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Stefanie Kessler, Karsten König (Hrsg.): Scheitern in Praxis und Wissenschaft der Sozialen Arbeit

Rezensiert von Janina Deborah Limberger, 20.09.2024

Cover Stefanie Kessler, Karsten König (Hrsg.): Scheitern in Praxis und Wissenschaft der Sozialen Arbeit ISBN 978-3-7799-7503-8

Stefanie Kessler, Karsten König (Hrsg.): Scheitern in Praxis und Wissenschaft der Sozialen Arbeit. Reflexions- und Bewältigungspraktiken von Fehlern und Krisen. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2024. 351 Seiten. ISBN 978-3-7799-7503-8. D: 38,00 EUR, A: 39,10 EUR.

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Thema und Entstehungshintergrund

Im Zentrum des Sammelbandes steht das Scheitern innerhalb der Sozialen Arbeit. Das Handeln im sozialarbeiterischen Kontext richtet sich auf das Vorbeugen, Abwenden, bzw. Auseinandersetzen mit dem Scheitern. Die Praxis Sozialer Arbeit verfügt somit über verschiedene Instrumente im Umgang mit Scheitern. Gleichzeitig wird die fehlende Auseinandersetzung innerhalb der Disziplin und der Profession der Sozialen Arbeit moniert. Infolgedessen entstand ein Aufruf zu einem Symposium mit dem Titel „Scheitern in Praxis und Wissenschaft der Sozialen Arbeit: Reflexion- und Bewältigungspraktiken von Fehlern und Krisen“ im Dezember 2022. Mithilfe der Auseinandersetzung und Sichtbarmachung von möglichen Lösungsstrategien, in Form der Sammelbandbeiträge, möchten die Herausgebenden der zentralen Frage nachgehen „[…] inwiefern möglicherweise die praxisbasierten Kompetenzen im Umgang mit Krisen und Scheitern auch für die Wissenschaft der Sozialen Arbeit nutzbar gemacht werden können“ (Kessler und König 2024, S. 10).

Autor:in oder Herausgeber:in

Prof. Dr. phil. Stefanie Kessler, Professur für Soziale Arbeit an der IU Internationale Hochschule im Dualen Studium am Standort Hannover. Forschungsschwerpunkte: Lernen in und von Organisationen, politisches Handeln und Bildung in Sozialer Arbeit und Schule sowie Wissenschaftspraxis Sozialer Arbeit.

Prof. Dr. phil Karsten König, Professur für Soziale Arbeit an der IU Internationale Hochschule im Dualen Studium am Standort Dresden. Arbeitsschwerpunkte: inklusive Bildungsforschung von Förderschule bis zur Hochschule, Soziale Arbeit im öffentlichen Raum sowie empirische Sozialarbeitsforschung und Evaluation.

Einleitung und Aufbau

Die Einleitung enthält, neben der zentralen Fragestellung, eine begriffliche Annäherung an das Scheitern (ebd., S. 10–12). Die Autoren fassen zunächst das Scheitern in der Praxis und der Wissenschaft Sozialer Arbeit in einen literarischen Diskurs, welcher ebenso den aktuellen Forschungsstand hierzu wiedergibt (ebd., S. 12–18). Anschließend zeigt sich die Grundstruktur des Gesamtwerkes im Rahmen einer Kurzvorstellung der Sammelwerkbeiträge. Diese sind in vier inhaltliche Abschnitte unterteilt: (I) dem Scheitern innerhalb der Praxis (Profession) Sozialer Arbeit, (II) dem Scheitern innerhalb der Wissenschaft (Disziplin) Sozialer Arbeit sowie (III) dem Lernen aus dem Scheitern und dem Transfer von Bewältigungsprinzipien aus der Praxis in die Wissenschaft und zuletzt (IV) dem Ausblick in die Zukunft und explizit der Zukunft von Promotion und Forschung in der Sozialen Arbeit. In der nachfolgenden Rezension wird jeweils ein Beitrag aus einem der vier inhaltlichen Abschnitte herausgegriffen und vorgestellt.

