Dr. Ilse Wehrmann, Fea Finger et al.: Fachtag zur Kita(r)evolution
Rezensiert von Alexandra Großer, 20.10.2025
Dr. Ilse Wehrmann, Fea Finger, Hannah Vasiliadis, Hergen Sasse, Kathrin Hohmann et. al.: Fachtag zur Kita(r)evolution.
AV1 Pädagogik-Filme
(Kaufungen) 2024.
25,00 EUR.
109 Min. .
Thema
Das Kitasystem steht vor großen Herausforderungen und kurz vor einem Kollaps. Pädagogische Fachkräfte versuchen tagtäglich mit den vielen Herausforderungen, im System Kita, fertig zu werden. Jeden Tag geben sie ihr Bestes und arbeiten mit der Zukunft des Landes, den Kindern. Zu oft wird ihre Arbeit nicht gesehen und noch weniger wertgeschätzt. In diesem Film zum Fachtag „Kita(r)evolution“ rufen die Expert*innen nicht nur zu einer Kita(r)evolution auf, sondern ermutigen pädagogische Fachkräfte mit Visionen in kleinen Schritten die Kita-Welt zu verändern. Den Alltag flexibler zu gestalten, den Kindern mehr zuzutrauen und ihnen die Zeit zu geben, die sie für sich und ihre Themen brauchen.
Herausgeber:in und Expert*innen
Steffi Thon ist Erziehungswissenschaftlerin (MA) und Filmproduzentin.
Ilse Wehrmann ist Erzieherin und Diplom Pädagogin. Sie war Geschäftsführerin des Landesverbandes Evangelischer Tageseinrichtungen in Bremen und Vorstandsmitglied der Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder e.V. (BETA). Sie ist Geschäftsführerin von Wehrmann Education Consulting (WEC), freie Beraterin und Sachverständige für Frühpädagogik, Autorin und Herausgeberin zahlreicher Publikationen.
Kathrin Hohmann studierte Erziehung und Bildung im Kindesalter (BA) und soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Familie (MA). Sie betreibt den Blog, www.kindheiterleben sowie den gleichnamigen Podcast. Sie führt im Podcast vom niedersächsischen Institut für frühe Bildung (nifbe) „Auf die ersten Jahre kommt es an“ Experteninterviews und ist Mitbegründerin der Bo-Akademie, Beraterin, Referentin und Autorin.
Sebastian Lisowski ist Kindheitspädagoge (BA), Mentor, Dozent, pädagogischer Fachberater, Autor und Speaker.
Hergen Sasse ist Referent im betrieblichen Gesundheitsmanagement mit Schwerpunkt Konfliktmanagement, Kommunikationscoach und Deeskalationstrainer. Er arbeitete als Erzieher und Lehrer und unterhält auf YouTube den Kanal #sozialundstark.
Hannah Vasiliadis ist Trainerin, Referentin, Dozentin, Coach und Autorin für pädagogische Fachkräfte.
Fea Finger ist Kindheitspädagogin (BA), stellvertretende Leitung, Referentin, Podcasterin (Fea’s naive Welt), Beraterin und Autorin.
Laura Henriette Grimm ist Kindheitspädagogin, angehende Gesundheitspsychologin, Fortbildnerin, Beraterin und Referentin.
Entstehungshintergrund
Im Jahr 2023 erschien im Herder Verlag das Buch „Kita(r)evolution“, an dem sich neun Autor*innen beteiligten. Im Oktober desselben Jahres lud der Herder Verlag zum Fachtag „Kita(r)evolution“ ein. Sechs Autor*innen folgten der Einladung zum Fachtag. In Ihren Vorträgen knüpfen sie an ihre Fachbeiträge des Buchs an, mit dem Ziel pädagogische Fachkräfte zu kleinen Veränderungen im Alltag zu ermutigen, Haltung zu zeigen und die Kita(r)evolution von innen heraus anzustoßen.
