Gilda Sahebi: Wie wir uns Rassismus beibringen
Rezensiert von Prof. Dr. Claus Melter, 23.08.2024
Gilda Sahebi: Wie wir uns Rassismus beibringen. Eine Analyse deutscher Debatten. S. Fischer Verlag (Frankfurt am Main) 2024. 464 Seiten. ISBN 978-3-10-397624-3. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR.
Thema
Gilda Sahebi beschreibt die Debatten, Argumentationsfiguren und rechtlichen Änderungen in Deutschland, in denen zwischen einem erfundenen deutschen „Wir“ (dem „zivilisierten“ Volk) und „den Anderen“ („Nicht-Deutsche“) unterschieden wird. Seit dem Kaiserreich und dem deutschen Kolonialismus, der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus wurden und werden je nach politischer Konjunktur Pol*innen, Slaw*innen, Rom*nja, Sinti*zze, Südeuropäer*innen, Afrikaner*innen, Jüd*innen, Muslim*innen, Türk*innen, Migrant*innen oder Personen mit Fluchtgeschichte abgewertet, hierarchisiert und benachteiligt. In detaillierter Recherche analysiert die Autorin diese Debatten, stellt auch die Stimmen, Erfahrungen und Gefühle der angegriffenen Gruppen in den Fokus und zeigt Lösungsvorschläge für strukturelle Probleme auf, von denen die rassistischen Migrationsdebatten vor allem ablenken.
Die Autorin
Gilda Sahebi ist Medizinerin, Journalistin und Politikwissenschaftlerin. Sie ist zudem aktiver Teil kritischer Medienarbeit durch Fernsehauftritte, Zeitungsartikel und Beiträge in Social Media. Eines ihrer Bücher heißt: „Unser Schwert ist Liebe“. Die Feministische Revolte im Iran. Frankfurt am Main: S. Fischer 2023.
Aufbau
Nach der Einleitung handelt das erste Kapitel von der „Geschichte rassistischen Denkens in Deutschland“, woraufhin im zweiten Kapitel das Analyseergebnis „Rassismus ist nicht extremistisch“, da Akteur*innen der Mehrheitsgesellschaft vielfach rassistische Einstellungen vertreten, diskutiert wird. Im dritten Kapitel „Wer ist deutsch? Die Staatsbürgerschaftsdebatte“ werden Konstruktionen von „Volk“, „Deutsch-Sein“, „Kultur“, „Werten“ und „Zivilisiertheit“ in Abgrenzung zu den jeweils zu „Anderen“ gemachten Personengruppen von der Kaiserzeit bis zur Gegenwart in rechtlicher, politischer und emotionaler Hinsicht diskutiert. Über 80 Jahre war seit 1913 das Abstammungs-/Blut-Prinzip die dominante Logik, die erst um die Jahrtausendwende um das Geburtsortprinzip ergänzt wurde. Die Vermeidung über strukturellen und institutionellen Rassismus sowie rassistische Handlungen zu sprechen, wird im vierten Kapitel „Die Angst vor dem R-Wort oder: Das Meisternarrativ“ in verschiedenen Facetten aufgearbeitet. Die Behauptung, durch die Aufarbeitung des Nationalsozialismus wäre Deutschland kein strukturell rassistisches Land, wird vielfach eingesetzt, um nicht über konkrete Strukturen, Gesetze und Handlungen zu sprechen, sondern die Kritiker*innen und durch Rassismus angegriffenen Personen als Täter*innen darzustellen (Täter-Opfer-Umkehr).
Das fünfte Kapitel behandelt die „Nahostkonflikt-Debatte“ die in Deutschland seit vielen Jahren vom irreführenden Konstrukt des „importierten Antisemitismus“ dominiert wird, wodurch antisemitische Diskurse, Einstellungen, Handlungen und Gewalttaten seitens der Dominanzgesellschaft in der Nachkriegszeit sowie daraus resultierende Handlungsverantwortung nicht ausreichend thematisiert und angegangen werden.
Das ausführliche sechste Kapitel zur „Migrationsdebatte“ zeigt die über hundert Jahre bis heute verwendeten, konjunkturell immer wieder in neuen Facetten verwendeten Diskursfiguren „Wir sind überlastet“, „die sind kriminell“, „wir sind bedroht“, es kommen „Fluten von Menschen“, „unsere Kultur und Identität sind in Gefahr“ auf. Diese werden benutzt, um die als „Andere“ kategorisierten Personengruppen auszuweisen und abzuschieben, um Rechte einzuschränken und Einreisen zu verhindern und um gesellschaftliche Privilegien in allen Arbeits- und Lebensbereichen für die so konstruierten „echten Deutschen“ aufrechtzuerhalten. Gesamtgesellschaftlich strukturelle Probleme von Armut und Reichtum, Problemen im Bildungs-, Arbeits- und Wohnsektor oder des Klimawandels und globaler sozialer Ungleichheit werden nicht angemessen analysiert und zu verändern gesucht, sondern durch Sündenbock-Debatten verschleiert und nicht gelöst.
