Ricarda Katrin Rübben, Matthias Trautmann (Hrsg.): Moralische Konflikte im Lehrer:innenberuf
Rezensiert von Mag. Dr. Gabriele Schauer, 19.04.2024

Ricarda Katrin Rübben, Matthias Trautmann (Hrsg.): Moralische Konflikte im Lehrer:innenberuf: Fallgeschichten und Kommentare.
Waxmann Verlag
(Münster, New York) 2023.
273 Seiten.
ISBN 978-3-8252-6102-3.
D: 24,90 EUR,
A: 25,60 EUR,
CH: 32,50 sFr.
Reihe: UTB - 6102. Schulpädagogik.
Thema
Schule ist geprägt von ständigen Entscheidungsprozessen. Lehrpersonen haben die Aufgabe, im schulischen Alltag Verantwortung zu übernehmen, Position zu beziehen und dabei unter verschiedenen Gesichtspunkten adäquat zu handeln. Einen Rahmen für die Bewertung „richtigen professionellen Handelns“ gibt es allerdings nicht. Daher bauen Entscheidungen im schulischen Alltag unter anderem auf moralische Überlegungen auf. Es gilt dabei Handeln zu begründen und in einem professionsspezifischen und professionellen Rahmen zu reflektieren. Dass Entscheidungen hierbei nicht immer leicht und schon gar nicht eindeutig sind, zeigen die Kommentare in diesem Buch.
Herausgeber:innen und Autor:innen
Herausgeber:innen: Ricarda Rübben ist Akademische Rätin a. Z und hat den Lehrstuhl für Schulpädagogik an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg inne. Matthias Trautmann ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik des Sekundar-I-Bereichs an der Universität Siegen.
Autor:innen: Die 39 Autor:innen sind als Lehrpersonen, Psycholog:innen, Schulberater:innen, Schulleiter:innen, Dozierende und Bildungswissenschaftler:innen beschäftigt und üben diese Tätigkeiten an Schulen und/oder an Universitäten und Verwaltungsbehörden oder Vertretungsinstitutionen aus. Ihre Expertisen liegen unter anderem in den Bereichen der Ethik, Inklusion, Schulpädagogik, Schulentwicklung und Didaktik.
Aufbau und Inhalt
Nach einer Einleitung, in der das Vorgehen in diesem Buch, der theoretische Rahmen zur moralischen Urteilsbildung sowie zur Kasuistik als Methode, die Fallgenerierung und die Zielsetzung des Buchs kurz dargelegt werden, gliedert sich das Buch in 6 Kapitel. Jedes Kapitel widmet sich einem möglichen Problembereich in Schulen. Kapitel eins beschäftigt sich mit Versetzungen, Kapitel zwei mit Inklusion, das dritte Kapitel thematisiert das Verhalten von Schüler:innen, Kapitel vier zeigt den Umgang mit Distanz, in Kapitel fünf wird Bildungsgerechtigkeit aufgegriffen und das letzte Kapitel sechs bearbeitet Verpflichtung. Nachdem in jedem Kapitel zuerst eine Fallgeschichte dargelegt wird, folgen fünf Kommentare von verschiedenen Autor:innen. Abgerundet wird das Buch von einem Abschlusskommentar.
Beispielhaft soll nun auf ein Themengebiet, nämlich auf das Kapitel zu (moralischen) Überlegungen bei Versetzungen von Schüler:innen, näher eingegangen werden.
Im Fallbeispiel des ersten Kapitels wird beschrieben, wie Lehrpersonen in einer Notenkonferenz über das Aufsteigen einer Schülerin diskutieren. Hierbei stellen die Lehrpersonen die Frage, ob sie das Kind mehr unterstützen und langfristig mehr fördern, wenn es in der Schule verbleibt und die Lehrpersonen dem Aufstieg in die nächste Klasse trotz Leistungsdefiziten zustimmen oder ob es für das Kind der bessere Weg wäre, einen Neuanfang in einer anderen Schule zu wagen. Die Lehrpersonen der verschiedenen Fächer wägen die Vor- und Nachteile ab und überlegen, welche Notengebung in welchem Fach adäquat wäre. Dabei verweisen sie auf verschiedene Bezugsnormen der Notengebung und thematisieren Gerechtigkeit (bezogen auf den sozialen Rahmen der Klasse als auch auf die individuellen Voraussetzungen und Möglichkeiten der Schülerin). Bedürfnisse der Eltern sowie der Schülerin werden mitdiskutiert und der (zukünftige) Bildungsweg vielschichtig angesprochen. Eine faire und für alle moralisch vertretbare Lösung finden die beteiligten Lehrpersonen nicht.
