Paul Auster, Spencer Ostrander: Bloodbath Nation
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 27.03.2024

Paul Auster, Spencer Ostrander: Bloodbath Nation. Rowohlt Verlag (Reinbek) 2024. 167 Seiten. ISBN 978-3-498-00323-4. D: 26,00 EUR, A: 26,80 EUR.
„Peng, peng – du bist tot!“
Waffenbesitz und Schusswaffengebrauch in den USA wird von den einen als Freiheits- und Selbstverteidigungsanspruch, von den anderen als missverstandenes, bürgerliches Recht ausgewiesen. Durch Schusswaffen werden täglich mehr als einhundert Menschen getötet. Bereits von Kindesbeinen an dienen Spielzeugwaffen als Macht- und Stärkesymbole; in Bilderbüchern, Romanen und Filmen ist der „Wilde Westen“ präsent, bei dem es notwendig ist, sich durch Waffengebrauch selbst zu verteidigen. Das Recht, Waffen zu besitzen und zu benutzen, ist in das Selbstbewusstsein vieler US-Amerikaner eingeschrieben und wird als „bürgerliches Recht“ beansprucht. Versuche, Waffenbesitz und -benutzung demokratisch- und verfassungsgemäß zu regeln, sind bisher gescheitert.
Entstehungshintergrund
Die Benutzung von Waffen, als Ausdruck von Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit, wird Kindern schon in frühen Jahren in der Familie, im Kindergarten, in der Schule und in Ferienlagern eingetrichtert; Selbstbestätigung und Erfolgserlebnisse, wenn die Kugel ins Schwarze trifft, werden gleichsam als Bildungs- und Erziehungsauftrag mitgeliefert. Die Entwicklung von der Spielzeugwaffe, dem Kleinkalibergewehr bis hin zur doppelläufigen Schrotflinte, vollzog sich, als Sporterlebnis, auch für Paul Auster. Er wurde jedoch nicht zum „Waffennarren“. Das mag auch daran gelegen haben, dass es in seiner persönlichen Umgebung niemand gab, die Schusswaffen benutzten: „Weder mein Vater noch meine Mutter oder sonst jemand im weiteren Familienkreis besaß eine Schusswaffe, keiner von ihnen betätigte sich als Jäger, war im Schützenverein oder sprach jemals davon, sich eine Kurzwaffe oder ein Gewehr anschaffen zu wollen, um seine Familie vor Einbrechern zu schützen“. Doch seine Ablehnung von Waffen hatte noch einen anderen Grund: Bei den Familienerzählungen war die Tatsache, dass sein Großvater früh gestorben war, ein Tabu. Erst viel später, als Erwachsener, wurde die Frage: „Wer war mein Großvater?“, beantwortet: Seine Großmutter hat ihren tyrannischen Mann mit einem im Haus befindlichen Revolver erschossen.
Autor
Der 1947 geborene Paul Auster ist ein anerkannter, erfolgreicher Schriftsteller. In seinen Romanen, Essays, Gedichten und Übersetzungen zeitgenössischer Lyrik thematisiert er immer wieder Fragen nach Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Frieden und spürt den „letzten Dingen“ nach. Mit „Bloodbath Nation“ unternimmt er eine sehr persönliche Auseinandersetzung und Abrechnung mit der „Vergottung des Waffentragens in der amerikanischen Kultur und Gesellschaft“. Das Bild von der „Waffe in der Hand des freien Bürgers“ leitet er her von der „Gewalt der Sklavenhaltergesellschaft“ und überträgt es auf die kontroversen, aktuellen Diskussionen und Entwicklungen des US-amerikanischen Gesellschaftssystems. Sein Text wird illustriert durch SW-Fotos des Fotografen Spencer Ostrander, der über zwei Jahre hinweg Schauplätze von mehr als dreißig Amokläufen als „Fotos der Stille“ aufgenommen hat.
Aufbau und Inhalt
Die Auseinandersetzungen gliedert Auster in fünf Kapitel. Es sind Reflexionen, Erinnerungen, Analysen und Bestandaufnahmen; etwa, dass sich nach Einschätzung des „Children’s Hospital of Philadelphia Research Institute“ derzeit rund 393 Millionen Schusswaffen im Privatbesitz amerikanischer Staatsbürger befinden: „Mehr als eine Waffe pro Mann, Frau und Kind“. Rund 40.000 Menschen werden erschossen – ungefähr genau so viel wie bei Autounfällen auf amerikanischen Straßen ums Leben kommen. Die Frage, „Wie sind wir geworden, was wir sind?“ beantwortet Auster mit einem historischen Ausflug in die US-amerikanische Geschichte: Ureinwohner, Kolonialzeit, Freiheits- und Unabhängigkeitsbewegungen, Siedlungspolitik… Es sind Amokläufe (mass shootings), die zwar nur einen Bruchteil der Schusswaffenopfer in den USA ausmachen, jedoch regelmäßig – „einer pro Tag“ – die Öffentlichkeit aufschrecken, aber an den Einstellungen der Menschen wenig ändern. Dem medialen Entsetzen folgt bald das „American Way of Life“. Die „Black Panther“-Bewegung, die verfasste „Kapitalismus“-Klausel, die „Tellerwäscher“- Ideologie, National Rifle Association (NRA), Waffenzeitschriften und Links – die Einflüsse und Aktivitäten bewirken, dass Gesetze und Verordnungen zur Waffenkontrolle nicht durchgesetzt werden können.
Diskussion
„Die Vereinigten Staaten sind durch Gewalt zustande gekommen, haben aber auch eine Vorgeschichte, hundertachtzig Jahre in ununterbrochenem Krieg mit den Ureinwohnern des Landes, das wir ihnen weggenommen haben“. Daraus entwickelt hat sich die Einstellung: „Gewaltanwendung als Geburtsrecht“. Natürlich greift nicht jeder Waffenbesitzer zur Waffe; „aber Waffenbesitzer töten, weil sie eine Waffe besitzen“. Die US-amerikanische Gesellschaft ist gespalten: In Habende und Habenichtse, in Weiße, Schwarze und Andere, in Waffentragende und Waffenlose. Es ist ein pessimistisches Bild, das Paul Auster für die Gegenwart und Zukunft der USA zeichnet: „Die Waffengewalt nimmt zu! Von 2019 auf 2020 haben Morde in den größten Städten des Landes um rund 30 % zugenommen!“ In New York ist die Zahl der mit Schusswaffen begangenen Verbrechen vom Mai 2020 bis Mai 2021 um 73 % gestiegen! Die legale und illegale Nachfrage nach Waffen steigt!
Fazit
Menschlichkeit schaffen, nicht Waffen! In den Zeiten von Unsicherheiten und Kriegen, von ideologischen und politischen Verquerdenkereien, von demokratiefeindlichen, radikalisierten, ego- und ethnozentristischen, fundamentalistischen und populistischen Einstellungen ertönt schnell der Ruf nach Verteidigung durch Waffen. Der private Besitz von Waffen und deren Anwendung bei vermeintlichen oder tatsächlichen Gefahren auf Leib, Leben oder Besitz jedoch verringert sie nicht, sondern erhöht sie. Paul Austers Plädoyer nach Waffenkontrolle in den USA ist längst fällig!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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