Fabian Fritz, Birger Schmidt et al. (Hrsg.): Wie gelingt partizipative politische Bildung für Jugendliche und junge Erwachsene im Fußball?
Rezensiert von Prof. Dr. Ulf Gebken, Luca Ufermann, 24.06.2024

Fabian Fritz, Birger Schmidt, Simon Walter, Markus Zwecker (Hrsg.): Wie gelingt partizipative politische Bildung für Jugendliche und junge Erwachsene im Fußball?
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2024.
219 Seiten.
ISBN 978-3-7799-7576-2.
D: 25,00 EUR,
A: 25,70 EUR.
Reihe: Sportfans im Blickpunkt sozialwissenschaftlicher Forschung. .
Thema
Die partizipative politische Bildung im und durch Fußball spielt im wissenschaftlichen Diskurs bisher eine nachrangige Rolle. Umso erfreulicher ist es, dass die „Macher:innen“ sowie die kritischen Freund:innen des 2007 gestarteten und enorm sichtbaren Projektes Lernort Stadion, Fabian Fritz, Birger Schmitt, Simon Walter und Markus Zwecker dieses Thema in einem gemeinsam herausgegebenen Band mit 15 Beiträgen bearbeiten. Der Sammelband basiert auf einer Konferenz, die am 17. Februar 2022 digital durchgeführt wurde. Er richtet sich an alle Interessierte im Handlungsfeld politischer Bildung im Fußball und ist als eine Berichterstattung über die dort stattfindenden Dynamiken, aber auch als Einladung für die Reflexion der eigenen Handlungspraxis zu lesen.
Herausgeber:innen
Fabian Fritz ist seit 2016 Jugendbildungsreferent für den FC St. Pauli und wirkt seit 2016 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an unterschiedlichen Hochschulen u.a. in dem Themenfeld Demokratie.
Birger Schmidt ist seit 2015 Geschäftsführer von Lernort Stadion e.V.
Simon Walter ist 2022 Projektmanager bei Lernort Stadion e.V.
Markus Zwecker ist beim Lernort Stadion e.V. seit 2020 für die Bereiche strategische Kommunikation und Wissenschaft zuständig.
Aufbau und Inhalt
Der 213-seitige Sammelband ist wie folgt aufgebaut:
Im ersten Teil geben Helle Becker (13-28) und Alexander Wohnig (29-44) einen Überblick über aktuelle Ansätze, Gelingensbedingungen und wissenschaftliche Kontroversen im Bereich Demokratiebildung und politische Bildung.
Becker entwickelt ein integriertes Konzept politischer Jugendangebote, das Schnittmengen politischer Bildung und Demokratiebildung identifiziert und das Begriffspaar in drei ineinander übergehende Handlungsmodi zusammenführt.
Wohnig bemüht sich um eine Schärfung der Begriffe Demokratiebildung und politische Bildung und stellt dabei fest, dass sich ein gelingendes Konzept außerschulischer Demokratiebildung dringend von den Wirklogiken der Institution Schule lösen muss.
Im Mittelpunkt des zweiten Teils stehen die Realitäten und Möglichkeiten partizipativer politischer Bildung im Fußball. Fabian Fritz, Marlene Lasch und Hanna Christian analysieren und reflektieren den Ansatz des Projektes Lernort Stadion aus einer praktischen und gleichsam empirischen Perspektive fundiert, überraschend kritisch und ehrlich.
Anschließend berichtet Martin Haselwanter von der weitgehend marginalisierten Landschaft fußballbezogener politischer Bildung in Österreich. Anlehnend an deutsche Leuchtturmprojekte wie etwa „Lernort Stadion“ fordert er die Ausweitung und Vernetzung politischer Jugendbildung unter dem Anspruch, über präventive Maßnahmen hinaus echte Partizipation für junge Menschen zu schaffen.