Im siebten Kapitel wird auch „Rassismus bei progressiven Kräften“ analysiert, wie z.B. SPD und Grüne und FDP rassistische „Wir-und-die-Anderen“-Konstruktionen verwenden, um die deutsche Wir-Gruppe vor vermeintlichen Bedrohungen zu schützen. Die jahrzehntelang von CDU und CSU verwendeten Abwehr-, Angst- und Abwehr-Diskurse werden auch von anderen Parteien übernommen und instrumentalisiert beispielsweise zur immer weiter verschärften Einschränkung des Asylrechts.
Im achten Kapitel werden die „AfD oder: Die Mär vom Rechtsruck“ analysiert mit ihrer Verharmlosung des Nationalsozialismus, den völkisch-rassistischen und populistischen Narrativen, die auch von anderen Parteien mitverwendet werden. Neben dem Gewaltpotenzial und der Menschenfeindlichkeit der AfD ist auch besorgniserregend, dass „Remigrations“-Logiken der AfD zum Teil in europäischer und bundesdeutscher Gesetzgebung ihren Niederschlag finden, z.B. im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS); wonach Menschen in Lagern innerhalb oder außerhalb der Ränder der EU Asyl beantragen sollen.
Nach dem „Schluss: Deutschland – (k)ein Einwanderungsland oder: Das andere Narrativ“ folgt ein ausführlicher Anhang mit den Namen von Personen, die rassistisch angegriffen und getötet wurden.
Inhaltliche Aspekte
Bei derart vielen Aspekten und Facetten in den verschiedenen Themen, die zudem sehr gründlich und ausführlich recherchiert wurden, ist nur eine Auswahl möglich.
Grundlegend ist die Analyse der Konstruktion/Erfindung „Wir-Deutschen“ und „die Anderen“. Bei dieser wurden und werden Menschengruppen die Zugehörigkeit zu Deutschland abgesprochen, werden Menschengruppen als höher und niedriger eingestuft, um dann diskriminiert oder gar verfolgt und getötet zu werden. So weist Gilda Sahebi auf die Völkermorde sowohl im Namibia 1904 bis 1908 und in Tansania 1905 bis 1907 hin und die fehlende staatliche Anerkennung dieser Verbrechen. Auch die erzeugte „Polonisierungs-Angst“ mit der Entrechtlichung polnischer Arbeitsmigrant*innen seit der Kaiserzeit sowie die Zwangsarbeit polnischer Kriegsgefangener im ersten Weltkrieg werden ebenso analysiert wie die systematische Feindlichkeit und Entrechtung vom Rom*nja und Sinti*zze über Kaiserzeit, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Gegenwart.
In verschiedenen Facetten und bei verschiedenen Gruppen wie den angeworbenen Arbeitsmigrant*innen („Gastarbeiter*innen“) oder geflüchteten Personen werden deren bewusst hergestellte schlechte Wohnsituation, deren unzureichende Förderung in den Bereichen Sprache und Gesundheit geschildert, um diese strukturellen Versäumnisse dann den benachteiligten Gruppen zuzuschreiben.
Kritik an diskriminierenden, rassistischen Verhältnissen, Diskursen und Praxen wurde in der Nachkriegszeit in DDR und BRD und wird heute weiter systematisch nicht gehört, wird abgewehrt und als unangemessene Frechheit behandelt oder als Ehrverletzung. Rassismuskritische Analysen von Gesellschaftsstrukturen und Diskursen gibt es spätestens seit den 1980er Jahren und diese werden nach den Morden des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) und in Hanau sowie antisemitischem Terror nun etwas breiter wahrgenommen und gefördert, z.B. der Nationale Rassismusmonitor zu Beginn der 2020er Jahre.
Systematisch wurden und werden die Erfahrungen, Ängste sowie Analysen und Meinungen von rassistisch und antisemitisch angegriffenen Personen nicht erfragt, kaum erforscht und gehört. Sie werden nicht in das Zentrum von Diskussionen gestellt. Stets werden demgegenüber die Sorgen von „uns“, den Angehörigen der Dominanzgesellschaft, fast ausschließlich thematisiert und werden „die Anderen“ als „Belastung“ konstruiert, um dann „deren“ Grund- und Menschenrechte systematisch zu verletzen.
