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Daniel Mullis: Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten

Rezensiert von Ronny Noak, 08.05.2025

Cover Daniel Mullis: Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten ISBN 978-3-15-011469-8

Daniel Mullis: Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten. Die Regression der Mitte. Philipp Reclam jun. Verlag GmbH (Stuttgart) 2024. 336 Seiten. ISBN 978-3-15-011469-8. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR.

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Thema

2023 wählte die Gesellschaft für deutsche Sprache das Wort „Krisenmodus“ zum Wort des Jahres, da so viele Krisen parallel existierten. Daniel Mullies gibt mit seiner Monographie „Die Regression der Mitte“ zunächst einen Überblick über die Vergangenheit und Gegenwärtigkeit einer Vielzahl von Krisen und leitet anschließend davon ab, warum es der populistischen und extremen Rechten gelingt aus eben jenen Krisenzeiten Profit zu schlagen und an Zuspruch zu gewinnen.

Autor:in oder Herausgeber:in

Dr. Daniel Mullis ist aktuell Senior Researcher im Programm­bereich Glokale Verflecht­ungen und Vorsitzender des Forschungs­rats des Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung (PRIF). Er arbeitet zu sozialen Konflikten, räumlicher Ungleich­heit und insbesondere zum Erstarken der extremen Rechten. Darüber hinaus beschäftigt er sich mit Neoliberalisierungs­prozessen und Stadt­entwicklung.

Entstehungshintergrund

Entstanden ist das Buch aus dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt „Alltägliche politische Subjektivierung und das Erstarken regressiver Politiken. Abstiegsängste, Urbanisierung und Raumproduktionen in Frankfurt am Main und Leipzig​“. Institutionell war das Projekt angebunden am PRIF in Frankfurt am Main.

Aufbau

Die Monographie ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil befasst sich der Autor überblicksartig mit den Krisen der letzten 15 Jahre. Von der Finanz- über die Migrationskrise geht es schlaglichtartig weiter bis zur Corona-Pandemie und dem sich anschließenden russischen Expansionskrieg in der Ukraine. Danach beginnt der stärker qualitativ ausgerichtete Teil des Buches. Mullis hat für sein Buchprojekt mit rund 50 Menschen aus Frankfurt am Main und Leipzig gesprochen. In beiden Städten hat er sich für Stadtteile entschieden, in denen die Alternative für Deutschland (AfD) bemerkenswerte Zugewinne in den letzten Jahren machen konnte. Das dritte und letzte Kapitel besitzt dann analytischen Charakter. Es will beschreiben, warum die politische und gesellschaftliche Mitte immer weiter erodiert.

Inhalt

Die Dreiteilung des Bandes mag zunächst überraschen. Während der erste Teil eher deskriptiv daher kommt, ist der sich anschließende Teil von sehr starken Innenansichten der deutschen Demokratie geprägt. Zunächst erfahren wir also viel über die Zeitgeschichte und vor allem ihre allgemeine Wahrnehmung in der Bevölkerung. Obwohl alle Krisen unterschiedliche Gründe haben, zeigt sich doch, dass sie in der Wahrnehmung und vor allem Betroffenheit ganz unterschiedlich daherkommen. Allgemein gesprochen lässt sich aber festhalten: vor allem die Mittelschicht war jeweils involviert.

Das zeigen auch die sich im zweiten Teil anschließenden Ausführungen zu den Interviews mit den Bewohner*innen der beiden Städte Frankfurt am Main und Leipzig. Will man die Interviews zusammenfassen, dann sei auf ein Zitat, welches auch der Autor in der Einleitung anführt verwiesen: „Es hat sich nichts verändert, es ist nur alles anders geworden“ (S. 14). Immer wieder begegnen wir in den Ausführungen kognitiven Dissonanzen. Beispielsweise wenn Mullis konstatiert „Deutlich wird, dass die Vergangenheit mitsamt ihrer immanenten Ungleichheit zum Glückshorizont für die Zukunft wird“ (S. 129). Deutlich wird in den Interviews auch immer wieder, dass der Begriff der Krise nicht nur eine kollektive Erfahrung ist, sondern für viele Individuen ein prägendes Erlebnis darstellt – selbst dann, wenn sie selbst objektiv davon gar nicht betroffen sind. So finden dann auch das erste und zweite Kapitel inhaltlich zusammen.