Inhalt

Scheitern in der Praxis der Sozialen Arbeit

Maike Wagenaar schreibt in ihrem Beitrag „die Suchterkrankung ist eine Rückfallerkrankung“ (2024, S. 120). Aufgrund dessen stellt Wagenaar das Scheitern im Rahmen der Suchtberatung – für Klienten und Sozialarbeitende – in den Vordergrund. Nach der Auseinandersetzung mit der Genese der Suchtberatung selbst sowie verschiedener Herausforderungen von Behandlungs- und Rückfallmöglichkeiten (ebd., S. 121–128), führt sie zur kritischen Frage des Beitrages: Sollte die Abstinenz, welche aktuell in der Suchthilfe und in der Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen als oberstes Ziel fungiert, nicht abgeschafft bzw. auf die Zielgruppe entsprechend angepasst werden? Dies könnte zur Folge haben, dass weniger Scheitern entsteht. In in der darauffolgenden Diskussion bezieht sie sich u.a. auf eine Studie von Nicole Müller (2020), welche Narrative des Scheiterns untersucht. Müllers Daten zeigen, dass Scheitern einen Endpunkt in der scheiternden Person darstellt und somit zu einem Bruch im Selbstkonzept führen kann. Dies hat für die Behandlung häufig zur Folge, dass „die Mittel, die sie bisher als lindernd für ihre Not ansahen, […] ab sofort weglassen […] sollen“ (Wagenaar 2024, S. 131). Infolgedessen wird im Sinne der Klienten für eine lebensweltorientierte (nach Hans Thiersch) Suchtberatung plädiert, welche Alltagsnähe, Integration und Inklusion von Bestehendem gewährleistet. Dies bedeutet für die Umsetzung seitens der Sozialarbeitenden echtes Interesse am Alltag der Klienten, welches einerseits „Unvoreingenommenheit“ (ebd., S. 132) und gleichzeitig einen „ethnografischen Zugang“ (ebd.) voraussetzen. Dies führt langfristig zu einer besseren Nachvollziehbarkeit sowie Deutungsmöglichkeit der Logik des Konsums der Klienten und kann, aus Autorinnensicht, eine langfristige Strategie gegen Gefühle des Scheiterns darstellen.

Erfahrungen aus dem Scheitern in der Wissenschaft

Rebecca Daniel, Anja Franz, Steffi Heger und Elisabeth Sommer fokussieren in ihrem Beitrag die Herausforderung der Vereinbarkeit von Promotion und Elternschaft in der Sozialen Arbeit (Daniel et al. 2024, S. 157–174). Beginnend wird ein theoretisches Phasenmodell vorgestellt, welches den Abbruchverlauf anhand kritischer Lebensereignisse beschreibt (Franz, 2018). Hierbei wird das Aufgeben der Promotion als „länger andauernder Abwägungsprozess“ (Daniel et al.,2024, S. 160) beschrieben, der durch verschiedene Ereignisse beeinflusst wird. Die Vereinbarkeit von Familie und Promotion wird hierbei als zentral angesehen und in Phase 2 des Modells angesiedelt (ebd., S. 163). Unter Rekurs auf die aktuelle Datenlage zur Herausforderung der Vereinbarkeit von Promotion und Familie – insbesondere für Mütter (ebd., S. 164–166) – verdeutlichen sie anhand der Explikation von Interviewzitaten die „Vielfachbelastungen“ (ebd., S. 167) und strukturellen Herausforderungen, denen sich einige promovierende Eltern der Sozialen Arbeit ausgesetzt fühlen (ebd., S. 166–169). Ihren Beitrag schließen die Autorinnen mit verschiedenen „strukturellen Antworten“ (ebd, S. 170), indem sie auf Herausforderungen zwischen Familie, Wissenschaft und Praxistätigkeit eingehen. Diese Antworten könnten sich in Form der „Berücksichtigung zeitlicher Ressourcen“ (ebd.) promovierender Eltern sowie in Form von „(nicht-)erlebter Anerkennung der Promovierenden“ (ebd.) äußern. Adressiert werden in der Schlussfolgerung insbesondere künftige Betreuende sowie Promotionsförderungen, die die Bedarfe aus Autorinnensicht, ebenso stärker fokussieren sollten.

