Petra Grimm, Kai Erik Trost et al. (Hrsg.): Digitale Ethik
Rezensiert von Dr. Christian Geyer, 06.01.2025
Petra Grimm, Kai Erik Trost, Oliver Zöllner (Hrsg.): Digitale Ethik. Handbuch für Wissenschaft und Praxis.
Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2023.
644 Seiten.
ISBN 978-3-7560-1120-9.
58,00 EUR.
Reihe: NomosHandbuch.
Thema
Das Thema des Handbuches ist die ethische Reflexion des weiten Feldes der Digitalität bzw. des digitalen Strukturwandels der Öffentlichkeit. Dazu wird das Feld einerseits kartografiert und der aktuelle Forschungsstand dargestellt, andererseits werden anwendungsorientierte Unterscheidungen und Orientierungen skizziert. Der Begriff „Digitale Ethik“ spiegele die „Synthese der Medien- und der Informationsethik wider und integriert auch die anderen … Forschungs- und Anwendungsfelder“ (11). Gemeint sind die Technik-, Daten-, Internet-, Hacker- und Roboterethik sowie die Ethik der Künstlichen Intelligenz.
Herausgeber:in
Petra Grimm ist Professorin für Digitale Ethik, Ethik der KI und Medienwissenschaft sowie Leiterin des Instituts für Digitale Ethik der Hochschule der Medien in Stuttgart.
Andreas Langer ist wissenschaftlicher Koordinator am Institut für Digitale Ethik an der Hochschule der Medien in Stuttgart und Lehrbeauftragter der Universität Würzburg.
Oliver Zöllner ist Professor für Medienforschung, Mediensoziologie und Digitale Ethik sowie Leiter des Instituts für Digitale Ethik der Hochschule der Medien in Stuttgart.
Aufbau und Inhalt
Das Handbuch ist nach der Einleitung der Herausgeber:innen (Kapitel 1) und einem Geleitwort von Rafael Capurro (Kapitel 2) in fünf weitere Kapitel gegliedert. Sie lauten:
- Philosophische Perspektiven und theoretische Zugänge zur Digitalen Ethik (S. 23 – 138)
- Werte der Digitalen Ethik (S. 139 – 249)
- Diskurse der Digitalen Ethik (S. 251 – 397)
- Systeme und Technologien der Digitalen Ethik (S. 399 – 502)
- Praxisfelder der Digitalen Ethik (S. 503 – 650)
Das Handbuch schließt mit einem Verzeichnis der Autor:innen und einem Sachregister.
Die Kapitelüberschriften annoncieren, wie grundsätzlich und wie weit der Bogen gespannt wird. Das Handbuch lädt zum Flanieren im Feld der digitalen Ethik ein und wie es sich für Handbücher gehört, ebenso zum Auslassen, Abkürzen und Nachschlagen. Auch wenn es sich von vorne bis hinten mit Gewinn lesen lässt, sind die einzelnen Beiträge in sich abgeschlossen und können einzelnen genutzt werden. Das Sachregister hilft dabei, Bezüge zwischen den Beiträgen herzustellen.
Die Herausgeber:innen haben sich entschlossen, zunächst fundamental an die Thematik heranzugehen. Das dritte Kapitel „Philosophische Perspektiven und theoretische Zugänge zur Digitalen Ethik“ versammelt Beiträge zu klassischen Moraltheorien wie der deontologischen Ethik (Micha H. Werner), konsequenzialistischen/​utilitaristischen (Dieter Birnbacher) odertugendethischen Ansätzen (Kathi Beier et al.) ebenso wie zu neueren Moraltheorien. So führen weitere Beiträge in Ansätze der narrativen Ethik (Petra Grimm), in den semiotischen (Hans Krah), in ästhetische (Susanne Kuhnert), in konfuzianische (Oliver Zöllner), in zen-buddhistische (Oliver Zöllner) und lateinamerikanische (Eduardo Villanueva Mansilla) Ansätze ein. Die Einführung in den jeweiligen Ansatz wird in der Regel mit einer digital-ethischen Fragestellung verknüpft.
Das vierte Kapitel „Werte der Digitalen Ethik“ widmet sich neun Werten, die einerseits im ethischen Diskurs des Digitalen etabliert sind und andererseits aus Sicht der Herausgeber:innen „in digitalen Kontexten und im Umgang mit digitalen Artefakten besondere Berücksichtigung erfahren sollten“ (S. 13). Dazu zählen:
- Wahrheit (Alexander Filipović)
- Autonomie (Larissa Kramer)
- Freiheit (Jessica Heesen)
- Verantwortung (Rüdiger Frank)
- Freundschaft (Kai Erik Trost)
- Gerechtigkeit (Christian Fuchs)
- Privatheit (Julia Maria Mönig)
- Sicherheit (Regina Ammicht Quinn)
- Nachhaltigkeit (Maike Gossen/​Tilmann Santarius)
Auch in diesem Kapitel führen die Autor:innen einerseits in die philosophische Bedeutung des Wertes ein und skizzieren andererseits dessen Geltung für das Digitale.