Aufbau und Inhalt
01 Kita-Kollaps (00:00 – 25:50)
Ilse Wehrmann eröffnet den Fachtag und fordert sogleich pädagogische Fachkräfte, Eltern, Großeltern, Lehrkräfte und Kinder auf für eine Kita Revolution „auf die Straße zu gehen“. Denn nur wenn alle laut und sichtbar werden wird sich etwas ändern. In ihrem Vortrag übt sie scharfe Kritik an der großen Politik in Berlin, die das Thema Bildung und Kinder seit Jahrzehnten vernachlässigt und damit die Zukunft aller nachfolgenden Generationen aus dem Fokus verliert, anstatt in diese nachhaltig zu investieren und zu unterstützen. Mit einem Rückblick in die 90er Jahre zeigt sie auf, dass es gerade im Kitabereich viele Fehlentwicklungen gab und noch immer gibt. Ihre Kritik bezieht sich auf die immer noch bestehende Bildungsungerechtigkeit, den Fachkräftemangel, den fortschreitenden Qualitätsverlust und die mangelnde Finanzierung. Sie fordert umfassende und weitreichende Reformen ein. Ilse Wehrmann betont, dass es einen einheitlichen Bildungs- und Erziehungsplan für alle Bundesländer braucht, der die pädagogische Qualität in allen Kitas sichert. Damit einhergeht die Forderung die pädagogische Qualität in den Kitas regelmäßig zu überprüfen. Ein weiterer Punkt ihrer Ausführungen betrifft die Kinder selbst. Es ist essenziell die Kinder, um die es schließlich geht, nach ihren Ideen und Perspektiven zu fragen und sie in Entscheidungen einzubeziehen. Des Weiteren erläutert sie, wie durch kurzfristige Sofortmaßnahmen auf vielen Ebenen mehr Kitaplätze entstehen, die Qualität in den Kitas verbessert als auch dem Fachkräftemangel in den Kitas begegnet werden kann.
02 Wie willst du als Fachkraft sein? (25:54 – 39:11)
Kathrin Hohmann stellt in ihrem Vortrag neben der Frage, „Wie willst du als pädagogische Fachkraft sein, die Frage „Was brauchen Kinder?“. Ihre Frage, wie willst du als pädagogische Fachkraft sein, bezieht sich damit auf die Professionalität pädagogischer Fachkräfte, die sich auszeichnet durch Erfahrung, Wissen über kindliche Entwicklung, Wissen über Gefühle als auch dem Zugang zu den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen und die Reflexion der eigenen Biografie und damit den Blick in die eigene Kindheit. Eine weitere Frage, die sie stellt, ist die Frage danach, ob man selbst gerne Kind in seiner Kindergruppe wäre und stellt damit den Bezug zu ihrer Frage her, was man selbst braucht, um die pädagogische Fachkraft sein zu können, die man gerne sein möchte. Am Ende ihres Beitrags erklärt Kathrin Hohmann, dass es die kleinen Momente achtsamen und bedürfnisorientierten Handelns sind, die kleinen Schritte, die einen Unterschied im Alltag mit den Kindern und für die Kinder machen.
03 Doch, du kannst (39:13 – 51:50)
Sebastian Lisowski zeigt in seinem Vortrag fünf Möglichkeiten auf, wie pädagogische Fachkräfte Verantwortung für sich und ihr handeln übernehmen und damit Veränderungen im Alltag, in ihrer Haltung schaffen können. Er plädiert dafür den Kitaalltag zu entschleunigen und sich wieder mehr auf die Beziehung mit den Kindern zu konzentrieren und die „Kinder in ihrem Sein“ zu unterstützen. In seinem Vortrag gibt er an, dass wir alle Fehler machen und niemand von uns fehlerfrei ist. Wichtig ist, dass wir uns dessen bewusst sind. Es ist wichtig ein Bewusstsein für sich, sein Handeln, die eigene Verantwortung zu entwickeln, zu haben, um die Dinge zu ändern, die wir ändern können.
