Simon Sahner, Daniel Stähr: Die Sprache des Kapitalismus
Rezensiert von Dr. Dieter Korczak, 30.08.2024
Simon Sahner, Daniel Stähr: Die Sprache des Kapitalismus. S. Fischer Verlag (Frankfurt am Main) 2024. 300 Seiten. ISBN 978-3-10-397593-2. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR.
Thema
In dem Band geht es um die Art und Weise, wie das kapitalistische Wirtschaftssystem die Sprache der Menschen prägt und sich dadurch selbst perpetuiert und alternativlos macht. Die beiden Autoren gehen der Sprache des Kapitalismus und seinen (Selbst) Erzählungen auf den Grund. Sie haben den Anspruch, anders über Geld und Wirtschaft zu sprechen, um zu einem gerechteren Miteinander zu gelangen und postulieren die Notwendigkeit einer Sprache des Postkapitalismus.
Autoren
Simon Sahner war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literatur und Literaturtheorie an der Uni Greifswald. Im Mai 2022 ist seine Dissertation „Der Wirklichkeit verfallen – Deutsche Beat- und Undergroundliteratur 1960-1980“ im Transcript-Verlag erschienen. Aktuell gehört er gehört zum Redaktionsteam des Online-Magazins 54books.de.
Daniel Stähr ist Ökonom und hat als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre der Fernuniversität in Hagen gearbeitet. Seit 2022 erscheint Stährs Kolumne „Geldgeschichten“ auf dem Literaturblog 54books.d.
Aufbau
Der Band ist in sieben Kapitel gegliedert:
- Im 1. Kapitel stellen die Autoren dar, was sie unter der Sprache des Kapitalismus verstehen.
- Das zweite Kapitel befasst sich mit Metaphern, die das Verständnis ökonomischer Phänomene bestimmen.
- Im dritten Kapitel wird belegt, wie Sprachbilder Machtstrukturen festigen.
- Das vierte Kapitel zeigt auf, wie Ökonom*innen sprechen.
- Im fünften Kapitel werden Selbsterzählungen wider gegeben, die aus Unternehmer*innen „Prophet*innen“ machen.
- Politik und die Wirkung ökonomischer Bilder sind der Gegenstand des sechsten Kapitels.
- Im letzten Kapitel werden Wege zu einer Sprache des Postkapitalismus erörtert.
Inhalt
Als Sprache des Kapitalismus bezeichnen die beiden Autoren „bestimmte Sprachbilder und Metaphern, Redewendungen und Phrasen, Mythen und Erzählungen sowie einzelne Begriffe, mit denen ökonomische Zusammenhänge beschrieben werden“ (8). Durch die alltägliche Verwendung von Begriffen, die Jahrhunderte lang als unumstößliche Wahrheiten gelten, werden sie faktisch zu Wahrheiten. Als größten Erfolg des Kapitalismus sehen die Autoren daher, dass sich der Kapitalismus durch die entsprechenden Narrative permanent selbst perpetuiert und sein eigenes Ende unvorstellbar gemacht hat (23).
Metaphorische Sprachbilder gehören nach Sahner/Stähr zu den Kernelementen und Stärken der Sprache des Kapitalismus. Als Beispiele werden im Band unter anderem „der kranke Mann Europas“, „Rettungsschirm“, „Tsunami“ oder „too big to fail“ genannt.
Die Autoren verweisen auch darauf, dass es sehr relevant ist, wie Armut und Reichtum definiert werden, wie Eigentums- und Vermögensverhältnisse beschrieben werden. So lange sehr großer Reichtum als etwas Positives oder Neutrales dargestellt wird, gilt Reichtum als grundsätzlich erstrebenswert. Es wird nicht mehr in Frage gestellt, wie dieser Reichtum zustande gekommen ist und ob ein „Über-Reichtum“ ethisch vertretbar ist.
