Liane Grewers: Gewaltprävention und Gewaltintervention in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung
Rezensiert von Sascha Omidi, 13.03.2025

Liane Grewers: Gewaltprävention und Gewaltintervention in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung. Schutzkonzepte - Mustertexte - Fallbeispiele. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2024. 99 Seiten. ISBN 978-3-17-044303-7. 29,00 EUR.
Thema
Das Buch Gewaltprävention und Gewaltintervention in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung von Liane Grewers widmet sich dem wichtigen Thema des Gewaltschutzes für Menschen mit Behinderungen. Grewers zeigt anhand von Praxisbeispielen, Rechtsgrundlagen und konkreten Konzepten auf, wie Einrichtungen im Bereich der Eingliederungshilfe ihre Schutzkonzepte optimieren und Gewalt effektiv vorbeugen können. Dabei verdeutlicht Grewers, dass trotz gesellschaftlicher Fortschritte weiterhin gravierende Missstände und Rechtsverletzungen existieren, die es zu überwinden gilt. Ihr Werk bietet Einrichtungen praxisorientierte Mustertexte und Vereinbarungen, um den Gewaltschutz konkret umzusetzen.
Autor:in oder Herausgeber:in
Liane Grewers ist Jurist:in und war Referatsleiter:in im Hessischen Sozialministerium.
Entstehungshintergrund
Im Vorwort beschreibt Grewers ihre praktische Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigung, ihre Tätigkeit bei der Heimaufsicht sowie die Erfahrungen, die sie während der Entwicklung eines Schutzkonzepts bei einem Träger der Eingliederungshilfe sammelte. In der anschließenden Einleitung spannt sie den Bogen von der nationalsozialistischen Vernichtung über heutige Praktiken der Pränataldiagnostik bis hin zu den Morden an vier Menschen mit Beeinträchtigung in Potsdam im Jahr 2021. Zudem zitiert sie hier die 2013 erschienene Studie von Monica Schröttle zur Lebenssituation, zu den Belastungen, Diskriminierungen und Gewalterfahrungen von Frauen und Mädchen mit Behinderung sowie die 2013 erschienene, ähnlich aufgebaute Studie in Bezug auf Männer mit Behinderungen.
Ihr Befund: In den letzten drei Jahrzehnten kann von bedeutenden gesellschaftspolitischen Fortschritten zugunsten von Menschen mit Behinderung gesprochen werden. Gleichzeitig gebe es jedoch auch heute noch viele, die sich mit der Anerkennung von Menschen mit Beeinträchtigung als lebens- und achtenswert schwertun (vgl. ebd.: 13). Zudem sei das differenzierte Rechtssystem der deutschen Eingliederungshilfe zwar theoretisch in der Lage, gleichberechtigte Teilhabe und Inklusion zu ermöglichen. In der Praxis stünden diesem Potenzial jedoch weiterhin permanente Rechtsverletzungen, ein Wissensdefizit in Bezug auf die eigenen Rechte aufseiten der Menschen mit Beeinträchtigung sowie ein Mangel an Akteuren, die bei der Wahrnehmung dieser Rechte unterstützen könnten, entgegen (vgl. ebd.: 19).
Aufbau
Liane Grewers' Buch umfasst 99 Seiten und gliedert sich in fünf Kapitel.
Inhalt
Wie oben bereits dargestellt, stellt Grewers in der Einleitung ihres Buches einerseits Verbesserungen im Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigung fest, andererseits erkennt sie weiterhin gravierende Defizite in Wertschätzung und Gleichbehandlung. Dies illustriert sie anhand verschiedener Beispiele, darunter die Morde und schweren Körperverletzungen im April 2021 an mehreren Menschen mit Beeinträchtigungen in Potsdam. Hier kritisiert sie das Fehlen einer breit angelegten gesellschaftspolitischen Debatte und Aufarbeitung der Tat (vgl. ebd.: 15).
