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Heide Glaesmer, Birgit Wagner et al. (Hrsg.): Ehemalige Heimkinder der DDR

Rezensiert von Wolfgang Schneider, 03.05.2024

Cover Heide Glaesmer, Birgit Wagner et al. (Hrsg.): Ehemalige Heimkinder der DDR ISBN 978-3-608-98095-0

Heide Glaesmer, Birgit Wagner, Silke Birgitta Gahleitner, Heiner Fangerau (Hrsg.): Ehemalige Heimkinder der DDR. Traumatische Erfahrungen und deren Bewältigung über die Lebensspanne. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2023. 248 Seiten. ISBN 978-3-608-98095-0. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR.

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Thema

In der DDR waren zwischen 1949 und 1989 etwa eine halbe Million Kinder und Jugendliche in Normal- und Spezialheimen sowie Jugendwerkhöfen untergebracht. Ihre oftmals belastenden und traumatischen Erfahrungen und die psychosozialen Folgen wurden bisher zu wenig beachtet. Das Buch gibt Einblicke in die Ergebnisse des interdisziplinären Forschungsverbunds »Testimony – Erfahrungen in DDR-Kinderheimen. Bewältigung und Aufarbeitung«. Im Fokus stehen das Erleben der damaligen Kinder und Jugendlichen und ihre Bewältigungsleistungen bis in die Gegenwart, die für die gesellschaftliche Aufarbeitung von großer Bedeutung sind. Die große Stärke des Bandes ist das weite Spektrum der angelegten Perspektiven. Ein Buch für wissenschaftlich Interessierte und Praktiker:innen aus dem Bereich der psychosozialen Versorgung, aber auch für die Betroffenen selbst. 

AutorInnen

Prof. Dr. Heide Glaesmer ist stellvertretende Leiterin der Abteilung für Medizinische Soziologie an der Universität Leipzig. Prof. Dr. Birgit Wagner forscht und lehrt an der Medical School Berlin. Sie ist Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie/​Verhaltenstherapie. Prof. Dr. Silke Birgitta Gahleitner ist Professorin für Klinische Psychologie und Sozialarbeit an der Berliner Alice Solomon Hochschule. Prof. Dr. Heiner Fangerau ist Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Aufbau und Inhalt

Die stationäre Jugendhilfe in der ehemaligen DDR lässt sich in „sogenannte Normalheime, Spezialheime und Durchgangsheime unterteilen“ (S. 13). Alleine in diesen Begrifflichkeiten liegen schon Wertungen. So wurden in den Normalheimen Kinder und Jugendliche untergebracht, bei denen (vermutete) Kindeswohlgefährdungen vorlagen, eine Überforderung der Eltern bestand oder diese nicht verfügbar waren. Während das noch nach der Jugendhilfe klingt, die wir heute kennen. Ganz anders wird es bei den jungen Menschen, die als schwer erziehbar oder verhaltensauffällig identifiziert wurden. Sie kamen in Spezialheime – die Jüngeren in Spezialkinderheime, Jugendliche ab 14 in die Jugendwerkhöfe. Das Ziel der Aufenthalte war identisch: Umerziehung zur Behebung der als auffällig kategorisierten Verhaltensweisen, teilweise ohne jede Beschulung und lediglich unter Erfüllung einiger menschlicher Grundbedürfnisse. Dass hier viel Unrecht geschah, ist unzweifelhaft, die (wissenschaftliche) Aufarbeitung dazu aber noch mehr oder weniger am Anfang. Umso wichtiger ist es, dass ehemalige Bewohner:innen zu Wort kommen, wie es in dem Forschungsprojekt geschieht, das dem Buch zugrunde liegt.

Nachdem die Herausgeber:innen diese und noch viele weitere wichtigen Basisinformationen in der Einleitung vermittelt haben, geht es in insgesamt zehn Kapiteln in die Tiefen des Forschungsprojektes. Den Abschluss des Buches bilden ein Ausblick und ein Anhang. Literaturangaben finden sich jeweils an den Kapitelenden.

Im Kapitel Biografische Sequenzen von Menschen mit DDR-Heimerfahrungen kommen die Proband:innen des Forschungsprojektes selbst zu Wort mit Zitaten aus den Fragenbögen und Interviews. Um diese einordnen zu können, stehen zunächst die Forschungsmethodik und das Forschungsdesign im Mittelpunkt. Hierbei schildert eine Befragte, dass es im Heim immer noch besser gewesen sei als bei ihrer Familie (S. 30), es also nicht nur schlechte Erfahrungsberichte gibt. Der Großteil der Aussagen widmet sich aber den teilweise massiven Gewalterfahrungen sowohl durch Personal als auch Mitbewohner:innen. Heimeinrichtungen in der DDR im historischen Zugriff ist das nächste Kapitel überschrieben, wobei dabei das im Rahmen der Forschung untersuchte ‚Kombinat der Sonderheime für Psychodiagnostik und pädagogisch-psychologische Therapie‘ im Mittelpunkt steht.

Wie Betroffene aber auch die deutsche Gesellschaft retrospektiv mit den Erfahrungen in der DDR umgehen bzw. umgegangen sind, wird im Kapitel Individuelle und gesellschaftliche Aspekte der Bewältigung nach DDR-Heimerfahrungen beschrieben. So wird zum Beispiel deutlich, dass einige Betroffene durch einen Gang an die Öffentlichkeit eine Form für sich gefunden haben, ihr Leid ertragbar zu machen. Aber auch die wahrgenommene gesellschaftliche Anerkennung des Leids ist wichtig.