Lernen aus dem Scheitern: Transfer der Bewältigungsprinzipien aus der Praxis auf die Wissenschaft

Anja Mesching befasst sich im Rahmen ihres Beitrages mit der Frage, inwiefern „Scheitern in Organisationen sowohl auf struktureller als auch auf prozessualer Ebene“ (2024, S. 296) gewinnbringend auf die Praxis sowie die Wissenschaft Sozialer Arbeit übertragen werden kann. Während sie zunächst eine umfassende definitorische Annäherung an den Scheiterns-Begriff darlegt, führt sie im Kontext Sozialer Arbeit weiter aus, dass insbesondere in der Jugendhilfe häufig Scheitern standortabhängig erfolgt (ebd., S. 299). Sie beschreibt weiter, dass es auf die „Beobachtungsperspektive ankommt“ (ebd., S. 301) und auch, insofern festgelegte Ziele nicht erlangt wurden, dies „zu unerwarteten Gelingensprozessen jenseits intendierter Zielhorizonte führen [kann]“ (ebd.). Sie schlägt grundsätzlich eine offene organisationale Grundhaltung vor, welche Scheitern und somit zugleich deren vielfache Bewertungsperspektiven ermöglicht (ebd.): mit dem Blick auf die Praxis und Wissenschaft Sozialer Arbeit plädiert Mesching dann für ein wachsendes Verständnis der Komplexität personenbezogener Dienstleistungsorganisationen unter Rekurs auf Luhmann (1964) und Biesel (2011) (ebd., S. 302). Abschließend empfiehlt sie das Scheitern als potenziellen „Etappensieg“ (ebd.) zu begreifen, der als Chance des „organisationalen Lernens“ (ebd., S. 303), Anlass zur Re-Interpretation bestimmter Abläufe, innerhalb eines übergeordneten Prozesses bietet. 

Über das Scheitern hinaus: die Zukunft von Promotion und Forschung in der Sozialen Arbeit 

Die Herausgebenden Stefanie Kessler und Karsten König schließen den Sammelband mit einem Fazit, wie dem Scheitern kollektiv begegnet werden sollte. Während sie zunächst dazu aufrufen, Scheitern grundsätzlich zu teilen und nicht zu individualisieren (2024, S. 340), arbeiten sie vier Teilbereiche für ein „kollektives Handeln“ (ebd., 341) von Praxis und Forschung als Antworten auf Scheitern heraus.

  1. Sie plädieren für die Sichtbarmachung von und Auseinandersetzung mit dem Scheitern. Dies könnte im Rahmen des Studiums erfolgen und somit den Grundstein für eine erhöhte Sensibilität und ein besseres Reflexionsvermögen hinsichtlich des Scheiterns legen.
  2. Ebenso treten sie für einen offenen Umgang mit dem Scheitern ein. Es soll Raum und gleichzeitig Anerkennung für das Teilen von Erfahrungen mit Scheitern entstehen. Hierfür benötigt es „[…] eine organisational verankerte Kultur, die es ermöglicht, Misserfolge zu reflektieren und aus ihnen zu lernen“ (ebd. S. 342).
  3. Sie führen weiter aus, dass auf die „Anerkennung des Scheiterns“ (ebd., S. 343) deren Neubewertung und Sinnzuschreibung folgt. Somit ist es möglich Scheitern neu zu interpretieren und positiv nutzbar zu machen. Dies kann gelingen, indem nach dem Ansatz von Juliane Noack Napoles (2024) das Hauptaugenmerk auf die noch bleibende Alternative gelegt wird, anstelle auf die nicht mehr verfügbare Handlungsoption (die Gescheiterte).
  4. Zuletzt führen die beiden Herausgebenden die politische Positionierung der Sozialen Arbeit als Profession an und die damit einhergehende Möglichkeit, die „Wahrnehmung von Scheitern“ (Kessler & König 2024, S. 345) im Rahmen der politischen Gestaltbarkeit Sozialer Arbeit zu nutzen.

