Andreas Hill, Elmar Habermeyer et al. (Hrsg.): Süchtiges und zwanghaftes Sexualverhalten
Rezensiert von Wolfgang Schneider, 08.04.2024

Andreas Hill, Elmar Habermeyer, Peer Briken, Oliver Bilke-Hentsch, Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank et al. (Hrsg.): Süchtiges und zwanghaftes Sexualverhalten. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2023. 190 Seiten. ISBN 978-3-17-033742-8.
Thema
Wann wird Sexualität zur Sucht? In der ICD-11 ist die „Zwanghafte sexuelle Verhaltensstörung“ erstmals als operationalisierte Diagnose definiert, das Phänomen sexuell süchtigen Verhaltens wurde jedoch bereits Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben. Dieser Band liefert einen praxisbezogenen Überblick über das Störungsbild, die Diagnostik, Ursachen sowie psychotherapeutische und medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten.
Autor:innen
PD Dr. med. Andreas Hill ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Forensische Psychiatrie, Sexualmedizin, eigene Praxis in Hamburg und Leitender Arzt der Klinik für Forensische Psychiatrie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.
Prof. Dr. med. Elmar Habermeyer ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeut, FMH Schwerpunkt Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, Direktor der Klinik für Forensische Psychiatrie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.
Prof. Dr. med. Peer Briken ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Forensische Psychiatrie, Sexualmedizin, Direktor des Instituts für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Neben den Herausgebern haben sechs weitere Autor:innen Texte beigesteuert.
Entstehungshintergrund
Der Titel ist Teil der Reihe „Sucht: Risiken-Formen – Interventionen“ aus dem Kohlhammer Verlag.
Aufbau und Inhalt
Zunächst erfolgt unter der Überschrift Historische Entwicklung und Definitionen von sexuell süchtigem bzw. zwanghaftem Verhalten eine grundsätzliche Betrachtung von Sexualität in Zeiten digitaler Medien. Was hat sich dadurch verändert? Im Folgenden betrachten die Autor:innen die historische Entwicklung der Konzepte von Hypersexualität, sexuell süchtigem und sexuell zwanghaftem Verhalten, bevor entsprechende Diagnosen anhand der gängigen Manuals Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM), das im anglo-amerikanischen Raum verwendet wird, sowie des ICD (International Classification of Diseases) der Weltgesundheitsorganisation vorgestellt werden. Letzteres Manual findet in Deutschland Anwendung bei der Klassifikation von Krankheiten. Kurz wird zum Abschluss deieses ersten Kapitels noch angerissen, welche Abgrenzungen und Überschneidungen zwischen süchtigem Sexualverhalten und paraphilen Störungen wie der Pädophilie bestehen.
Das zweite Kapitel widmet sich der Epidemiologie, stellt also dar, wie häufig entsprechende Süchte in der Gesamtbevölkerung vorkommen. Interessant dabei: Ein einheitliches statistisches Bild gibt es aus verschiedenen Gründen, die im Text vorgestellt werden nicht, was eine quntitaive Einordnung der Phänomene nur eine grobe Skizze sein lässt.
Verhaltensspezifika ist das dritte Kapitel überschrieben. Hier werden anhand der Kategorien Masturbation, Cybersex und Konsum vom Internetpornografie, Promiskes Sexualverhalten, Telefonsex und Strip-Clubs und Riskantes Sexualverhalten verschiedene Ausprägungen von süchtigem und zwanghaftem Sexualverhalten beschrieben. Wie schleichen sich diese Verhaltensweisen in den Alltag der Menschen ein? Unter anderem Antworten darauf liefern einige Fallbeispiele. Den Abschluss dieses Kapitels bildet ein spezieller Blick auf Verhaltensspezifika und Besonderheiten von Frauen.
Im fünften Kapitel werden in geraffter Form Neurobiologische Grundlagen benannt. Dabei geht es zum Beispiel um funktionelle Hirnaktivität bei problematischem Sexualverhalten und die Ausprägung von Verhaltens- und Persönlichkeitsmerkmalen in diesem Zusammenhang.
Einen praktischen Blick auf die Folgen für die Betroffenen wirft das Kapitel Verhaltenswirkungen, wobei sich zeigt, dass viele der Patient:innen durchaus erst einmal positive Aspekte benennen wie den Abbau von Stress durch ihr Sexualverhalten. Wie bei allen Süchten bleibt es allerdings in der Regel nicht bei den guten Seiten, was in den einzelnen Unterabschnitten nach psychischen, sozialen und körperlichen Folgen kategorisiert wird.
Im Kapitel Psychosoziale Aspekte geht es zu großen Teilen um das süchtige und zwanghafte Sexualverhalten in der forensischen Psychiatrie bzw. dessen forensisch-psychiatrische Begutachtung.
Auf Ursachenforschung gehen die Autor:innen im Kapitel Ätiologie – ein integrativer, interdisziplinärer Ansatz. Zunächst wird das süchtige Sexualverhalten als Verhaltenssucht im Rahmen der stoffgebundenen und ungebundenen Süchte klassifiziert, bevor alternative Erklärungsmodelle und Einflüsse betrachtet werden.
Wie es überhaupt möglich ist, eine Diagnostik zu erstellen, beschreibt das achte Kapitel. Dabei stehen zunächst die Anamneseerhebung, die körperliche Untersuchung sowie die apparative diagnostik im Fokus, bevor es um die Differenzialddiagnostik und die Abgrenzung der paraphilen Störungen geht. Es folgen kurze Darstellungen der psychometrischen Diagnostik, also der Verwendung von entsprechenden Fragebögen, bevor abschließend auch grafisch ein diagnostischer Algorithmus vorgestellt wird.
Im Kapitel Komorbidität werden unter anderem Zusammenhänge mit affektiven Störungen und Angststörungen diskutiert sowie mit somatischen Erkrankungen. Außerdem wird die interessante Frage aufgeworfen, ob es sich bei süchtigem Sexualverhalten primär um eine Störung oder eher ein Symptom handelt.
Das zehnte Kapitel ist mit Therapie überschrieben. Entsprechend werden Psychotherapie und andere psychosoziale Behandlungsmaßnahmen beschrieben sowie Ansätze der medikamentösen Therapie beschrieben.
Den Abschluss bildet das elfte Kapitel Synopse und Ausblick, in dem deutlich wird, dass es sich in allen Bereichen um ein „intellektuell und praktisch herausforderndes“ (S. 161) Feld handelt.
Diskussion
Wie bei den anderen Titeln der Reihe wird hier kurz und prägnant mit einem übersichtlichen Layout eine Faktensammlung präsentiert, die einen ersten Überblick über ein spannendes Thema gibt. Der Preis erscheint mit über 30 Euro für ein dünnes Büchlein von weniger als 200 Seiten zunächst recht hoch, wird aber durch die hohe Qualität des Inhalts gerechtfertigt. Wie man es auch von solchen Expert:innen eigentlich auch erwarten darf, überzeugt das Buch durch eine beschreibende Sprache, die niemals wertet, und so Informationen vermittelt.
Fazit
Wenn auch sehr dünn – was der problematischen Forschungslage in diesem Bereich geschuldet ist – reiht sich dieser Titel nahtlos in die hohe Qualität der Reihe ein.
Rezension von
Wolfgang Schneider
Sozialarbeiter
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