Auf die Praxis der damaligen Einrichtungen fokussiert das Kapitel Der diagnostische Blick auf die Kinder im Kombinat der Sonderheime für Psychodiagnostik und pädagogisch-psychologische Therapie. Interessant ist an dieser Stelle, dass durchaus im Westen gängige Diagnostiktools wie der HAWIK genutzt wurde, auch wenn das den Aufsichtsbehörden nicht genehm war. Dass es wie in heutigen Einrichtungen ein gängiges Formularwesen für die Aufnahme, für Beobachtungen sowie Empfehlungen gab, ist ebenfalls eine interessante Information. Die häufigsten Diagnosen waren der Frühkindliche Hirnschaden und die Milieuschädigung, die trotz des ungewohnten Begriffs Ähnlichkeiten mit aktuellen Diskursen zur Erziehungsunfähigkeit aufweist. Im Blick haben die Forscher:innen auch das Thema Gewalt – sowohl durch andere Bewohner:innen als auch in institutioneller Form, wie das Kapitel Der Blick auf Gewalterfahrungen in Kinderheimen der DDR zeigt. Der methodische Zugang hierzu sind rund zwei Dutzend Interviews mit ehemaligen Fachkräften. Hier wird deutlich, dass die Befragten von einer „als gering empfundene[n] Handlungsfähigkeit (…)auf individueller und kollektiver Ebene“ (S. 142) berichten.

Lebens- und Bewältigungswege von ehemaligen Heimkindern der DDR mit sexualisierter Gewalterfahrung ist das siebte Kapitel überschrieben, das sich mit der Geschichte von Andrea Manthay beschäftigt und an ihrem Beispiel die Frage aufwirft, ob Bewältigung gleichzusetzen mit Aufarbeitung ist. Vom individuellen Schicksal losgelöst fokussiert das Kapitel Erfahrungen mit dem Fonds ‚Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1949 bis 1990‘ den entsprechenden Fonds und beschreibt die Ergebnisse aus anerkennungs-theoretischer Perspektive.

Therapeutisches Schreiben als Weg der Bewältigung wird im neunten Kapitel beschrieben. Hierzu werden verschiedene Methoden vorgestellt und der Aufbau und Ablauf des Online-Schreibprogramms für Menschen mit DDR-Heimerfahrung dargestellt. Viele Teilnehmer:innen der Studie haben festgestellt, dass ihnen das Schreiben über ihre Erfahrungen eine neue Möglichkeit der Bewältigung geboten hat. Dazu finden sich im anschließenden Kapitel Fallbeispiele aus dem Online-Schreibprogramm nach DDR-Heimerfahrungen zwei Fallbeispiele, aus denen die Autor:innen Empfehlungen für die Praxis destillieren.

Zum Abschluss liefern die Herausgeber:innen eine Zusammenfassung und Ausblick und betonen die Wichtigkeit eines solchen Projektes: „Erinnertes festzuhalten verspricht das Schaffen einer Kultur des Hinsehens, auch um Gewalt in Institutionen in Zukunft besser vermeiden zu können“ (S. 229).

Diskussion

Die Stärke dieses von absoluten Expert:innen auf ihrem Fachgebiet veröffentlichten Forschungsergebnissen liegt vor allem in der interdisziplinären Betrachtungsweise. Gerade die Einbeziehung der medizinhistorischen Forschung wirft ein spannendes Licht auf die Thematik. Auch wenn der Fokus auf der individuellen Bewältigung und gesellschaftlichen Aufarbeitung der Geschichte der Heimkinder der ehemaligen DDR liegt, lassen sich die daraus resultierenden Erkenntnisse auch durchaus übertragen auf Therapie und Beratung von Opfern von Gewalt in anderen Institutionen. So liefern die Autor:innen und vor allem die Betroffenen einen wichtigen Beitrag dazu, ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte näher zu beleuchten und daraus wichtige Lehren für die Gegenwart zu ziehen. So kann, darf und soll weder Soziale Arbeit noch Psychologie nie wieder sein. Da es sich um ein Forschungsprojekt handelt und nicht um eine populär-wissenschaftliche Veröffentlichung, steht nicht das Skandalisieren im Vordergrund des Buches, sondern eben das Streben nach Erkenntnisgewinn. Das macht die Schilderungen nicht weniger gewaltig, sorgt aber dafür, dass sie noch mehr Wucht entfalten, weil die Fakten aus Aussagen für sich sprechen – auch ohne emotionalisierende Begleittexte.

Fazit

Dieses Buch ist wichtig, weil es zeigt, dass im Namen von Psychologie und Sozialarbeit vor noch gar nicht solanger Zeit in einem Teil unseres Landes massive Gewalt verschiedenster Art gegen junge Menschen verübt wurde. Und so sind die Beiträge der Autor:innen ein mahnendes Beispiel für den Umgang mit Macht und Deutungshoheit in (vermeintlich) am Menschen orientierten Professionen.

Rezension von
Wolfgang Schneider
Sozialarbeiter
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Es gibt 137 Rezensionen von Wolfgang Schneider.

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ISSN 2190-9245