Diskussion

Das gesamte Werk liefert aufgrund der 21 Sammelbandbeiträge eine umfassende Übersicht über das Scheitern in verschiedenen Kontexten Sozialer Arbeit. Es bildet damit einen neuen Ausgangspunkt in einem Themenbereich, welcher bislang wenig bearbeitet wurde. Als besonders anspruchsvoll wird die thematische Rahmung der sehr heterogenen und vielfältigen Beiträge angesehen. Die Aufteilung in die vier Hauptabschnitte des Buches wirkt hierbei als hilfreich – insbesondere vor dem Hintergrund der stark variierenden Darstellung der Beiträge. Die Artikel aus Praxis und Wissenschaft Sozialer Arbeit vereinen sich jedoch über viele Beiträge hinweg hinsichtlich ihrer Bedarfs- und Bedürfnis- sowie ihrer Ressourcenorientierung. Denn indem Scheitern expliziert, in die Vielfalt seiner Bestandteile zerlegt und in vielen Fällen hierdurch etwas gewonnen wird (neue Ansätze und Betrachtungsweisen), scheint dieser Sammelband als Beweis für eine gelungene Verbindung von Disziplin und Profession zu fungieren.

Fazit

Der inhaltlich anspruchsvolle Sammelband adressiert aufgrund seiner Ausrichtung eine breite Leserschaft von Studierenden, Hochschullehrenden, wissenschaftlich und praktisch Tätigen der Sozialen Arbeit. Das Phänomen des Scheiterns in der Praxis sowie der Wissenschaft Sozialer Arbeit wird aufgrund der Darstellungen greifbarer und transparenter.

Literaturangaben

Biesel, K. (2011). Wenn Jugendämter scheitern. Zum Umgang mit Fehlern im Kinderschutz. Bielefeld: transcript.

Franz, A. (2018). Symbolischer Tod im wissenschaftlichen Feld. Eine Grounded-Theory-Studie zu Abbrüchen von Promotionsvorhaben in Deutschland. Wiesbaden: Springer.

Kessler, S., König, K. (Hrsg.) (2024). Scheitern in Praxis und Wissenschaft der Sozialen Arbeit. Reflexions- und Bewältigungspraktiken von Fehlern und Krisen. Weinheim: Beltz.

Luhmann, N. (1964). Funktionen und Folgen formaler Organisationen. Berlin: Druncker & Humblot.

Müller, N. (2020). Narrative des Scheiterns. Zur Konstitution von Identität in biographischen krisen. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.

Noack Napoles, J. (2024). Was heißt Bewältigung von Scheitern und Krisen in der Sozialen Arbeit? Vulnerabilitätstheoretische Perspektiven auf einen zentralen Gegenstand er Sozialen arbeit. In: Stefanie Kessler und Karsten König, Scheitern in Praxis und Wissenschaft der Sozialen Arbeit. Reflexions- und Bewältigungspraktiken von Fehlern und Krisen. Weinheim: Beltz.

Rezension von
Janina Deborah Limberger
M.A., B.A. Soziale Arbeit, Doktorandin an der Universität Freiburg: Fachbereich Soziologie, Dozierende, Referentin für Kinder- und Jugendhilfe)
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Es gibt 1 Rezension von Janina Deborah Limberger.

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Zitiervorschlag
Janina Deborah Limberger. Rezension vom 20.09.2024 zu: Stefanie Kessler, Karsten König (Hrsg.): Scheitern in Praxis und Wissenschaft der Sozialen Arbeit. Reflexions- und Bewältigungspraktiken von Fehlern und Krisen. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2024. ISBN 978-3-7799-7503-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32079.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.


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