Hans Brügelmann, Professor für Grundpädagogik und -didaktik nähert sich dem Fallbeispiel, indem er zuerst auf die gesetzlichen Grundlagen eingeht, um damit aufzuzeigen, dass es sich hierbei seiner Ansicht nach nicht um einen moralischen Konflikt, sondern viel mehr um eine Systemschwäche handelt. So gibt es vermeintlich einen klaren Ablauf vom Erstellen der Noten bis hin zum Versetzen, wobei sich durchaus „Einfallstore für subjektive Entscheidungen“ (S. 27) zeigen. So thematisiert er weiter die Argumente der Lehrpersonen und verdeutlicht, dass jede Perspektive für sich nur einen Teilaspekt anspricht. Daher verweist er schlussendlich darauf, dass die Problematik vom Kind aus gedacht werden muss und Lerngespräche sowie Lernverträge mit Überlegungen zu den Kompetenzen und Unterstützungsnotwendigkeiten mehr dienen als Überlegungen zu Versetzungen. In welchen systemischen Strukturen dies besser oder schlechter gelingt und welche Aufgaben hierbei Lehrpersonen haben wird abschließend erläutert.
Die Präsidentin des Bayrischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands Simone Fleischmann betont ebenfalls die Bedeutung des Kindeswohls. Zuerst geht sie auf die sehr selektive Verteilung der Noten sowie auf die Diskriminierungen ein und zeigt auf, dass tatsächliche Potenziale damit nicht abgebildet werden und es Spielraum gibt. So gilt es laut Fleischmann den Blick nicht alleinig auf Noten zu legen, sondern auch die Persönlichkeit und den sozialen Hintergrund mitzudenken. Aufgrund dieser unklaren Sachlage sind derartig einschneidende Entscheidungen wie Schulversetzungen umso problematischer und Lehrpersonen gefordert, Verantwortung für die Verwirklichung der Potenziale von Schüler:innen zu übernehmen und an die Kinderrechtskonvention zu denken.
Mit dem Blick des Schulberaters, Schulleiters und Lehrers schaut Johannes Baumann auf das Fallbeispiel und betont, dass ähnliche Fälle regelmäßig im schulischen Alltag zu finden sind. Er sieht darin das „abstrakte Gerechtigkeitsargument“ (S. 39) gegenüber den anderen Schüler:innen und das Argument um das Wohlergehen der versetzungsgefährdeten Schülerin und die Diskussion hierbei, die Lehrpersonen sowohl interpersonell als auch intrapersonell erleben. Genauer führt er Überlegungen zur biographischen Relevanz der Entscheidung aus und verdeutlicht auch die Rolle der Schulleitung und mögliche Motive hinter deren Argumentation. Zudem lenkt Baumann den Blick nach vorne und formuliert Konsequenzen für zukünftige Gespräche.
Mit der Perspektive der Ethik reagieren Stefanie Pagel (Gymnasiallehrerin) und Markus Tiedemann (Professor und Dozierender der Ethik und Philosophiedidaktik) auf das Fallbeispiel und formulieren ihre Überlegungen in Anlehnung an die „Gerechtigkeitskonzeption Chaim Perelmans“ (S. 45). Zuerst wird Gerechtigkeit mit Blick auf rechtliche Bestimmungen erläutert. In einem nächsten Schritt wird diese bezogen auf Leistung angesprochen und die Problematik der Objektivität sowie des Sitzenbleibens gezeigt. In Kommentaren anderer Autor:innen wird von der Persönlichkeit der Schülerin gesprochen. In diesem Kommentar wird nun auf die Anstrengungsbereitschaft sowie auf deren Bedürfnisse näher eingegangen. Abschließend fassen die beide Autor:innen die Bandbreite der Überlegungen für Gerechtigkeit zusammen.