04 Klar sorge ich für mich (51:54 – 01:03:19)
Hergen Sasse erklärt in seinem Vortrag, dass Selbstfürsorge mit Aggression beginnt. Er verdeutlicht dies anhand eines Beispiels aus seinem Privatleben. Er fordert dazu auf, die Aggression zu leben, wenn wir sie brauchen. Oft besteht in uns und in Teams ein großes Harmoniebedürfnis, das verhindert, seinem Ärger Luft zu machen. Er zeigt auf, dass wir einen gesunden Zugang zu unseren Aggressionen brauchen. Das Gefühl Ärger ernst zu nehmen, in das Gefühl reinzugehen und das Bedürfnis dahinter zu spüren. Dabei hilft die Frage, was brauche ich jetzt in diesem Moment. In seinem Vortrag erklärt er, dass Wut ein Gefühl ist und niemals verletzt. „Wenn sie [die Wut] verletzt, ist es niemals Wut!“ Diese Unterscheidung zwischen aggressivem Verhalten und Wut ist wichtig. Um die Kita(r)evolution anzugehen braucht es diese konstruktive Wut, indem wir sie nutzen und über „unsere Erwartungen sprechen“, darüber was uns ärgert, enttäuscht, über den Frust, indem wir diese klar und deutlich benennen. Denn viele pädagogische Fachkräfte befinden sich im destruktiven Bereich der Aggression, in dem sie sich zurückgezogen haben. Doch mit der Wut, die da ist, ermutigt er, laut zu werden, Forderungen zu stellen und diese kreativ zu nutzen, um Veränderungen anzustoßen.
05 Einen Gang zurück schalten (1:02:24 – 01:18:10)
Der Vortrag von Hannah Vasiliadis ist ein Plädoyer für die Entschleunigung des Kitaalltags. Sie fordert dazu auf, sich als pädagogische Fachkraft mehr zurückzunehmen und die Rolle der Impulsgeberin einzunehmen, die es Kindern ermöglicht ihren eigenen Lernthemen und Interessen zu folgen. Impulsgeberin zu sein, bedeutet für sie auch schon, die Tür zum Garten aufzumachen, das benötigte Material für die Eigenaktivitäten der Kinder zur Verfügung zu stellen. Denn auch, wenn „wir viele tolle kreative Ideen haben, mit denen wir für die Kinder eine gute Zeit gestalten möchten“, vergessen wir oft, dass die Kinder dies „ganz gut alleine können“. Damit pädagogische Fachkräfte zu Impulsgeber*innen und Impulsnehmer*innen werden können, gibt sie Hinweise, wie dies gelingen kann. Ein Hinweis, ist den Alltag nach Stresssituationen zu analysieren, die eigenen Stressoren und Strategien zu finden.
06 Wenn ich einen Wunsch frei hätte (01:18:12 –01:38:44)
Fea Finger eröffnet ihren Vortrag damit, indem sie erzählt, wie sie zu ihrem Thema Adultismus gekommen ist. Sie erklärt, dass Kitas noch keine Wohlfühlorte für Kinder sind. Oft bleiben Fachkräfte in Kitas, in denen machtvoll gehandelt wird, weil sie für Kinder der Unterschied sein wollen. Die Vortragende weist daraufhin, dass dies vollkommen in Ordnung ist, solange es nicht die eigene Gesundheit tangiert. In dem Moment, wo es an die eigene Gesundheit geht, sollte man an sich denken und gehen. Damit Kitas zu Wohlfühlorten werden, müssen pädagogische Fachkräfte sich ihrer Macht über Kinder bewusst sein und diese abgeben. Dies bedeutet auch, sich selbst zu reflektieren, das Bild, die eigene Haltung zu reflektieren und auch den Tagesablauf Strukturflexibel zu handhaben. Damit diese Reflexion gelingt, gibt sie einige Fragen mit, unter anderem die Fragen, die bereits Kathrin Hohmann stellte, ob man selbst gerne Kind in seiner Gruppe wäre als auch die Frage, welche Fachkraft möchte ich sein. Mit dieser Vision der Wohlfühlorte und der Beachtung der Kinderrechte auf eine gewaltfreie Erziehung, zeigt sie, dass es möglich ist Kitas als Wohlfühlorte zu gestalten.
