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Marius Neukom: Narzissmus im Arbeitsleben

Rezensiert von Wolfgang Witte, 11.07.2024

Cover Marius Neukom: Narzissmus im Arbeitsleben ISBN 978-3-525-40028-9

Marius Neukom: Narzissmus im Arbeitsleben. Selbstbezogenheit verstehen statt stigmatisieren. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2024. 91 Seiten. ISBN 978-3-525-40028-9. D: 18,00 EUR, A: 19,00 EUR.
Reihe: Beraten in der Arbeitswelt.

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Thema und Entstehungshintergrund

Anlass für das vorliegende Buch ist die nach Beobachtung des Autors zunehmende Diagnostizierung und Stigmatisierung von egoistischen oder egozentrischen Verhaltensweisen sowie Rücksichts- und Empathielosigkeit als narzisstisch. Dem stellt der Autor eine Konzeptualisierung entgegen, die für die dahinterstehende Not der Betreffenden sensibilisieren möchte.

Autor

Marius Neukom ist klinischer Psychologe, Psychoanalytiker, Psychotherapeut, Supervisor und Coach mit eigener Praxis in Zürich.

Aufbau und Inhalt

Marius Neukom gliedert seine Abhandlung in fünf Teile:

Das Kapitel 1 bestimmt Narzissmus als ein intersubjektives Abstimmungsregulativ, das sich um Anerkennung dreht und die Leistungsgesellschaft auf charakteristische Weise prägt. Es wird die mythologische Herkunft und Theoriegeschichte des Begriffs „Narzissmus“ mit Bezug u.a. auf Martin Altmeyer („Narzissmus und Objekt. Ein intersubjektives Verständnis der Selbstbezogenheit“) im Überblick dargestellt. Der Kern des Narzissmus dreht sich um die Frage, wie Individuen in ihrer Angewiesenheit auf Anerkennung einander wahrnehmen und miteinander umgehen. Am Beispiel der Finanzwirtschaft illustriert der Autor, wie unter den Bedingungen des Kapitalismus Leistungs- und Erfolgshunger verbunden sind mit der Furcht vor Scheitern und möglichem Untergang in Bedeutungslosigkeit.

Kapitel 2 befasst sich mit der schmerzlichen Bürde der Angewiesenheit auf Abhängigkeit und der notwendigen Anerkennung der eigenen Verletzlichkeit, Bedürftigkeit, (Selbst-)Unsicherheit, Ohnmacht, Scham und Angst. Die Herausbildung von Identität und Individuierung ist von Geburt an auf zuverlässige Beziehungen angewiesen. Spätestens im Erwachsenenalter muss dies mit Abgrenzung und dem Respekt vor der Autonomie anderer einhergehen. In der berufsbezogenen Beratung geht es darum, das Zusammenwirken der inneren Bedingungen von Individuen und der Bedingungen der jeweiligen Organisationen zu verstehen und zu fördern. Der Autor erläutert die psychische Bedeutung der Anhäufung von „Geld“ und „Macht“ als Versuch, empfundenen Abhängigkeiten und Ängsten entgegenzuwirken. 

Kapitel 3 (Die Struktur des Selbst) wendet sich mit Bezug u.a. auf Winnicott der Frage zu, wie das Selbst die Dynamik zwischen eigener und fremder Autonomie und Abhängigkeit austariert. Das Selbst beschreibt hier sowohl das Bild, das ein Individuum von sich hat, als auch seine Beziehung zu sich selbst. Von prägender Bedeutung sind frühkindliche Erfahrungen, die im gelungenen Fall Urvertrauen (Erikson) entstehen lassen, andernfalls zu Bindungsunsicherheit, nicht ausbalancierten Allmachts-, Verschmelzungs- und Untergangsfantasien und einem blockierten positiven Selbstwertgefühl führen. Ausbalancierung und gute Integration des Selbst erfordern insbesondere die Fähigkeit zur Selbstreflexion als nicht abschließbares, dialogisches Nachdenken über sich selbst in Beziehung zu anderen. Das Misslingen dieser Integrationsleistungen begünstigt narzisstische Krisen und deren Habitualisierung, die gegebenenfalls durch Fachpersonen zu behandeln sind.

Kapitel 4 (Zwischenmenschliche Regulierungsmuster) beschreibt, wie und mit welchen Folgen schmerzliche Erlebnisse mit Selbstunsicherheit, Ohnmacht, Scham und Angst verarbeitet und kompensiert werden. Hier führt Neukom Verdrängung, Rationalisierung und Projektion, Idealisierung, Entwertung, Spaltung, projektive Identifizierung, Externalisierung, schließlich narzisstische Aneignung (u.a. mit Selbstüberhöhung und Abwertung von Mitmenschen) und Verschmelzung (u.a. mit Wünschen nach bedingungsloser Geborgenheit Harmonie, Sicherheit und Versorgung) an. Diese Muster werden ins Verhältnis zu Führung in der Arbeitswelt gesetzt. Die Herausforderungen an Führungsarbeit, die u.a. erhöhtes Selbstmanagement, den Umgang mit Projektionen seitens Mitarbeitenden und Kolleg:innen und vielfältige Verführungen betreffen, erfordern Personen mit einem gut integriertem Selbst. Dem kann beispielsweise ein machtorientierter Führungsstil entgegenstehen, wobei lediglich die Interessen und Bedürfnisse der eigenen Person im Mittelpunkt stehen. Neukom kritisiert in diesem Zusammenhang bestimmte, rücksichtslos ausschließlich auf Zugewinn von Macht, Geld und Ansehen abzielende Unternehmensstrategien. 

