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Shevek Selbert: Autobiographisches Wiedererzählen

Rezensiert von Dr. Olga Frik, 03.04.2025

Cover Shevek Selbert: Autobiographisches Wiedererzählen ISBN 978-3-8376-7190-2

Shevek Selbert: Autobiographisches Wiedererzählen. Eine interdisziplinäre Studie im qualitativen Längsschnitt. transcript (Bielefeld) 2024. 364 Seiten. ISBN 978-3-8376-7190-2. D: 49,00 EUR, A: 49,00 EUR, CH: 59,80 sFr.
Reihe: Medical Humanities - 14.

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Thema und Entstehungshintergrund

Shevek K. Selbert geht in seiner Studie folgenden Fragen nach: Wie erzählen Menschen ihre Lebensgeschichten? Und wie verändern sich diese Erzählungen im Laufe der Zeit? Der Autor widmet sich an der Schnittstelle von Biographieforschung, Psychologie und Erzählforschung vollumfänglich wiederholten biographisch-narrativen Interviews, die im Abstand von zehn Jahren geführt wurden. Als Pionierarbeit qualitativer Längsschnittforschung entwickelt er Methoden, um die Erzählversionen miteinander zu vergleichen – und bietet einen einzigartigen Einblick in die Dynamik sowie die (auch therapeutische) Bedeutung von Selbsterzählungen für die Identitätsbildung und die Lebensgestaltung.

In der vorliegenden Arbeit geht der Autor einem Erkenntnisinteresse nach, indem er ein erhebungsinnovatives Erzählmaterial in auswertungsinnovativer Weise analysiert. Es geht darum, reflektierend zu erproben, wie sich wiederholte autobiographische Stegreiferzählungen erheben, theoretisch und methodisch beschreiben, verstehen und erklären lassen.

Die Forschungsfragen der Studie sind doppelköpfig: Einerseits geht es darum, eine längsschnittliche, erzähltheoretisch fundierte Studie der Biographieforschung durchzuführen, erhebungsmethodisch und auswertungsmethodisch zu explorieren, weiterzuentwickeln und zu erproben. Andererseits geht es darum, auch biographietheoretisch zu erkunden, wie sich Annahmen und Lehrmeinungen über Lebenserzählungen, die anhand Einmalerhebungen gewonnen wurden, bewähren, wenn sie auf Mehrfacherhebungen angewandt werden.

Autor

Shevek K. Selbert (M.A.), geb. 1981, studierte Philosophie und Pädagogik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 2023 promovierte er an der Medizinischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau mit der hier vorliegenden Dissertation zu wiederholten biographisch-narrativen Interviews zum Dr. sc. hum. Die Promotion erfolgte im Rahmen des interdisziplinären DFG-Graduiertenkollegs 1767 »faktuales und fiktionales erzählen«. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Zusammenhang zwischen Biographie, Identität und Erzählen.

Aufbau und Inhalte

Die vorliegende Studie greift zentrale Aspekte auf, die für eine qualifizierte Betrachtung der Dynamik sowie der (auch therapeutischen) Bedeutung von Selbsterzählungen für die Identitätsbildung und die Lebensgestaltung von Bedeutung sind. Das Buch gliedert sich in die folgenden acht Abschnitte:

  • Kapitel 1 „Einleitung“
  • Kapitel 2 „Forschungslandschaft(en)“;
  • Kapitel 3 „Theoretisches Fundament“;
  • Kapitel 4 „Materialbasis und Gesamtkorpusrekonstruktion“;
  • Kapitel 5 „Auswertungsmethode“;
  • Kapitel 6 „Biographische Schlüsselfallanalysen“;
  • Kapitel 7 „Modellbildung“;
  • Kapitel 8 „Synthese und Diskussion“.

Im Kapitel 1 („Einleitung“) gibt der Autor eine Einführung in die Thematik und einen Ausblick auf Inhalte und Aufbau seiner Arbeit. In diesem Einleitungskapitel wird die Untersuchungsperspektive der Studie erläutert und in die Forschungslandschaft eingeordnet. Im ersten Schritt entwirft Shevek K. Selbert einen Überblick auf den größeren interdisziplinären Zusammenhang, um die besondere medizinische und meta- bzw. interdisziplinäre Relevanz des Wiedererzählens zu entwickeln. In einem zweiten Schritt stellt er sein konkretes Erkenntnisinteresse dar, entwickelt die zugrundeliegende Definition des Autobiographischen Wiedererzählens und benennt die anleitenden und begleitenden methodischen und theoretischen Forschungsfragen. In einem letzten Unterkapitel vermittelt der Autor schließlich Gliederung und Arbeitsprogramm seiner Dissertation.

Im Kapitel 2 („Forschungslandschaft(en)“) wird der Forschungsstand aufgearbeitet.

Der Autor entfaltet in einem ersten Schritt den Blick in die Forschungslandschaft(en). In Kapitel 2 leistet der Autor also zunächst einen Überblick in die zwei vergleichsweise neue Forschungsentwicklungen, die er in seinem Vorhaben zusammenführt: Zum einen Forschungsanstrengungen, die sich als Wiedererzählforschung bezeichnen lassen (2.1), zum anderen Forschungsbestrebungen der Verlängsschnittlichung in der Biographieforschung (2.2). Dafür skizziert er die Entwicklung der Wiedererzählforschung anhand zentraler Publikationen, wobei deren bisheriger Fokus auf lokales Wiedererzählen i.S.v. Einzelgeschichten deutlich wird. Danach verdeutlicht der Autor die Pionierarbeit längsschnittlicher Biographieforschung zunächst an einem besonders strahlkräftigen Beispielprojekt, um das herum er dann eine Übersicht der Studienlage entwirft.