Im Folgenden stellen Kathrin Albert, Steffi Biester, Tina Nobis, Michael Zeile und Nadine Höppner die Zusammenarbeit zwischen dem Straßenfußball-Projekt KICKFAIR sowie der Humboldt-Universität zu Berlin vor. Sie beschreiben die Herausforderungen, Gelingensbedingungen und den beidseitigen Mehrwert einer partizipativen Wissenschaft-Praxis-Kooperation auf Augenhöhe.
Anschließend evaluieren Dominik Novkovic und Simon Rettenmeier unter Bezugnahme auf die kritische Theorie die politischen Bildungspotenziale der Streetbolzer in Kassel. Dabei stellen sie die Frage, wie der Bolzplatz als alltäglicher Erfahrungsraum demokratisches Lernen im Sozialen ermöglichen kann.
Martin Nuckel widmet sich in seinem Beitrag dem Spannungsverhältnis zwischen der Überwachungspraxis im Fußballkontext und dem Anspruch, das Fußballstadion zu einem Ort der politischen Bildung zu gestalten.
Das Autorenteam Thomas Gloy, Uli Heinze und Stephan Schneider bietet einen Einblick in die politische Bildungsarbeit des Vereins für alle (IVF) in Leipzig und stellt daher besonders die spezifischen Herausforderungen in Sachsen heraus.
Thaya Vester und Sophie Linßen greifen im Folgenden die Ausweitung des Fair-play-Gedankens in die D-Jugend auf. Neben den Unparteiischen sollen auch Spieler:innen Verantwortung für die Spielleitung übernehmen. Schiedsrichter:innen entscheiden über Foul, Abseits, Rückpass, Handspiel und Tor. Die Spieler:innen einigen sich hingegen selbstständig über Einwurf, Abstoß und Eckball. Angestrebt wird eine neue Kultur des positiven Miteinanders in der D-Jugend Fußball.
Kristian Naklo und Anne Sophie Krossa werfen einen kritischen Blick auf die Grenzen der Demokratiebildung im sozialen Raum Fußball, insbesondere bei den vom DFB organisierten Lizenzkursen für Trainer:innen.
Janka Runkel schließt diesen Teil mit einem Beitrag über ihre eigenen Sozialisationserfahrungen im Nachwuchsleistungsbereich des Fußballs der Frauen ab.
Der dritte Teil des Sammelbandes fokussiert sich auf die Erinnerungsarbeit im Fußball. Gero Kopp gibt hierzu einen breiten Überblick über die aktuellen Dimensionen der Erinnerungskultur im Fußball. Demnach lasse die historische Arbeit bei vielen Vereinen eine kritische Perspektive auf damalige Täter:innen vermissen. In der Zusammenarbeit zwischen Fans, Vereinen und Expert:innen sieht Kopp Potenziale sowie in der Bearbeitung aktueller Trauerfälle im Vereinsumfeld.
Juliane Röleke erläutert im Interview mit Pavel Brunssen die Defizite und Potenziale heutiger Erinnerungsarbeit im Fußball. Dabei identifiziert sie enorme Forschungslücken und eine mangelnde Bereitschaft bekannter Vereine, sich kritisch und empirisch mit der eigenen Historie auseinander zu setzen.
Pavel Brunssen schließt den Band mit einer Erörterung der Möglichkeiten und der Grenzen der Erinnerungsarbeit mit Fußballfans und stellt dabei fest, dass Fanarbeit nur unter bestimmten Bedingungen wirksam und umfassend sein kann. Er formuliert fünf Anforderungen an die Erinnerungsarbeit der Zukunft.
Diskussion
Mit diesem Sammelband wird ein Blick auf die konzeptionelle Entwicklung der partizipativen politischen Bildung für Jugendliche und junge Erwachsene im Fußball und insbesondere das Projekt Lernort Stadion geworfen. Verschiedene Projektinitiativen beteiligen sich an dem Diskurs, um wirksamer und nachhaltiger die partizipative politische Bildung im und durch Fußball sowie eine jugendgerechte Demokratiebildung zu erwirken. Jugendlichen soll ein Raum eröffnet werden, in dem ihre politischen Anliegen mitsamt ihrer individuellen Sorgen und Konflikte zum Thema gemacht werden.
