. Soziologie mit Norbert Elias. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2023. 296 Seiten. ISBN 978-3-95832-331-5. D: 39,90 EUR, A: 39,90 EUR, CH: 44,90 sFr.
Thema
Norbert Elias (1897-1990) ist ein soziologischer Klassiker. Sein Werk ist vielfältig und divers, was der vorliegende Sammelband deutlich demonstriert. Verschiedene Aspekte aus dem umfassenden Œuvre von Elias werden ausführlich betrachtet, diskutiert und teilweise auch erweitert.
Herausgeber
Thorsten Benkel ist Akademischer Oberrat für Soziologie an der Universität Passau. Matthias Meitzler ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften an der Eberhard Karls-Universität Tübingen (vgl. Klappentext der Veröffentlichung) und u.a. Mitbegründer des „Arbeitskreises Thanatologie“ der DGS-Sektion „Wissenssoziologie“ sowie Mitherausgeber des „Jahrbuchs für Tod und Gesellschaft“ (https://uni-tuebingen.de/forschung/​zentren-und-institute/​internationales-zentrum-fuer-ethik-in-den-wissenschaften/team/matthias-meitzler/).
Entstehungshintergrund
Der Geburtstag von Norbert Elias jährte sich am 22. Juni 2022 zum 125. Mal. Die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes organisierten wenige Tage später – am 24. und 25. Juni – an der Universität Passau eine Tagung, die Elias' Lebenswerk zum Inhalt hatte. Unter dem Titel „Norbert Elias und…“ wurde ein Austausch über mannigfaltige Aspekte ermöglicht. Dabei ging es, so die Herausgeber (S. 11), „ausdrücklich darum, nicht nur den Zivilisationsprozess, seine Genese, seine Zukunft, seine Probleme und seine Ausfransungen zu analysieren, sondern mit Elias Gesellschaft zu verstehen“.
Aufbau
Als Ergebnis der Konferenz konnten Artikel mit Beiträgen zu sozialtheoretischen und methodologischen Aspekten, aber auch zu Elias' Betrachtung von Geschlechterverhältnissen, vorstaatlichen Gesellschaften, Gewalt, Körper, Jugendlichen, Zeit und Sterben (vgl. S. 11) veröffentlicht werden.
Inhalt
Der Sammelband beginnt mit einem kurzen Geleitwort von Hermann Korte (von 1974 bis 2000 Professor für Soziologie an den Universitäten Bochum und Hamburg; Mitglied des P.E.N.-Zentrums Deutschland und des Vorstandes der Norbert Elias-Stiftung in Amsterdam) und einer Einführung der Herausgeber Thorsten Benkel und Matthias Meitzler.
In Teil eins finden wir die Verschriftlichung eines Vortrags, den Norbert Elias am 31. März 1981 als Eröffnungsvortrag im Rahmen eines „Seminar(s) mit internationaler Beteiligung“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin gehalten hat. Der im Tagungsprogramm angekündigte Titel „Zivilisatorische Wandlungen der Einstellung zum Körper“ wurde in einer finalen Version vier Tage vor der Präsentation verschriftlicht und in „Die Wiederentdeckung des Körpers“ umgeändert (aus der editorischen Notiz, S. 15).
Teil zwei des Sammelbandes besteht aus insgesamt zwölf verschiedenen Artikeln. Artikel eins stammt von Thorsten Benkel und heißt „Elias und das Blut. Zivilisationsgeschichte als Prozess der Domestizierung des Körpers“ (S. 33–65). Thematisiert werden auf das Thema „Blut“ bezogene Konnotationen, kulturelle Vorbehalte und deren (De-) Mystifizierung. Artikel zwei stammt von Matthias Meitzler (S. 66–103). Er beschäftigt sich mit Norbert Elias' Betrachtungen zum Lebensende und ihrer gegenwärtigen Relevanz. Der dritte Artikel stammt von Joachim Fischer (S. 104–119). Er konzentriert sich auf die Sozialtheorie von Norbert Elias und identifiziert deren Kern zum einen in der Theorie des mehrperspektivischen Systems der Personalpronomen und zum anderen in der dementsprechenden Theorie der mehrperspektivischen Figuration: „Als der Clou von Elias' Sozialtheorie erscheint mir seine Grundthese von der Fürwörterserie als Figuration“ (S. 114). Beitrag Nummer vier ist von Stefanie Ernst (S. 120–136). Ihr geht es um eine exemplarische Rekonstruktion der „ambivalenten Genese zeitgenössischer Egalitätsideale und -erwartungen im Geflecht funktionaler Interdependenzen und gewandelter Machtverhältnisse“ (S. 121). Auch der nächste Autor, Lutz Hieber, betrachtet Geschlechterbeziehungen, geht dabei allerdings zurück zum absolutistischen Adel. Er fragt nach der Bedeutung damaliger Geschlechterbeziehungen für die Gegenwart (S. 137–162). Zu diesem Zweck betrachtet und kommentiert Hieber Bilder aus der damaligen Zeit und verwendet sie als visuelle Quellen. Er verdeutlicht: Solche Quellen besitzen eine wichtige Funktion für ein angemessenes Verständnis der schriftlichen Überlieferungen: „Wertorientierungen sind mit ästhetischen Präferenzen verbunden – und so eröffnen die Bilder, die für die höfische Kultur geschaffen wurden, Einblicke in die Lebensbedingungen und in den psychischen Habitus der höfischen Aristokratie“ (S. 137). Beitrag sechs (S. 163–185) stammt von Mirco Spiegel. Ihm geht es um die menschliche Wahrnehmung und ihre Einbettung in soziale Strukturen.