07 Plädoyer für eine Kita(r)evolution (01:38:47 – 01:48:51)
In ihrem Schlussvortrag ermutigt Laura Henriette Grimm alle pädagogischen Fachkräfte den Mutmuskel zu trainieren und Veränderungen anzugehen sowie die Kita(r)evolution in die Welt hinauszutragen.
Diskussion
Ilse Wehrmann nimmt in ihrem Eröffnungsvortrag das gesamte System Kita in den Blick. Sie übt scharfe Kritik an der großen Politik, die seit Jahrzehnten das Thema Bildung und Kinder vernachlässigen und damit den Kita-Kollaps herbeiführen. Mehr denn je braucht es jetzt die Basis, die lautstark für Veränderungen in diesem Bereich eintritt, so ihr Credo. Ilse Wehrmann zeigt jedoch auch auf, welche Veränderungen notwendig sind, um das System Kita zu retten und die Qualität in den Kitas deutschlandweit zu sichern.
In den folgenden Vorträgen stehen die pädagogischen Fachkräfte, ihre Professionalität und Arbeit mit den Kindern im Vordergrund. Jede einzelne Expertin, jeder einzelne Experte sieht die Arbeit, die pädagogische Fachkräfte tagtäglich in der Kita leisten. Durch ihre Vorträge bestärken sie die pädagogischen Fachkräfte in den Kitas sich klar zu positionieren, um Veränderungen herbeizuführen. Ihnen geht es nicht nur um die großen Veränderungen, sondern die kleinen, die im pädagogischen Alltag und im Team stattfinden.
Die Expertinnen und Experten ermutigen pädagogische Fachkräfte sich am Tempo der Kinder zu orientieren und ihre pädagogische Praxis zu überdenken und flexibler zu gestalten, um den Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden. Sie ermutigen auch dazu Reflexionsprozesse im Team anzustoßen, Visionen zu entwickeln und diesen Schritt für Schritt zu folgen, für eine kindgerechte und am Wohl des Kindes ausgerichtete Pädagogik. Es sind die kleinen Schritte, die innerhalb einer Kita große Veränderungen bewirken.
Ehrlich und authentisch nehmen sie verletzende Verhaltensweisen und Argumentationen pädagogischer Fachkräfte in den Blick und geben Impulse zur Veränderung.
Ein wichtiges Thema, welches ebenfalls im Fokus steht, ist die Selbstfürsorge. Auch hier unterstützen und bestärken sie pädagogische Fachkräfte für sich zu sorgen und auch negativ besetzte Gefühle, wie Wut, konstruktiv zu nutzen.
Den Expert*innen gelingt es in ihren Vorträgen für eine Kita(r)evolution zu motivieren, zu ermutigen, und sich dafür einzusetzen. Die Energie, die damit verbunden ist, die Empathie und Wertschätzung, die sie pädagogischen Fachkräften und ihrer Arbeit entgegenbringen, ist im Film deutlich zu spüren und erreicht auch die Zuschauer vor dem Laptop. Gleichzeitig ist es ein Plädoyer für all diejenigen, die den Weg zu einem Wohlfühlort, zu einer bedürfnisorientierten und gewaltfreien Kita bereits gehen, weiter zu gehen, standzuhalten, Haltung zu zeigen.
Fazit
Ein Film, der Mut macht an der Kita(r)evolution mitzuwirken. Ein Film, der durch die Fachvorträge, daran erinnert, was Kinder in Kitas wirklich brauchen. Ein Film, der pädagogische Fachkräfte motiviert, ermutigt in kleinen Schritten ihren Visionen zu folgen: Ein Film, der an die Berufung des Berufs Erzieher*in erinnert und Wohlfühlorte schafft.
Rezension von
Alexandra Großer
Fortbildnerin, päd. Prozessbegleiterin, systemische Beraterin
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