Sahner/Stähr erläutern auch, wie die Sprache des Kapitalismus die Wahrnehmung beeinflusst. Die Verfestigung von Machtstrukturen durch Sprachbilder wird am Beispiel der Wörter „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“ gezeigt. Wer gibt Arbeit und wer nimmt Arbeit? Die irreführende sprachliche Einteilung ist eine aus der Spätzeit des Feudalismus gewachsene Machtzuschreibung, die von der Position der Dienstgeber (herrschenden Adligen) und Dienstnehmer abgeleitet wurde. Weitere Begriffe, die dekonstruiert werden, sind unter anderem
- „Philanthrop“,
- „Verdienst/​verdienen“,
- „Preise steigen“,
- „Karriere“,
- „Freizeit“,
- „Urlaub“,
- „Grünes Wachstum“,
- „Prekariat/prekär“ und
- „spätrömische Dekadenz“.
Die Autoren sehen es so, dass jede wirtschaftspolitische Maßnahme in ihrem Kern ideologisch geprägt ist (110). Man lernt die Sprache des Kapitalismus nicht, sondern man beherrscht sie. Besonders selbstverständlich tun dies Milton Friedman und die anderen Vertreter der neoliberalen Chicagoer Wirtschaftsschule. Friedman popularisierte die Metapher der 'unsichtbaren Hand des Marktes“. Diese Metapher wird dem Begründer der klassischen Nationalökonomie Adam Smith zugeschrieben und ist so etwas wie das Urbild der Sprache des Kapitalismus. Sahner und Stähr räumen mit der Vorstellung der 'unsichtbaren Hand des Marktes', und dass der Markt eine eigene Entität sei, auf und zeigen die ideologische Aufladung dieser Metapher.
Die Autoren belegen, dass der Alltag von positiv aufgeladenen Narrativen des Kapitalismus durchzogen ist. „Erzählungen prägen unsere Wahrnehmung, Geschichten unterhalten uns nicht nur, sondern verleihen dem, was wir sehen, erst einen Sinn“ (157). Dazu gehören filmische Erzählungen wie „Wall Street“ (1987) und „The Wolf of Wall Street“ (2013) ebenso wie die Selbst- und Medieninszenierungen von Steve Jobs, Jeff Bezos und Elon Musk. Diese Inszenierungen verschleiern regelmäßig, dass die Grundlagen ihres 'Erfolges' im kapitalistischen Wirtschaftssystem angelegt sind. „Reichtum entsteht im Kapitalismus durch eine Art zu denken, zu handeln und zu leben…Die Reise zu unermesslichem Wohlstand wird damit vor allem zu einer Reise der Selbstoptimierung“ (180).
In der Sprache des Kapitalismus spielt die von der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel vielfach beschworene 'Alternativlosigkeit' eine besondere Rolle. Jahrzehnte vor Angela Merkel erhielt die englische Premierministerin Margret Thatcher wegen ihrer rigiden neoliberalen Wirtschaftspolitik den Beinamen TINA („there is no alternative“). „Die Mär der Alternativlosigkeit ist eine der zentralen Funktionen der Sprache des Kapitalismus“ (203).
Das letzte Kapitel befasst sich mit der Frage, ob es einen Weg zu einer Sprache des Postkapitalismus gibt. Aufgrund der Klimaproblematik halten die Autoren eine veränderte ökonomische Struktur für dringend notwendig. Sie stellen drei Entwürfe vor: Ulrike Herrmann's Konzept der „Überlebenswirtschaft“, Kokei Saito's „Degrowth Kommunismus“, der in lokalen und gemeinsam verwalteten Produktionsprozessen besteht und Philipps/​Rozworski's „Big Data Planwirtschaft“, die bereits von großen Konzernen wie Wal-Mart praktisch exerziert wird.
Die spannende Frage, wie der Übergang vom Kapitalismus zu jenen postkapitalistischen Systemen erfolgen könnte, sei gegenwärtig nicht konkret zu beantworten. Ein erster Schritt dazu sei es, die Sprache des Kapitalismus zu dekonstruieren und an den sprachlichen Säulen des Kapitalismus zu rütteln. „Wir müssen ökonomische Zusammenhänge genauer beschreiben, Profiteure und Verantwortliche auch sprachlich sichtbar machen und widersprechen, wenn Alternativlosigkeit vorgegaukelt wird“ (268).