Gilda Sahebi zeigt auch gelungene Beispiele des Zusammenlebens von Menschen mit und ohne Fluchtgeschichte in Kommunen auf. Mit Dialog, pragmatischen Lösungen und guten Willen der Beteiligten können Herausforderungen der Migrationsgesellschaft angegangen und gelöst werden.
Diskussion
Deutschland hat seit seinem Bestehen bis zur Gegenwart ein Rassismus-Problem, welches bis auf die Zeit des Nationalsozialismus geleugnet und nicht systematisch angegangen wird. Stattdessen werden Sündenbock-Diskussionen angezettelt, die die Lösung struktureller gesamtgesellschaftlicher Probleme verhindern und den rassistisch und antisemitisch angegriffenen Personen schaden.
Gilda Sahebi ist auf der Höhe wissenschaftlicher Diskurse zu den behandelten historischen Zeiten und vor allem zu Debatten der Gegenwartsgesellschaft. Wer die sich weiter verschärfenden rassistischen Diskurse und Entrechtungen bestimmter abgewerteter Gruppen der zu „Anderen Gemachten“ verstehen will, erkennt die praktizierten Logiken und Strategien der Akteur*innen, jedoch auch Praxen des Widerstands und der Kritik.
„Die größte Gefahr für die Demokratie besteht in der Normalisierung von Rassismus und Menschenfeindlichkeit“ so Gilda Sahebi. Dadurch dass Medienschaffende und Politiker*innen rassistische und menschenfeindliche Argumente verwenden und entsprechende gesetzliche/politische Entscheidungen getroffen werden, wird die Bevorrechtigung der „echten Deutschen“ gegenüber Menschen „mit Migrationshintergrund“, „Pass-Deutschen“ und anderen zementiert auf eine Weise, in der fundamentale Grund- und Menschenrechte auf Leben, körperliche Gesundheit, auf Wohnen, Arbeiten und Bewegungsfreiheit systematisch verletzt werden, wie z.B. beim GEAS oder dem Asylrecht. Durch diese Diskurse und rechtlich sowie sozial durchgesetzte Benachteiligung gewöhnen sich bereits Kinder daran, wer als „bevorrechtigt“ und wer als „weniger wertvoll“ gesehen wird. Rassismus ist in der Gesellschaft in den Köpfen der Menschen verankert.
Drei von den vielen Gedanken, die dem Rezensenten beim Lesen dieses spannenden Buches gekommen sind:
Waren die Deportationen und das System von Zwangsarbeit im Nationalsozialismus eine Zuspitzung und Brutalisierung völkisch rassistischer Logiken, die jedoch in abgeschwächter, nicht so gewaltvoll und nicht so erzwungener Form zu allen anderen Zeiten bis heute praktiziert wurden? „Andere“ Menschen wurden und werden nach ihrer Verwertbarkeit und Arbeitskraft, ihrem ökonomischen Nutzen beurteilt, ohne die Individualität, Menschlichkeit und die Grund- und Menschenrechte zu sehen, die bei keiner Person verletzt werden dürfen.
Wie gehen wir damit um, dass vielfach Parteien mit antisemitischen und rassistischen Gedanken, bei denen „die Anderen“ pauschalisiert und abgewertet und härteres Vorgehen angekündigt wird, Wahlen gewinnen? Rassismus ist also nicht nur ein moralisches Problem und Erkenntnis-Problem, sondern ein „erfolgreich“ eingesetztes politisches Instrument.
Wie können wir die Erkenntnis von Gilda Sahebi, dass Leid nebeneinander gesehen und nicht verglichen und in Konkurrenz gesetzt werden darf, praktisch, pädagogisch und politisch umsetzen?
Fazit
Es handelt sich um ein wichtiges, gut geschriebenes, detailreiches Buch mit überzeugenden Analysen und der Ausbreitung inspirierender Gedanken. Dieses Buch hilft, rassistische Denk- und Handlungsweisen in Geschichte und Gegenwart zu verstehen und zu kritisieren. Ein wichtiges und sehr lesenswertes Buch.
Rezension von
Prof. Dr. Claus Melter
Hochschule Bielefeld, Arbeitsschwerpunkte diskriminierungs- und rassismuskritische Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft, Krankenmorde in Bethel im Nationalsozialismus, Koloniale Völkermorde in Tanzania und Namibia.
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Es gibt 17 Rezensionen von Claus Melter.
Zitiervorschlag
Claus Melter. Rezension vom 23.08.2024 zu:
Gilda Sahebi: Wie wir uns Rassismus beibringen. Eine Analyse deutscher Debatten. S. Fischer Verlag
(Frankfurt am Main) 2024.
ISBN 978-3-10-397624-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32127.php, Datum des Zugriffs 15.09.2024.
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