Fea Finger: Selbst aktiv statt fremd bestimmt
Rezensiert von Alexandra Großer, 04.07.2024

Fea Finger: Selbst aktiv statt fremd bestimmt. Gelingende Partizipation in Kita, Krippe und Kindertagespflege. Verlag Herder GmbH (Freiburg, Basel, Wien) 2024. 112 Seiten. ISBN 978-3-451-39944-2. D: 18,00 EUR, A: 18,60 EUR, CH: 25,90 sFr.
Thema
Fea Finger beleuchtet das Thema Partizipation anhand ausgewählter Praxisbeispiele, wie sie tagtäglich in der Kita vorkommen. Theoretisch fundiert analysiert sie, wie die Rechte der Kinder gewahrt werden, welche Möglichkeiten der Beteiligung die Kinder haben. Gleichzeitig führt sie über die Beispiele in die Grundlagen der Partizipation ein. Mit Reflexionsimpulsen unterstützt die Autorin den Prozess der (Weiter-)Entwicklung zur Partizipation.
AutorIn
Lea Finger ist Kindheitspädagogin B.A., Leitung einer Kita im U3-Bereich, Weiterbildnerin und Beraterin für pädagogische Fachkräfte, Autorin sowie Podcasterin von Fea’s naive Welt.
Aufbau
Das Buch enthält insgesamt 16 Kapitel und 8 Exkurse; neben der Einleitung, dem Dank und den Literaturangaben. Das Bucht stammt aus der Reihe „Blickschulung: erkennen – reflektieren – verändern“, damit beginnt jedes Kapitel, ab Kapitel 2, mit einem Praxisbeispiel, welches anschließend analysiert wird. Einige Kapitel enthalten Hinweise zu verschiedenen Podcastfolgen der Autorin beziehungsweise anderer Autor*innen.
Inhalt
1 Partizipation – was bedeutet das für die pädagogische Praxis?
Fea Finger erläutert zunächst, wie eine gleichwürdige Beziehung zwischen pädagogischen Fachkräften und Kindern aussieht. Denn „eine gleichwürdige Haltung ist [.] die Grundlage für Partizipation“ (S. 8). Neben den rechtlichen Grundlagen, die Kitas dazu verpflichten Kinder im Alltag zu beteiligen, führt Fea Finger aus, was es mit Scheinpartizipation auf sich hat. Sie erläutert, warum pädagogisch Tätige das Thema Macht für sich und im Team reflektieren müssen und was dies mit den eigenen Glaubenssätzen zu tun hat. Damit Partizipation im Kita-Alltag verankert wird, gilt es sich im Team über die Selbst- und Mitbestimmungsrechte der Kinder auszutauschen und ihre Rechte im Alltag umzusetzen. Demokratiebildung bedeutet auch Kinder bei Entscheidungs- und Konfliktlöseprozessen zu beteiligen und zu begleiten. Am Ende des Kapitels geht die Autorin der Frage nach, welche Kompetenzen Kinder als Erwachsene brauchen.
2 Partizipation beginnt im Kopf
Oft wird in Teams Partizipation mit „Entscheidungsgewalt“ (S. 22) verwechselt, indem beispielsweise ein Kind bestimmt, welche Lieder im Morgenkreis gesungen werden. Fea Finger bietet Impulsfragen zur Selbst- und Teamreflexion, um der eigenen Haltung gegenüber Partizipation auf die Spur zu kommen.
3 Partizipation ist ein Dialog
Im Praxisbeispiel geht es um das Thema Windelwechsel. Fea Finger beschreibt in der anschließenden Fallanalyse, Möglichkeiten der Partizipation des Kindes.
4 Selbstbestimmungsrechte, Mitbestimmung & Mithandlungsrechte
Die Rechte der Kinder werden oft verletzt, wenn Wünsche und Bedürfnisse von Kindern mit den Bedürfnissen und Wünschen pädagogischer Fachkräfte und Eltern kollidieren. Es gilt miteinander in einen Aushandlungsprozess zu gehen und beispielsweise Regeln, die schwer einzuhalten sind, zu überdenken und neu miteinander auszuhandeln. „Indem die Kinder die Regeln mit aushandeln und mit beschließen, erfahren sie, dass die Grenze für die eigenen Ideen und Wünsche erreicht ist, wenn diese mit den Vorstellungen anderer Mitglieder der Gemeinschaft kollidieren“ (S. 34). Kinder erleben sich damit als Teil einer Gruppe, deren Regeln immer wieder überprüft und neu ausgehandelt werden (vgl. ebd.).