Grewers betont, dass Strukturen der Eingliederungshilfe, in denen institutionelle und organisationale Abläufe über den Interessen der Nutzer:innen stehen, Nährböden für Gewalt gegen Menschen mit Behinderung seien. Schließlich beschreibt sie eine Reihe von Rechtsverletzungen, unter denen Menschen mit Beeinträchtigungen gerade in besonderen Wohnformen zu leiden hätten. So könnten Einrichtungsnutzer:innen nicht immer selbst entscheiden, was und wie viel sie essen. Auch sei eine Entscheidung darüber, wer pflegerische Maßnahmen – auch im Intimbereich – vornimmt, nicht immer möglich. Nicht selten kämen freiheitsentziehende Maßnahmen zum Einsatz, die weder in den Akten vermerkt noch durch richterliche Anordnung gedeckt seien.
In Kapitel 2 legt Liane Grewers die in Deutschland bestehenden rechtlichen Grundlagen für den Gewaltschutz von Menschen mit Behinderung dar. Der Rechtsbereich der Behindertenpolitik in der BRD ist aus Grewers' Sicht richtungsweisend und liege vor einer gewünschten Gewaltschutz-Realität (vgl. ebd.: 20). Dieser Vorsprung zeigt sich, so Grewers, etwa an den von ihr zitierten Paragrafen der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die Deutschland bereits 2009 ratifizierte und damit in geltendes Recht übersetzte.
Die Fortschrittlichkeit des deutschen Rechts im Hinblick auf die Rechte von Menschen mit Behinderung wird auch im Abschnitt über das Grundgesetz (GG) deutlich. So garantieren die aus Art. 2 Abs. 1 (Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit) und Art. 1 Abs. 1 (Unantastbarkeit der Würde) hergeleiteten allgemeinen Persönlichkeitsrechte einen Rechtsanspruch auf die freie Bestimmung über die eigene Sexualität. Dies schließt ein Recht auf Schutz vor Straftaten gegen diese Selbstbestimmung ein. Besonders hervorzuheben ist der bestehende Anspruch auf gleichgeschlechtliche Pflege, der sich laut Grewers aus dem Wunsch- und Wahlrecht unter Berücksichtigung des Geschlechts und unter Achtung der Menschenwürde herleiten lasse. Als relevante Rechtsquellen benennt sie den § 33 Sozialgesetzbuch I (SGB I), den § 8 Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) und den § 2 Abs. 1 und 2 Sozialgesetzbuch XI (SGB XI) (vgl. ebd.: 24).
In Kapitel 3 stellt Grewers ein Gewaltpräventions- und -interventionskonzept zur Verfügung, das sich in sechs Unterabschnitte gliedert. Das Konzept ist in vereinfachter Sprache verfasst und kann von Einrichtungen als Kopiervorlage und zur Anpassung an eigene Bedarfe verwendet werden (vgl. ebd.: 27). Zum Thema Umgang mit Sexualität und Intimsphäre von Menschen mit Beeinträchtigung bietet es ebenso konkrete Vorgaben wie zum Vorgehen bei Verdachtsmomenten oder tatsächlichen Gewaltbeobachtungen (vgl. ebd.: 28–36).
Insgesamt enthält das Kapitel in sechs Unterabschnitten Mustertexte, darunter eine Selbstverpflichtungserklärung für Mitarbeitende sowie ein Verhaltensregularium für Mitarbeitende, Bewohnende und Beschäftigte. Grewers legt klare Regeln zum Umgang mit Intimsphäre und Sexualität fest und betont bspw., dass sexuelle Beziehungen zwischen Fachkräften und Betreuten zur Kündigung der Fachkraft führen sollten (vgl. ebd.: 61). Zudem weist sie auf die Notwendigkeit der regelmäßigen Überprüfung freiheitsentziehender Maßnahmen hin.