Norbert Elias wurde in Breslau geboren und hat in Leicester, in Amsterdam und in Bielefeld gelebt und gearbeitet. Zudem war er als Professor von 1962–1964 an der Universität Accra in Ghana zu Gast. Dieter Reicher von der Grazer Universität befasst sich in seinem Beitrag „Zivilisationsprozesse vor dem Staat?“ mit 'staatenlosen' Gesellschaften in Afrika und ordnet diese in weltgeschichtliche Entwicklungslinien ein (S. 186–201). Der achte Beitrag ist von Peter Fischer und thematisiert methodologische Aspekte in Elias' historischer Soziologie (S. 202–219). Beitrag neun stammt von Nico Wettmann und Frederik Peper (S. 220–240). In ihrem Artikel geht es um den Schlaf bzw. genauer um die Methoden digitaler Schlafvermessung. Adele Bianco (S. 241–258) beleuchtet das Thema „Jugend/​Jugendliche“: „Junge Menschen waren für Elias eine treibende Kraft für gesellschaftlichen Wandel und verkörpern somit Übergangsprozesse“. Der vorletzte Beitrag des Bandes stammt von Jan Tobias Fuhrmann und beschäftigt sich mit dem „Regiment der Uhr- und Kalenderzeit“ (S. 259–281). Abgeschlossen wird der Sammelband mit einem Beitrag zu „Norbert Elias aus editorischer und archivalischer Sicht“ von Adrian Jitschin (S. 282–291). Und zuallerletzt finden wir kurze Beschreibungen der Autorinnen und Autoren.
Diskussion
Der Titel, den die Herausgeber ihrem Sammelband gegeben haben, mag überraschen. Als „Mythenjäger“ ist Norbert Elias wohl eher selten bezeichnet worden. Eher als Menschenwissenschaftler (Korte 2013), Wirklichkeitswissenschaftler (dieser Begriff geht auf Max Weber zurück), Zivilisations-, Figurations- oder Prozesssoziologe (Atkinson 2012; Thönnessen 2001; Treibel 2008). Dennoch ist es berechtigt, von Elias als Mythenjäger zu sprechen, versteht er doch die Wissenschaft ('seine' Wissenschaft) als „Entlarvung von zusammenfassenden Vorstellungsmythen“, welche „immer eine Aufgabe der Wissenschaften“ bleibt, selbst dann bzw. weil „innerhalb oder außerhalb der Gruppe von wissenschaftlichen Spezialisten…wissenschaftliche Theorien selbst häufig genug in Glaubenssysteme“ (Elias 1971, S. 54, zit. n. Benkel/​Meitzler 2023, S. 9) umgewandelt werden. Elias geht es mithin um die Tatsachenbeobachtung. Weitere prägende Elemente sind a) die Annahme einer generellen Verflochtenheit von Menschen in interdependenten Beziehungen, die weder auf subjektive Absichten noch auf subjektlose Strukturen reduziert werden können, und b) die Auffassung, dass Gesellschaft nicht als ein statischer Zustand, sondern als immer in Entwicklungen befindlich zu verstehen ist (Haut 2017).