Die „Diskurse der Digitalen Ethik“ werden im fünften Kapitel zusammengetragen und entfaltet. Es handelt sich um eine Auswahl von elf Diskursen, die die Herausgeber:innen getroffen haben, und zwar unter den Gesichtspunkten, dass sie „besonders umfassend“ und aktuell sind sowie dazu beitragen können, „die gesellschaftlich-kulturelle Wertehierarchie“ der liberalen Demokratie zu transformieren (S. 14). Im Handbuch finden sich folgende Diskursthemen:
- Menschenbild (Petra Grimm)
- Überwachung (Dietmar Kammerer)
- Datenschutz (Stefan Brink/​Clarissa Henning)
- Heteronomie (Matthias Pfeffer)
- Diskriminierung (Larissa Krainer)
- Desinformation (Ingrid Stapf)
- Bilder (Christian Schicha)
- Cybermobbing (Verena Weigand)
- Digitale Pornografie (Nicola Döring)
- Influencing (Marcel Schlegel/Kai Erik Trost)
- Utopismus (Jan Doria)
Unter der Überschrift „Systeme und Technologien der Digitalen Ethik“ werden im sechsten Kapitel die Themen
- Geschäftsmodelle (Matthias Karmasin)
- IT-Systeme (Klaus Wiegerling)
- Digitaler Kapitalismus und Bildung (Horst Niesyto)
- Künstliche Moral und Maschinenethik (Catrin Misselhorn)
- Digitale Öffentlichkeit (Lars Rademacher/​Vanessa Kokoschka)
- Autonomes Fahren (Armin Grunwald)
- Robotik (Clarissa Henning)
- Robotik und Weltraum (Nicole van Geel)
verhandelt. Die Auswahl wird von den Herausger:innen so begründet, dass die Themen „die Relevanz innerhalb gegenwärtiger Alltags- und Lebenswelten widerspiegeln“ und neben der „Diskussion aktueller technischer Entwicklungen auch wirtschaftliche und politische Perspektiven berücksichtigen“ (S. 14) sollen. Die Begriffe „Systeme“ und „Technologien“ werden nicht definiert, sodass die Abgrenzung zum fünften und siebten Kapitel schwerfällt und die Zuordnung mitunter willkürlich wirkt.
Das siebte Kapitel eröffnet den Raum für die Analyse der „Praxisfelder der Digitalen Ethik“. Die Herausgeber:innen haben den Anspruch, dass in diesen zwölf Beiträgen sowohl die Werte als auch die Erkenntnisse aus den Diskursen und dem System-/​Technologiekapitel aufgegriffen und „in einzelne gesellschaftliche Handlungsfelder und Verantwortungsbereiche“ überführt werden (S. 14). So reflektieren die Autor:innen Fähigkeiten wie Digitalkompetenz (Nina Köberer), Berufe wie Journalismus (Marlis Prinzing), gesellschaftliche Aufgaben wie Pflege (Claudia Pganini), Trends wie Selbstoptimierung (Stefan Selke) oder Affective Computing (Eva Weber-Guskar) und Praktiken wie Gaming (Martin Hennig) oder Design (Michael Hohendammer). Ebenso werden die Themen Kommunikation (Klaus Beck), Gesundheit (Sebastian Müller et al.), Religion (Frederike von Oorschot), Kulturökologie und Bildung (Ben Bachmair) sowie digitale Diplomatie (Oliver Zöllner) verhandelt.
Diskussion
Der weite Bogen lohnt sich. Die Beiträge dieses Handbuches sind lehrreich und anregend. Sie führen sowohl in die Grundlagen ein als auch in die wichtigsten Argumentationslinien des jeweiligen Themenfeldes. Die Literaturangaben geben einen ersten guten Überblick und orientieren in der Forschungslandschaft.
Leicht ist das Handbuch allerdings nicht. Es wiegt mit seinen 661 Seiten vielmehr schwer in den Händen. Und auch das verstehende Lesen wird denjenigen nicht leicht von der Hand gehen, die in den Disziplinen der Ethik, der Medienwissenschaft und Informationstechnologie noch keinen Heimathafen haben. Doch die Anstrengung wird belohnt. Für diejenigen aber, die sich bereits auskennen, ist es eine vorzügliche Fundgrube und Aussichtsplattform zugleich. Das Handbuch hat das Potenzial, zu einem Standardwerk der digitalen Ethik zu werden. Die interdisziplinäre Perspektivierung und die vielfältigen moraltheoretischen Zugänge laden ein, tiefer in das Feld der ethischen Analyse und Deutung des Digitalen einzusteigen.
Es fällt auf, dass dem Thema Künstliche Intelligenz (KI) kein eigener Beitrag gewidmet ist. Sehr wohl aber dem Thema „Künstliche Moral und Maschinenethik“ (S. 441 – 451). Der Vorzug dieser konzeptionellen Entscheidung liegt darin, dass KI als Querschnittsthema in zahlreichen Beiträgen mit verhandelt und das Thema so in den jeweiligen Diskurs eingebettet wird. Diese Kontextualisierung vermeidet Redundanzen und hilft dem Verstehen. Der Nachteil ist, dass KI als revolutionäres Phänomen nicht systematisch einer ethischen Analyse und Reflexion unterzogen wird. Der ethische Diskurs zur KI kann deshalb nicht zielgerichtet im Handbuch nachgelesen werden.
Fazit
Das Handbuch „Digitale Ethik“ beeindruckt durch den großen Bogen, der von den ethischen Grundlagen über die Werte und Diskurse bis hin in die Praxisfelder geschlagen wird. Die lehrreichen und anregenden Beiträge sind voraussetzungsreich und laden zum wissenschaftlichen Flanieren und Nachschlagen ein.
Rezension von
Dr. Christian Geyer
Fachlicher Vorstand Bathildisheim e.V., Bad Arolsen und Lehrbeauftragter der Hochschule Fulda
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Es gibt 12 Rezensionen von Christian Geyer.
Zitiervorschlag
Christian Geyer. Rezension vom 06.01.2025 zu:
Petra Grimm, Kai Erik Trost, Oliver Zöllner (Hrsg.): Digitale Ethik. Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2023.
ISBN 978-3-7560-1120-9.
Reihe: NomosHandbuch.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32054.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.
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