Das abschließende 5. Kapitel befasst sich mit der Frage, was die oben vorgestellten, mit dem Narzissmus-Begriff verbundenen Regulierungsmuster für die Beratung von Führungskräften bedeuten. Der Autor berichtet aus seiner Erfahrung als Coach, dass es in konkreten Beratungssituationen, in denen Anerkennung eine bedeutende Rolle spielt, sehr wohl möglich ist, kränkende Erlebnisse zu bearbeiten und den betreffenden Personen Selbstreflexion zu ermöglichen. Dafür ist eine adäquate Haltung des Beratenden, charakterisiert u.a. durch Selbstbeobachtung (Wie erlebe ich mich?) und Fremdbeobachtung (Wie präsentiert sich mein Gegenüber?), notwendig. Soll ich als Berater durch besondere Erfolge beindruckt werden? Wie wird über schmerzhafte Gefühle gesprochen? Ein besonderes Augenmerk liegt auf narzisstischen Verstrickungen, wobei soziale Systeme so vereinnahmend werden, dass Differenzen unterdrückt und zu Enttäuschungen und Kränkungen führen. Sofern bei den zu Beratenden kein Zugang zu der eigenen Not besteht, Fähigkeit und Bereitschaft zur Selbstreflexion fehlen, kann es sinnvoll sein, einen Beratungsprozess zu beenden. Die Berater:innen benötigen eine angemessene Kommunikationsstrategie, um ihren Klienten:innen Problembewusstsein und Selbstreflexion zu ermöglichen. Ein wichtiger Faktor ist ohne Zeitdruck und Drängen zu beraten, sowie sich bewusst zu sein, dass das Ansprechen von Gefühlen leicht zu Scham und Vermeidungsverhalten führt. Marius Neukom schlägt für die Beratung beispielhaft eine Reihe von Formulierungen für Interventionen vor, die stets ein hohes Maß an Wertschätzung beinhalten, auf den Eindruck von Bevormundung verzichten und auf der Basis gewachsenen Vertrauens Vorschläge einzubringen. Als eine Strategie der Beratung nennt er das Mentalisieren, d.h. sich im Vergegenwärtigen von zielgerichteten Gedanken und Gefühlen zu üben. Beratung kann im gelungenen Fall dazu beitragen, Prozesse der Desillusionierung nachhaltig zu unterstützen. Die Bearbeitung narzisstischer Phänomene kann so zu einem soziokulturellen Regulativ werden.

Diskussion

Narzissmus ist ein Evergreen der psychoanalytischen, psychiatrischen, psychologischen, kulturpsychologischen und psychologisierenden Diskussion. Der Rezensent erinnert sich noch an die Aufregung über den „Neuen Sozialisationstyp“ (Thomas Ziehe), der vor 50 Jahren die beobachteten Änderungen im Verhalten und in den Einstellungen Jugendlicher erklären wollte oder auch an die entwicklungspsychologischen Kontroversen über primären und sekundären Narzissmus (Freud). Wie Marius Neukom zurecht feststellt, ist die Markierung von Personen und deren Verhalten als narzisstisch auch gegenwärtig fester Bestandteil alltagspsychologischer Erörterungen. Trotz dieser allgegenwärtigen Unschärfe kann festgestellt werden, dass egoistisches bzw. egozentrisches Verhalten verbreitet sind und von den Betreffenden oft wenig reflektiert wird. Narzisstisch strukturierte Führungskräfte können ebenso als erfolgreiche Unternehmer wirken wie für Teams und Organisationen Risiken erzeugen. Auch im Bereich der Sozialen Arbeit lassen sich Beispiele dafür finden, wie solches Verhalten Organisationen in den Abgrund führt. Es gibt also gute Gründe, den Umgang mit entsprechenden Phänomenen in der Beratung zu reflektieren. Marius Neukom greift hierbei auf bewährte Gesprächs- und Beratungsstrategien zurück, wobei er auch auf die Grenzen solcher Beratung, gerade bei massiven Persönlichkeitsstörungen, hinweist.

Fazit

Marius Neukom gibt wichtige Erläuterungen, Beispiele und praktische Hinweise für die Beratung von Personen und Teams, in denen Phänomene, die dem Narzissmus zugerechnet werden, eine Rolle spielen. Es sollte allerdings nicht erwartet werden, dass auf den 90 Seiten des Buches eine umfassende Reflexion über Narzissmus und die Nutzung dieses Begriffs geleistet wird. Ebenso ist es nicht frei von psychologischen Allgemeinplätzen. Mit Einschränkungen bietet das Buch eine anregende Lektüre für Berater:innen, Supervisor:innen und Coaches.

Rezension von
Wolfgang Witte
Pädagoge M.A., Supervisor und Coach (DGSv/SG)
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Es gibt 9 Rezensionen von Wolfgang Witte.

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Zitiervorschlag
Wolfgang Witte. Rezension vom 11.07.2024 zu: Marius Neukom: Narzissmus im Arbeitsleben. Selbstbezogenheit verstehen statt stigmatisieren. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2024. ISBN 978-3-525-40028-9. Reihe: Beraten in der Arbeitswelt. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32083.php, Datum des Zugriffs 13.01.2025.


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