Im letzten Kapitel versucht sich Mullis dann an einer Erklärung. Wie kommt es, dass populistische oder extreme Parteien immer weiter an Zuspruch gewinnen. Warum treten manchmal die gemachten und die empfundenen Erfahrungen in so eine Diversität. Welche Rolle spielt der Neoliberalismus? Wie stark gilt er als Verursacher der Krisen und wird damit auch zum Gegner der Rechten? Dies versucht er zu beantworten indem er sich immer wieder von der individuellen Ebene löst und auf die kollektive abzielt, dabei aber die Erfahrungen aus den Interviews einbezieht. So kann er vielmals zeigen, was dazu geführt hat, dass die Mitte immer weiter erodiert. Was dem Autor dabei wichtig ist, ist der Prozess. Mullis nutzt hierfür den Begriff der „regressiven Glückserwartung“ (S. 203). Diese beschreibt keinen plötzlichen Wandel, sondern eine schleichende Verschiebung des Sag- und Denkbaren, in der sich autoritäre Sehnsüchte, Nationalismus und die Abwertung gesellschaftlicher Gruppen immer stärker normalisieren. Mullis kann zeigen, dass die Mitte selbst aktiv zur Herstellung eines rechten Konsenses beiträgt – etwa durch die Externalisierung gesellschaftlicher Probleme auf marginalisierte Gruppen oder durch die Reproduktion sicherheits- und ordnungspolitischer Narrative. Dies muss vielmals nicht aus strategischen Gründen geschehen, sondern kann Ausdruck einer Hilflosigkeit sein.

Diskussion

Wenn es noch einer Begründung bedürfte, warum das Wort „Krisenmodus“ zum Wort des Jahres 2023 gekürt wurde: Mullis legt sie vor. Er kann präzise beschreiben, wie in den letzten beiden Jahrzehnten eigentlich Krise auf Krise folgte. Der Normalzustand wurde zur Ausnahme. Dies hinterließ deutliche Spuren bei den beiden befragten Gruppen aus Frankfurt und Leipzig. Dabei geht der Autor sensibel den Erfahrungen auf den Grund. Er will „nicht […] entlarven, sondern […] gesellschaftliche Dynamiken offenlegen“ (S. 9). Dies scheint ihm gut zu gelingen, da die Befragten offen über ihre Empfindungen und Wahrnehmungen sprechen. Im letzten Kapitel kommt er damit auch zu schlüssigen Erklärungen. Diese mögen nicht immer für die gesamte Gesellschaft zutreffen, zeigen aber in welche Richtungen operiert werden könnte, um Demokrat*innen aus der rechten Ecke zurückzugewinnen. Gerade der Fokus auf eben jene verlorene Gruppe ist hier vielversprechend.

Eine Leerstelle bleibt aber gewissermaßen der ländliche Raum. Wenn selbst Leipziger*innen sich als „Abgehängte“ begreifen, gibt es für Greizer*innen oder Pirmasenser*innen womöglich nur wenig bessere Alternativen. Hier könnte eine vertiefte Befassung mit den Ergebnissen aus der vorliegenden Studie – gerade nach der Bundestagswahl und den Ergebnissen der AfD in ehemaligen demokratischen Hochburgen wie Duisburg oder Kaiserlautern – ansetzen.

Fazit

Insgesamt bietet das Buch eine tiefgreifende, aber nicht minder beunruhigende Diagnose gegenwärtiger gesellschaftlicher Entwicklungen. Es zeigt, dass autoritäre Dynamiken längst nicht mehr nur am Rand, sondern in der Mitte der Gesellschaft verankert sind. Mullis plädiert daher für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Selbstbild der Mitte und eine Stärkung demokratischer, emanzipatorischer Kräfte – finanziell wie ideologisch. Neue Perspektiven nicht ausgeschlossen.

Rezension von
Ronny Noak
Doktorand am Lehrstuhl für politische Theorie und Ideengeschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena
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Es gibt 22 Rezensionen von Ronny Noak.

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ISSN 2190-9245