Zu oft fühlen sie sich im politischen System als Fremde. Politische Bildung im und durch Fußball sollte über die inneren Angelegenheiten einer Einrichtung oder Organisation, hier Lernort Stadion e.V., hinaus gehen. Dringlich zu nutzen ist eine kritische Auseinandersetzung mit der Lebenssituation und den Gestaltungsmöglichkeiten von Jugendlichen. Maßgeblich dafür ist eine Haltung, Anliegen und Themen junger Menschen grundsätzlich als politisch zu verstehen. Dabei sind die Unterschiede zwischen einer außerschulischen Bildungsstätte und einem Lernort (im Stadion) zu beachten. Wir fragen uns, wo sich im Kontext von Fußball Gelegenheiten für Demokratiebildung anbieten, wofür Lernort Stadion derzeit steht und wohin es für die politische Bildung im schönsten Klassenzimmer der Welt in Zukunft gehen soll. Außerordentlich gelungen ist aus unserer Sicht der kritische Beitrag von Fabian Fritz, Marlene Lage und Hanna Christian auf die Potenziale und Grenzen politischer Jugendbildung und Demokratiebildung im Projekt Lernort Stadion. Als Projektangehörige setzen sie sich kritisch und differenziert mit der eigenen Handlungspraxis auseinander und beleuchten die Perspektiven für die bundesweite Weiterentwicklung des Konzeptes Lernort Stadion.
Das Fußballstadion kann einen niederschwelligen Zugang zur politischen Bildung bedeuten. Die drei Autor:innen fordern zu einer Operationalisierung der Begriffe politische Bildung und Demokratiebildung auf. Für sie wird der Anspruch, Bildung ins Stadion zu bringen, im Lernort Stadion etwas zu prätentiös dargestellt. Dem (eindrucksvoll) nachgewiesenen quantitativen Erfolg des Projektes muss demnach eine qualitative Analyse der Wirkungslogiken vorstehen. Das Projekt Lernort Stadion richtet sich als eine Art Service-Angebot vorwiegend an Schulklassen und muss sich daher den schulischen Rahmenbedingungen anpassen. Wenn Schulklassen nur für einen Nachmittag zum Lernzentrum kommen, ist es unwahrscheinlich, dass sich eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den Themen der Schüler:innen ergibt. Es fehlen außerdem Strukturen, die Jugendliche über den Stadionbesuch hinaus in die Lage zu versetzen, sich im Rahmen von Lernort Stadion mit Demokratie und politischen (Alltags-)Themen auseinanderzusetzen. Wenngleich diese Umstände die Entfaltung partizipativer Bildungsprozesse belasten können, ergeben sich aus der engeren Zusammenarbeit mit den beteiligten Schulen, Sportvereinen, Fangruppen und selbstorganisierten Gruppen besondere Potenziale. Politische Bildung versteht sich nach klassischer Lesart oft als Aneignung politischen Wissens und zu wenig als Voraussetzung für eine Demokratisierung der Handlungspraxis. Aus unserer Sicht stellt dieser Beitrag das Herzstück des Bandes dar.
Der Beitrag über die Bildungsarbeit von KICKFAIR fokussiert sich auf die Zusammenarbeit zwischen der Humboldt-Universität und dem inzwischen deutschlandweit agierenden Projekt aus Ostfildern.
Kern der Botschaft ist, dass die Bildungsarbeit von KICKFAIR anstrebt, Räume zu schaffen, in denen alle Kinder und Jugendliche, auch Benachteiligte, die Möglichkeit haben, ein Gefühl von Zugehörigkeit zu entwickeln, ihre Talente zu entdecken und ihre Potenziale zu entfalten.