Antikapitalistische Erzählungen allein können das System Kapitalismus nicht in Gefahr bringen, weil sie nur zeigen, was nicht funktioniert. Einen wirksamen Beitrag zur Überwindung des Kapitalismus können nur pro-postkapitalistische Erzählungen leisten, in denen der Kapitalismus positiv überwunden wird (193).
Diskussion
Im Kern exerziert der Band die Erkenntnis Ludwig Wittgenstein's durch, dass die Grenzen der eigenen Sprache auch die Grenzen der eigenen Welt(Sicht) bedeuten (Tractatus Logico-Philosophicus, 1921) und wendet diese Sicht auf die Sprache des Kapitalismus an. Sprache ist Bedingung für Machtausübung und selbst eine strukturelle Macht, die das Bild von der politisch-sozialen Wirklichkeit und das Verhalten beeinflusst. Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist ein System, das Ungleichheiten zwischen den Menschen produziert und befördert. Durch Narrative und Framing – dem bewusst gesteuerten Prozess der Einbettung von Themen in ein Deutungsmuster – werden die Ungleichheiten ideologisch rechtfertigt (Piketty 2020). Jede Ungleichheitsideologie beruht auf einer Theorie des Eigentums. Eigentum ist eine Rechtskategorie, sie regelt das Verhältnis zwischen Menschen. Der das Eigentum und das Unternehmertum preisende Diskurs dient dazu, jedes erdenkliche Ungleichheitsniveau zu legitimieren. Kapitalismus ist für Piketty eine Sonderform der Eigentümergesellschaften, die auf der Ideologie des absoluten Schutzes des Privateigentums basieren. Zum Begriff und der Funktion des Eigentums, auch des Eigentums an Produktionsmitteln, dazu dass die materielle Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaften auf Ausbeutung und Ungerechtigkeit fußt und diese beständig reproduziert und dem sprachlichen Widerhall dazu, findet sich leider wenig in dem Band von Sahner/Stähr. Auch den Bereich des „New Speech“ (George Orwell 1984), der Umdeutung von Begriffen und Inhalten (Korczak 2016) als neueres Phänomen der Sprache im Kapitalismus, lassen sie aus. Davon abgesehen liefern sie in ihrem Band zahlreiche Beispiele für die System stabilisierende Funktionsweise von Sprache im Kapitalismus und zeigen gleichzeitig, dass sich der real existierende Kapitalismus als erfolgreiches ökonomisches Modell für die Lösung der anstehenden globalen Probleme überholt hat. Er wird nur noch durch seine eigenen Mythen – vom Tellerwäscher zum Millionär – und protektionistische Kontrolle aufrechterhalten.
Fazit
Es handelt sich um ein sehr lesenswertes Buch, das anschaulich anhand zahlreicher Beispiele belegt, wie sehr das Denken, Handeln und Fühlen der modernen Menschen von sprachlichen Bildern des Kapitalismus geprägt ist und bestimmt wird. Der Kapitalismus hat es auf diese Weise geschafft, sich selbst als alternativlos darzustellen. Aufgrund der globalen Probleme ist eine postkapitalistische Vision notwendig – noch fehlen die Narrative.
Literatur
Ulrike Herrmann. Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden. Köln 2022
Kohei Saito. Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus. München 2023
Leigh Philipps, Michael Rozworski. People's Republic of Wal-Mart. How the World's Biggest Corporations are laying the Foundation for Socialism. London/New York City 2029
Ludwig Wittgenstein. Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlungen. Satz 5.6, Frankfurt am Main 2021, S. 89
Thomas Piketty. Kapital und Ideologie.München 2020
Dieter Korczak (Hg). Meinungsfreiheit oder die Macht der Medien. Kröning 2016
Rezension von
Dr. Dieter Korczak
Soziologe, Präsident des European Consumer Debt Network, Mitglied der Financial Services User Group der Europäischen Union
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Es gibt 17 Rezensionen von Dieter Korczak.
Zitiervorschlag
Dieter Korczak. Rezension vom 30.08.2024 zu:
Simon Sahner, Daniel Stähr: Die Sprache des Kapitalismus. S. Fischer Verlag
(Frankfurt am Main) 2024.
ISBN 978-3-10-397593-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32128.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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