5 Verständigung über Partizipation im Team
Nicht selten kommt es vor, dass Teammitglieder verschiedene Ansichten zu einem Thema haben. In diesem Fallbeispiel geht es um das Anziehen der Matschhose und wer entscheidet, ob und wann sie angezogen wird. An diesem Beispiel zeigt Fea Finger auf, wie ein Team bei unterschiedlichen Ansichten einen Konsens herstellen kann. Zugleich weist sie daraufhin, dass ein Team sich zunächst über die Grundlagen der Partizipation austauschen muss sowie über Machtabgabe und adultistische Verhaltensweisen. Dies erfordert von allen biografische Reflexionsbereitschaft zur eigenen Teilhabe und Selbstbestimmung in der Kindheit. Im gemeinsamen Prozess ist es hilfreich darüber nachzudenken, wo Kinder informiert werden, was sie bereits mit- und selbstbestimmen können, wo sie noch mehr selbst- und mitbestimmen können und wo sie ein Mitspracherecht haben.
6 Grenzen der Partizipation
Es gibt Grenzen. Die eigenen Grenzen, wenn einem die Höhe im Kletterbaum, die die Kinder erklimmen nicht geheuer ist, die Grenzen der Kolleg*innen. Die eine kann gut mit der Höhe im Kletterbaum umgehen, traut den Kindern dies zu, hat aber vielleicht bedenken, wenn ein Vierjähriger mit einem scharfen Messer Gemüse schneidet. „Die eigenen Grenzen und die der Kolleg:innen zu kennen, macht pädagogische Professionalität aus“ (S. 45). Gleichzeitig geht es darum Kindern „zu bewältigbare Aufgaben zu stellen“ (ebd.); sie dabei zu begleiten und nicht zu über- oder unterfordern sowie ihre Bedürfnisse im Blick zu haben. Denn ein Kind, das müde ist, kann nichts mehr entscheiden. Partizipation heißt auch „Verantwortung für die Situation“ (S. 46) zu übernehmen und Kindern Sicherheit zu geben (vgl. ebd.).
7 Beschwerdemanagement für Kinder
Zur Partizipation gehört auch das Beschwerdemanagement. Sich beschweren können, ernst genommen werden in seinen Bedürfnissen, und über die Beschwerde miteinander in den Dialog zu kommen eröffnet zum einen die Möglichkeit der Veränderung und zum anderen die Möglichkeit einer veränderten Gesprächskultur. Teams haben die Aufgabe Beschwerdeverfahren zu etablieren und immer wieder zu überprüfen. Fea Finger stellt dazu „konkrete Schritte zur Erarbeitung“ (S. 55) sowie Reflexionsimpulse vor.
8 Wie die Empathieschleife dabei hilft, partizipativ zu handeln
In diesem Praxisbeispiel stellt die Autorin eine Situation vor wie sie tagtäglich in Kitas vorkommt. Ein Kind bringt Spielzeug von Zuhause mit, obwohl kein Spielzeugtag ist. Oftmals überreden Erwachsene Kinder dazu das Spielzeug den Eltern wieder mitzugeben. Übersehen werden dabei die Rechte der Kinder und ihre Bedürfnisse. Das Mitbringsel scheint dem Kind an diesem Tag wichtig zu sein. Anhand der Empathieschleife erklärt Fea Finger, wie die pädagogische Fachkraft anders hätte handeln können. In einem Exkurs erklärt sie, was unter Konsequenz zu verstehen ist. Denn oft wird Konsequenz mit Strafen gleichgesetzt. Was eine Missinterpretation des Begriffs darstellt.
9 Ankommen am Morgen
Manchen Kindern und Eltern fällt es schwer sich morgens voneinander zu verabschieden. Die Gründe dafür können vielfältig sein. Abschiedsrituale, Übergansobjekte, Morgenroutinen können dabei helfen den Start am Morgen in der Kita für alle Beteiligte partizipativ und bedürfnisorientiert zu gestalten. Die Autorin plädiert dafür die Morgensituation im Team „unter dem Aspekt der Kinderrechte und speziell im Hinblick auf Partizipation“ (S. 66) zu reflektieren und zu verändern.