In Kapitel 4 werden die konzeptionellen Vorlagen durch Liane Grewers auf konkrete Fallbeispiele bezogen. Die Fallbeispiele schildern unterschiedliche Gewaltkonstellationen (Einrichtungsleitung gegen Bewohner, Bewohner gegen Bewohnerin, Fachkraft gegen Bewohnerin, Busfahrer gegen Werkstattbeschäftigte). Interessant ist hier etwa das erste Fallbeispiel, bei dem es um Fehlverhalten der Leitung geht. In einem weiteren Fallbeispiel wird der mögliche Umgang mit der eingeschränkten Nahrungsaufnahme eines Bewohners durch Fachkräfte einer Wohneinrichtung besprochen, den eine Praktikantin „aufdeckt“. Schließlich spielt Grewers als letzten Fall einen vermuteten sexuellen Übergriff durch einen Fahrdienstmitarbeiter durch.
Diskussion
Das Buch ist schlüssig aufgebaut. Es werden zunächst die rechtlichen Grundlagen der Gewaltprävention in Einrichtungen der Eingliederungshilfe geklärt. In diesem Teil fehlt in Bezug auf die Werkstatt für behinderte Menschen eine Beleuchtung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes und des Arbeitsschutzgesetzes. Beide Regularien bieten jedoch wichtige Vorgaben für die Gewaltprävention im Werkstattbereich. Der Darstellung der rechtlichen Voraussetzungen folgen konkrete Werkzeuge und Vorlagen, die Liane Grewers in Kapitel 3 zur Verfügung stellt. Hier formuliert sie klare Regeln zur Umgangsweise mit den Themen Sexualität, Intimsphäre, freiheitsentziehende Maßnahmen oder der Einschränkung von Nahrungsmitteln, was für die Umsetzung von Gewaltschutzkonzepten hilfreich ist.
Ein kleiner Wehrmutstropfen: Schon im Konzept zum Umgang mit Sexualität und Behinderung macht Grewers umfangreiche Angaben dazu, wie mit Verdachtsfällen und Beobachtungen umzugehen sei (vgl. ebd.: 34). Dies hätte auch an anderer Stelle behandelt werden können. Die Sexualität von Menschen mit Beeinträchtigung wird damit stark in die Nähe von Gewalt gerückt und erfährt dadurch eine Problematisierung, von der wir sie ja eigentlich befreien wollen.
Grewers macht durch ihren starken Bezug auf die rechtliche Ebene nur wenige qualitative Unterschiede hinsichtlich des Phänomens der Gewalt. So geht es sowohl im Abschnitt 3.4.2 Allgemeines als auch in den Fallbeispielen aus Kapitel 4 vorrangig um strafrechtlich relevante Formen der Gewalt. Durch diese Akzentuierung kommen jedoch Grenzverletzungen und Übergriffe, also Gewaltformen, die sich unterhalb dieser Grenze bewegen, etwas zu kurz. Prävention in der Eingliederungshilfe sollte jedoch im Wesentlichen den Versuch umfassen, diese Vorstufen zu vermeiden, um der Entstehung strafrechtlich relevanter Gewalt vorzubeugen.
Gleichzeitig besteht im klaren Bezug der Rechtsvorschriften auf konkrete Fallbeispiele in Kapitel 4 die große Stärke von Grewers' Buch. Durch diese praxisnahe Einordnung sind die rechtlichen Grundlagen und damit die Funktionsweise des hier vorgelegten Konzepts noch einmal deutlich besser nachzuvollziehen. Insbesondere dieser letzte Punkt ist für Praktiker:innen in Einrichtungen, die Schutzkonzepte entwickeln, sehr hilfreich. Dies macht das Buch zu einem wertvollen Beitrag im Präventionsdiskurs.
Fazit
Das Buch von Liane Grewers bietet einen fundierten Überblick über rechtliche und praktische Aspekte der Gewaltprävention in Einrichtungen der Eingliederungshilfe. Besonders hervorzuheben sind die praxisnahen Fallbeispiele und die konkreten Mustertexte, die für Fachkräfte und Einrichtungen einen hohen Nutzen bieten. Kritisch bleibt jedoch der geringe Fokus auf Grenzverletzungen und Übergriffe unterhalb der strafrechtlichen Relevanz. Trotz dieser Einschränkung stellt das Werk einen wertvollen Beitrag für die Praxis der Gewaltprävention dar.
Rezension von
Sascha Omidi
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