Vor diesem theoretischen Hintergrund kann beobachtet werden, dass sich die einzelnen Beiträge mehr oder weniger stark an Elias' Herangehensweise ausrichten. Typisch für jemanden, der sich an Elias' wissenschaftlichem Verständnis ausrichtet, ist beispielsweise der hervorragende Beitrag von Lutz Hieber. Hier werden die Geschlechterbeziehungen anhand von Bildern aus der Zeit des absolutistischen Adels bis hin zur Beat-Generation der 70er Jahre und darüber hinaus rekonstruiert.
Durch die Beschäftigung mit dem Sammelband wird dem geneigten Leser/der geneigten Leserin die Vielfalt der Themen verdeutlicht, die Elias abgedeckt oder zumindest angesprochen hat. Deutlich wird, dass dieser Autor nicht auf seine Zivilisationstheorie reduziert werden kann (was häufig genug geschieht). In dem Geleitwort von Hermann Korte, wird beispielsweise auf unmissverständliche Weise Bezug genommen auf die gegenwärtige politische Lage in Deutschland und in Europa. Korte schreibt, dass Elias keine wirkliche Richtung des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses identifizieren konnte. Rückschläge, Katastrophen und Zusammenbrüche seien mit Elias' theoretischem Modell vereinbar. Solche 'Entzivilisierungsschübe' (Elias) können in Barbarei ausarten. In den warnenden Worten von Hermann Korte: „… angesichts der momentanen Situation in Deutschland, in Europa, in der westlichen Welt kann man nun wirklich feststellen: Ja, wir sind die späten Barbaren“ (S. 7). Und weiter schreibt er: Wir sind noch längst nicht dort, wo Zivilisation sein könnte. Anstatt dem Mythos nachzuhängen, dass wir die Zivilisation erreicht haben, sollten wir die Prozesse, denen wir begegnen und an denen wir oft Anteil haben, untersuchen (ebd.). Weise Worte, finde ich.
Fazit
Elias als Mythenjäger zu bezeichnen, der mythologischen Verzweigungen nachforscht und sich dafür in eine distanzierte Beobachterposition begibt (für Elias war diese eine nicht hintergehbare Bedingung für eine Person, der/die Wissenschaft der Soziologie ernsthaft betreiben wollte), hat einen sehr weiten, offenen Zugang zu seinem Werk zur Folge. Dieser wurde von den Herausgebern bewusst gewählt: „…aktuelle Bezüge, laufende Forschungsarbeiten, empirische Anwendungen, Theorievergleichsoptionen, mithin also Anschlüsse aus verschiedenen soziologischen Arealen“ (S. 11) konnten eingebracht werden. Ergebnis ist eine bunte, facettenreiche Sammlung verschiedener Perspektiven auf das Elias'sche Werk.
Literatur
Atkinson, Michael (2012). Norbert Elias and the Body. In: Bryan S. Turner (Hrsg.), Routledge Handbook of Body Studies (S. 49–61). London u.a.: Routledge. https://doi.org/10.4324/9780203842096
Elias, Norbert (1970). Was ist Soziologie? München: Juventa Verlag.
Haut, Jan (2017). Figurationssoziologie. In: Gugutzer, R., Klein, G., Meuser, M. (eds): Handbuch Körpersoziologie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-04136-6_30.
Korte, Hermann (2013): Über Norbert Elias. Das Werden eines Menschenwissenschaftlers. 3. Auflage, Wiesbaden: Springer Verlag. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19909-2
Thönnessen, Joachim (2001): Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft. In: Papcke, Sven/Oesterdiekhoff, Georg W. (Hg.), Schlüsselwerke der Soziologie. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag GmbH, S. 131 – 133. https://doi.org/10.1007/978-3-658-02378-2
Treibel, Annette (2008). Die Soziologie von Norbert Elias. Eine Einführung in ihre Geschichte, Systematik und Perspektiven. Wiesbaden: VS. https://doi.org/10.1007/978-3-531-91171-7
Rezension von
Prof. Dr. Joachim Thönnessen
Hochschule Osnabrück, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Studium der Philosophie und Soziologie in Bielefeld, London und Groningen; Promotion in Medizin-Soziologie (Uniklinikum Giessen)
Mailformular
Es gibt 55 Rezensionen von Joachim Thönnessen.
Zitiervorschlag
Joachim Thönnessen. Rezension vom 21.08.2024 zu:
Thorsten Benkel, Matthias Meitzler (Hrsg.): Mythenjagd. Soziologie mit Norbert Elias. Velbrück GmbH Bücher & Medien
(Weilerswist) 2023.
ISBN 978-3-95832-331-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32048.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.