Das letzte Kommentar zum Thema Versetzen schreibt der ehemalige stellvertretende Rektor der PH Luzern, Michael Zutavern. Auch er bearbeitet zuerst die Rahmenbedingungen des Fallbeispiels, um dann das professionelle Können der Lehrpersonen in verschiedenen Facetten aufzugreifen. Weiters versucht er das Dilemma bzw. den Wertekonflikt anhand des Freiburger Modells (S. 54ff) zu analysieren. Abschließend versucht er den Entscheidungsprozess noch einmal kritisch zu reflektieren, honoriert hierbei die Arbeit der Lehrpersonen und der Schulleitung, zeigt aber auch Verbesserungspotenzial auf.
Im Abschlusskommentar zu allen Kapiteln am Ende des Buchs geht Ewald Terhart (Professor für Erziehungswissenschaft) noch einmal auf alle Fallbeispiele ein. Er fasst die Themen zusammen, geht aber auf das Thema der Leistung speziell ein, da dies im Alltag sehr präsent ist. Zudem merkt er an, dass es sich bei den Fallbeispielen immer um Situationen mit Schüler:innen handelt. Doch auch zwischen Lehrpersonen oder mit Eltern finden moralische Konfliktsituationen statt. Für einen guten Umgang mit derartigen Situationen plädiert er für multiprofessionelle Teams. Nach der Bedeutung der Lehrer:innenbildung für die Qualität der Lehrer:innenarbeit nennt Terhart abschließend, wie er sich in jedem Fallbeispiel entscheiden würde. Die Begründungen hierfür, die er aber zuvor als so bedeutsam sieht, fehlen und damit betont er, dass dies kein Abschlusskommentar sein kann, denn die Diskussionen müssen weitergehen…
Diskussion
Das methodische Vorgehen und der Aufbau dieses Buches stellen einen unüblichen, aber sehr interessanten und innovativen Zugang dar. Auf Grundlage verschiedener Fallbeispiele schreiben Expert:innen Kommentare zu moralisch schwierigen Situationen oder Entscheidungsprozessen. Sie zeigen verschiedene Zugänge, aber doch auch immer wieder ähnliche Annahmen. Dadurch werden eigene Überlegungen und Positionierungen zu den Fallbeispielen angereichert, teilweise auch theoretisch ergänzt und die Komplexität der Situation spürbarer. Dass es keine Lösungen für die Fallbeispiele gibt, wirkt schlussendlich nicht beklemmend, sondern eigene Positionierungen reihen sich in eine Vielzahl an Überlegungen von Expert:innen ein; man fühlt sich in der Machtlosigkeit nicht allein und die Unauflösbarkeit wird zur Normalität.
Gelungen ist neben den inhaltlichen Ausführungen auch die detailreiche Erläuterung, wie die Fallbeispiele für dieses Buch entstanden sind. Durch die gelungenen Beschreibungen der Situationen können die Autor:innen klar Bezug zu den einzelne Aussagen der Akteur:innen nehmen und durch Verweise auf Zeilen auch den:die Leser:in bei diversen Gedankengängen gut mitnehmen.
Es mag neben den sechs genannten spannungsgeladenen Themenbereichen im Schulalltag noch mehr moralische und konfliktbehaftete Situationen geben. Dies betont auch Terhart in seinem Abschlusskommentar. Ersichtlich wird aber bereits bei den genannten Fallbeispielen, dass es keine Lösung gibt, sondern die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Perspektiven und eine tiefgehende Reflexion hierbei bedeutsam und gewinnbringend sind.
Fazit
Das Buch bietet Einblicke in schulische Dilemmasituationen und moralische Überlegungen hierzu. Erfahrene Expert:innen aus verschiedenen Disziplinen kommentieren perspektivenreich Fallbeispiele diverser Themen wie Versetzung oder Bildungsgerechtigkeit. Der Zielgruppe – Dozierenden, Lehrer:innenbildner:innen und (angehende Lehrpersonen) – werden dadurch (teilweise) unauflösbare Konfliktsituationen und argumentative Herangehensweisen in den dazugehörigen Entscheidungsprozessen vor Augen geführt. Klar wird in den Ausführungen, dass es keine klaren Antworten gibt.
Rezension von
Mag. Dr. Gabriele Schauer
tätig an der Universität Innsbruck am Institut für LehrerInnenbildung und Schulforschung
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Es gibt 11 Rezensionen von Gabriele Schauer.