Im Kapitel 3 („Theoretisches Fundament“) wird das theoretisch-methodologische Fundament in einem zweiten Schritt in die Landschaft hineinentwickelt, das der vorliegenden

Studie als Forschungsperspektive zugrunde liegt. In diesem Kapitel wird die Brücke zwischen den Forschungslandschaften und der empirischen Auswertung geschlagen. Hier führt der Autor eine theoretische Konstitution seines Forschungsgegenstandes durch, indem er in drei Etappen das theoretische Fundament der Unternehmung erläutert. Zunächst schlägt er ein Erklärungsmodell vor, wie der historisch faktische Lebensvollzug durch subjektive Verarbeitungsprozesse über Ereignis, Erleben, Erinnern, Erzählen und Erklären in einer jeweils situierten Lebenserzählung zur Darstellung kommt (3.1). Dann argumentiert er dafür, zum Verständnis von Lebenserzählungen im Stegreif von einer Dreipoligkeit auszugehen. Er schlägt vor, nicht nur von drei wesentlichen Textsorten, nämlich chronikalisches Berichten, episodisches Erzählen und biographisches Argumentieren, sondern auch von drei damit korrelierenden biographischen Stimmen, nämlich Person-Ich, Erzähl-Ich und Autor-Ich, auszugehen.

Der sich daran anschließende empirische Teil widmet sich mit Kapitel 4 („Materialbasis und Gesamtkorpusrekonstruktion“) zunächst ausführlich der zugrundeliegenden Materialbasis. Es geht es darum, die Materialbasis der zwei Mal fünfzehn biographischnarrativen Interviews in ihrer Gesamtheit zu erschließen. Selbert rekonstruiert und dokumentiert diese darin nicht nur materiell in ihrer Entstehung, Umfang und Beschaffenheit, sondern reflektiert auch die damit verbundenen Fragen längsschnittlicher qualitativer Datenerhebung. Zentral hierfür ist der Einfluss der Interviewführung, sodass der Autor Phänomenen der Nachfragteile, der Interviewbeziehung und des Interviewendenwechsels hier ebenso kritisch nachgeht, wie Beobachtungen zur Teilnahmebereitschaft und Erinnerungswürdigkeit, aber auch möglichen Effekten des Befragungszeitpunkts. Die Darstellung der Fallpriorisierung und Schlüsselfallselektion schließt diese Gesamtkorpusrekonstruktion ab.

Im Kapitel 5 („Auswertungsmethode“) werden die konkreten Analyseschritte vorgestellt, die der Autor der Fallanalyse als Auswertungsmethode zugrunde gelegt hat

Im Kapitel 6 („Biographische Schlüsselfallanalysen“) werden schließlich die Ergebnisse der Fallanalysen präsentiert. Sechs Schlüsselfälle sind notwendig, um die globalen und lokalen Phänomene des Autobiographischen Wiedererzählens in ihrer Breite und Tiefe auffinden und herausarbeiten zu können. 

Im dritten Teil der Arbeit, der Ergebnissicherung, führt Selbert diese sechs Schlüsselfälle in Kapitel 7 („Modellbildung“) zu einem Typenmodell autobiographischen Wiedererzählens zusammen, das er mit einer Nebenfallbetrachtung auch mit den neun übrigen Fällen des Gesamtkorpus konfrontiert. Möglich wird dies durch einen mehrstufigen Prozess der Relationierung: In einem ersten Schritt resümiert der Autor die einzelnen Schlüsselfalltypiken, indem er diese paarweise miteinander ins Verhältnis setzt (7.1). Im zweiten Schritt führt er diese Typenpaare zu einem Typenmodell zueinander (7.2), das er abschließend in einem dritten Schritt dafür nutzt, die neun übrigen Fälle des Gesamtkorpus zuzuordnen (7.3).

Mit Kapitel 8 („Synthese und Diskussion“) endet die Ausarbeitung in einer Synthese und Diskussion. Dazu trägt der Autor in einer resümierenden Theoriebildung zusammen, was er zu den Bedingungen und Einflüssen autobiographischen Wiedererzählens insgesamt hat herausfinden können und unterscheidet dafür mit biographischem Erzählprofil, Situationseffekten und Zeitpunkteffekten drei Hauptfaktoren. Abschließend diskutiert und reflektiert er Erträge und Limitationen der Studie, weist leftovers aus und entfaltet Perspektiven der Anschlussforschung.

Zielgruppen

Das Buch eignet sich für Studierende und Lehrende der Studiengänge aus den Bereichen empirische Sozialforschung, die an dem Zusammenhang zwischen Biographie, Identität und Erzählen interessiert sind.

Diskussion

Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit wurde von der Frage geleitet, wie Menschen ihre Lebensgeschichten erzählen und sich diese Erzählungen im Laufe der Zeit verändern. Die vorliegende Studie ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie einem nicht-disziplinären Forschungsinteresse, das in die bestehenden akademischen Grenzziehungen schwerlich einzupassen ist, durch multidisziplinäre Vorarbeiten und Unterstützung nachgegangen werden kann.

Fazit

Ein gelungenes und sehr zu empfehlendes Buch, das die Dynamik sowie die (auch therapeutische) Bedeutung von Selbsterzählungen für die Identitätsbildung und die Lebensgestaltung darstellt. Die gesammelten Erkenntnisse machen das Buch zu einer aufschlussreichen und lohnenswerten Lektüre.

Rezension von
Dr. Olga Frik
Omsker Staatliche Universität für Agrarwissenschaften (benannt nach P.A. Stolypin), Omsk, Russische Föderation. Ehemalige Lehrbeauftragte und Gastwissenschaftlerin an der Leibniz-Universität Hannover
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Es gibt 47 Rezensionen von Olga Frik.

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ISSN 2190-9245