10 Herausforderung Morgenkreis
Der Morgenkreis ist in vielen Kitas ein festes Ritual bei dem möglichst alle Kinder mitmachen sollen. Doch nicht jedes Kind ist jeden Tag dazu bereit am Morgenkreis teilzunehmen. Manchmal haben Kinder andere Bedürfnisse, zum Beispiel nur von außen zuzuschauen, ihr Buch zu Ende zu lesen oder weiterzuspielen. Kinder, die dazu aufgefordert werden am Morgenkreis dabei zu sein obwohl sie nicht möchten, zeigen ihren Unmut, indem sie sich kaum bis gar nicht beteiligen. Dies kann wiederum zu Stress bei den pädagogischen Fachkräften führen. Das Kind, das nicht freiwillig am Morgenkreis teilnimmt und seinen Unmut zeigt, beschwert sich damit deutlich darüber. Bedürfnisse wahrzunehmen, die des Kindes und die eigenen, als auch miteinander Alternativen zu entwickeln stehen hier im Vordergrund sowie die dialogische Haltung den Kindern gegenüber.
11 Das Selbstbestimmungsrecht bei den Mahlzeiten
Es ist das Recht des Kindes selbst zu bestimmen, was und wieviel es essen möchte. Fea Finger spricht sich gegen den Probierhappen aus, ebenso wie Kindern vorzuschreiben, was und wie viel auf den Teller kommt. Zugleich zeigt sie auf, wie Kinder und pädagogische Fachkräfte gemeinsam Alternativen finden können, wenn es Mahlzeiten gibt, die abgezählt sind, beispielsweise Gemüsebratlinge, oder dem Kind eine Mahlzeit nicht schmeckt (vgl. S. 80). Für die Autorin sind Mahlzeiten Lernsituationen, die sich partizipativ gestalten lassen und die Rechte des Kindes wahren.
12 Mitbestimmung beim Schlafen und Ausruhen
„Das Thema „Schlafen und Ausruhen“ beschäftigt nach wie vor viele pädagogische Fachkräfte und Eltern. […] Wünsche und Bedürfnisse prallen bei diesem Thema aufeinander, und es ist nicht immer leicht, ein Gleichgewicht herzustellen“ (S. 81). Kinder zeigen oft deutlich, ob sie müde sind beziehungsweise, wenn sie ihren Mittagsschlaf nicht mehr benötigen. Die Bedürfnisse der Kinder partizipativ zu berücksichtigen erfordert neben Reflexion und neuen Absprachen im Team auch die Einbindung der Eltern.
13 Stressfalle Garderobe?
Fea Finger plädiert grundsätzlich dafür die Garderobensituation einmal zu prüfen und zu reflektieren, wie diese entzerrt, entspannter und partizipativer gehandhabt werden kann. Reflexionsimpulse unterstützen dabei.
14 Partizipation als Erleichterung der Arbeit
Feste Tagesabläufe geben Sicherheit, Kindern und pädagogisch Tätigen (vgl. S. 90). Gleichzeitig verursacht ein durchgetakteter Tagesablauf Stress bei pädagogischen Fachkräften, wenn Unvorhergesehenes passiert, Personal ausfällt. Dieser Stress überträgt sich dann auf die Kinder. Fea Finger ermutigt Teams, den oft starren Tagesablauf zu prüfen und für alle Beteiligten flexibler zu gestalten. Vor allem auch die Angebote zu überdenken. Ihre Reflexionsimpulse enthalten viele Anregungen, die auch die Selbst- und Mitbestimmungsrechte der Kinder berücksichtigen.