Desillusionierend wirkt auf uns der Beitrag über den Verein für alle (IVF) Leipzig. Bereits 2015 wird eine starke Verbreitung menschenfeindlicher Einstellungen im organisierten Vereinssport in Sachsen festgestellt. Im Präsidium des Sächsischen Fußballverbandes sind zwei Frauen neben 27 Männern aktiv. Für viele Menschen ist nicht nur in ländlichen Regionen des Freistaates Sachsen ein offenes Ausleben ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität unmöglich. Zudem erschweren Förderstruktur und offenbleibende Forschungsbedarfe die partizipative Bildungsarbeit in Sachsen. Letztlich fehlen dem Verband und vielen Vereinen die notwendigen Strukturen und Kapazitäten für eine gelingende Zusammenarbeit. Aus diesem eindrucksvoll schonungslosen Beitrag lesen wir die Notwendigkeit heraus, das deutschlandweite Netzwerk partizipativer Jugendbildung im Fußball weiter auszubauen und zu stärken.
Dagegen strahlt der Beitrag über das Projekt „Miteinander“, in dem Jugendspieler:innen und Schiedsrichter:innen gemeinsam das Spiel leiten, Optimismus und Zuversicht aus. Unbekannt war uns, dass in jedem Fußballspiel bis zu 20 % der getroffenen Schiedsrichter-Entscheidungen wissenschaftlichen Studien zufolge falsch sind. Wenn Jugendliche die Entscheidungshoheit über Einwurf, Abstoß und Extras erhalten, nehmen in den bisher evaluierten Spielen mit „Miteinander“- Regeln die Konflikte ab. Das entlastet nicht nur die Spieler:innen, sondern auch (junge) Schiedsrichter:innen, die weniger Entscheidungsdruck spüren und somit Spaß und Sicherheit in ihrer Rolle finden können. Erfreulicherweise scheinen auch die verantwortlichen Trainer:innen, ohne die eine solche Innovation nicht funktionieren kann, von dem Konzept überzeugt worden zu sein. Hier wünschen wir uns von den Verbänden mehr Mut zur Veränderung, die angesichts der aktuellen Lage im Breiten- und Jugendsport dringend notwendig scheint.
Der Band folgt der selbst beschriebenen Folge vom Allgemeinen ins Konkrete. In der Abfolge der Beiträge geht dabei an einzelnen Stellen der konzeptuelle Blick auf das Begriffspaar der politischen Bildung und Demokratiebildung verloren und die Ambition, die theoretischen Grundlagen in praktische Überlegungen zu überführen, gelingt nicht immer. Gleichermaßen ist die inhaltliche Vielfalt des Sammelbandes als seine Stärke zu sehen, weil es im Fußballkontext einen umfassenden Blick auch außerhalb der Lernort Stadion-Idee auf die partizipative Jugendbildung wirft. Der Sammelband strahlt eine Grundhaltung aus: Die Demokratiebildung bei jungen Menschen als kollektive Herausforderung für alle Instanzen der politischen Bildung zu begreifen.
Die Bandbreite der Beiträge zeigt den ganzheitlichen Anspruch der Herausgeber und ist die große Stärke des Sammelbandes. Mit der enormen öffentlichen Strahlkraft sorgt das von der DFL-Stiftung geförderte Projekt Lernort Stadion für Impulse, die unbedingt weiter untersucht und sichtbar gemacht werden sollten. Das großartige Projekt Lernort Stadion verdient Dissertationen und Habilitationen, die den wissenschaftlichen Diskurs weiter vorantreiben könnten. Es wäre schön, wenn die Projektinitiator:innen in dieser Hinsicht am Ball blieben. Dieses Projekt hat es wirklich verdient.
Fazit
Auch wenn der „rote Faden“ in diesem Band an manchen Stellen etwas verloren geht und sich die Beiträge additiv aneinanderreihen, ist es den Herausgebern gelungen, in diesem Band die tragenden Begriffe der politischen Bildung für Jugendliche und junge Erwachsene im und durch Fußball zu präzisieren sowie einen Einblick in vielschichtige und anspruchsvolle Praxisprojekte zu bieten.
Rezension von
Prof. Dr. Ulf Gebken
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Luca Ufermann
studiert im Masterstudiengang mit den Unterrichtsfächern Sozialwissenschaften und Sport für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschule an der Universität Duisburg-Essen.
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