15 Eltern und Partizipation
Kitas die sich auf den Weg zu (mehr) Partizipation machen, müssen sich im Team einig über die Ziele und Umsetzung sein, damit sie die Eltern gut mit ins Boot nehmen können. Fea Finger weist darauf hin, dass in Kitas manches anders läuft als Zuhause und umgekehrt. Eltern und Pädagogen auch unterschiedliche Meinungen haben können, wenn es um die Beteiligung der Kinder geht. „Für Kinder stellt es im Normalfall kein Problem dar, wenn verschiedene Sichtweisen geäußert werden und die Erwachsenen sich auch einmal nicht einig sind. Sie können ebenfalls unterscheiden, wenn etwas zu Hause anders läuft als in der Kindertageseinrichtung. Das wichtigste dabei ist, dass die unterschiedlichen Meinungen nebeneinander bestehen können, ohne die zwischenmenschlichen Beziehungen zu belasten“ (S. 98). Denn „Dysbalancen“ (ebd.) können bei Kindern „einen inneren Konflikt verursachen […], aus dem sie sich selbst nicht befreien können“ (ebd.). In der Bildungs- und Erziehungspartnerschaft mit Eltern geht es also darum, Eltern die Ziele, die Schritte, die Umsetzung und was die „Kinder dabei lernen“ (S. 99) zu erklären und die Sorgen und Ängste der Eltern ernst zu nehmen.
16 Beobachtungen und Teilhabe der Kinder
Mit diesem Praxisbeispiel erklärt Fea Finger, wie Kinder an ihren Lerngeschichten und Portfolios beteiligt werden können. Kinder haben damit die Möglichkeit ihre eigenen Sichtweisen einzubringen, zu erklären, was ihnen wichtig ist und die „eigene Entwicklung zu sehen“ (S. 102). In diesem Zusammenhang erklärt die Autorin ebenfalls, bei welchen Gelegenheiten Kinder noch mitentscheiden und mitbestimmen können. Sie plädiert dafür „mehr vom Kind aus zu denken“ (S. 104), damit Kitas Orte für Kinder werden und „Begriffe wie Partizipation und gewaltfreie Erziehung keine leeren Worte mehr“ (ebd.) sind.
Diskussion
Partizipation ist ein Kinderrecht und gesetzliche Aufgabe, wie alle Kinderrechte, pädagogisch Tätiger. Partizipation, Beteiligung, findet sich in allen Kinderrechten wieder. Kinder zu beteiligen ist kein ‚können wir mal machen‘, sondern ein gesetzlicher Auftrag, der es erfordert, die eigene Haltung, den pädagogischen Alltag immer wieder zu überprüfen, zu reflektieren, sich miteinander auszutauschen, zu diskutieren und zu verändern. Es erfordert sich, auch als Team, eindeutig zu positionieren. Dies bedeutet zum einen Eltern mit ins Boot zu holen und gleichzeitig die Rechte der Kinder zu vertreten. Dies ist nicht immer leicht, allzu schnell greifen wir gerne auf einfache Lösungen zurück und setzen dadurch unsere Macht gegenüber Kindern ein. Handeln adultistisch statt nach alternativen Lösungen zu suchen, die die Rechte und Bedürfnisse der Kinder berücksichtigen. Das ist pädagogische Arbeit. Die Rechte der Kinder, die eigene Haltung, die eigenen Grenzen, Grenzen der Kinder, mit den Pflichten von Aufsicht und Fürsorge in Verbindung zu bringen, zu reflektieren und auszuhandeln, wie Kinder auch dann beteiligt werden können, wenn es um die Fürsorge- und Aufsichtspflicht geht. Es ist Arbeit umzudenken, neuzudenken, sich auf das Abenteuer Partizipation einzulassen. Es ist jedoch auch mit viel Freude und pädagogischer Qualität verbunden, wenn Kinder demokratische Bildung erleben, indem sie ihrer Entwicklung entsprechend beteiligt werden und demokratische Entscheidungsfindungen und Lösungen erleben. Fea Finger zeigt an alltäglichen Praxisbeispielen, wie es pädagogisch Tätigen gelingt, im Rahmen der gesetzlichen Grundlagen Partizipation in der Kita zu leben. Sie verbindet die praxisnahen Praxisbeispiele mit den theoretischen Grundlagen der Partizipation und mit Lösungsmöglichkeiten, die eine echte Beteiligung von Kindern ermöglicht. Teams finden in einzelnen Kapiteln Reflexionsimpulse für ihren eigenen Prozess auf dem Weg zur Partizipation beziehungsweise für mehr Beteiligung der Kinder im Alltag.
Fazit
Ein Buch das Partizipation nicht nur erklärt, sondern im Alltag mit den Kindern erleben lässt.
Rezension von
Alexandra Großer
Fortbildnerin, päd. Prozessbegleiterin, systemische Beraterin
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