Annette Schöpe-Kahlen: [..] Wie Migrantinnen ihren Integrationsprozess erleben [..]
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Päd. Yalcin Yildiz, 27.12.2005
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Annette Schöpe-Kahlen: "Es ist ein Reifungsprozess. Den hat man sicher, egal, wo man lebt". Wie Migrantinnen ihren Integrationsprozess erleben, verarbeiten und bewerten. Haupt Verlag (Bern Stuttgart Wien) 2005. 389 Seiten. ISBN 978-3-258-06944-9. 38,50 EUR. CH: 58,00 sFr.
Einführung
Im derzeitigen Umgang mit Migrationsphänomenen wird uns ein recht einheitliches Bild vom so genannten "Fremden" vermittelt. Dass die Einwanderungsrealität und Zuwanderungspopulation sich differenzierter gestalten als oftmals angenommen wird, zeigt der folgende Abriss von bedeutsamen Migrantentypen:
- Klassische ArbeitsmigrantInnen, die wegen besseren Arbeits- und Lebensbedingungen migrieren, wie zum Beispiel ZuwandererInnen im Rahmen der transnationalen Anwerbeabkommen (1955-1973)
- Flüchtlinge (AsylantInnen)
- SpätaussiedlerInnen (u. a. Russlanddeutsche)
- Ausländische Studierende
- Illegale EinwanderInnen.
Darüber hinaus gibt es aber auch eine nicht zu unterschätzende Anzahl von Menschen, die im Rahmen der Heiratsmigration in die BRD kommen. Der oft der Migrantenpopulation unterstellte Transfer von Ehepartnern aus dem Ausland, der auch den neuartigen Terminus "Importbraut" bzw. "Importbräutigam" mit sich gebracht hat, entwickelt sich seit mehreren Jahren zu einem postmodernen, globalen Gesellschaftsphänomen, das in vielen europäischen Ländern seine Ausprägung gefunden hat. Nach Angaben des Verbandes binationaler Familien und Partnerschaften wurden im Jahr 2003 in der BRD insgesamt 382.911 Ehen geschlossen, wobei 60.198 (15,7 %) Verbindungen deutsch-ausländisch waren und 10.568 Ehen zwischen ausländischen Menschen geschlossen wurden. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Sachverhalt, dass die Zahl der Eheschließungen zwischen deutschen Männern und ausländischen Frauen um fast 1/3 höher lag als umgekehrt zwischen deutschen Frauen und ausländischen Männern.
Was sich hinter diesen Zahlen aber eigentlich verbirgt, welche Schicksale und Leistungen mit der bikulturellen Einheiratung und der daran anschließenden bzw. dieser vorangehenden transnationalen Migration verbunden sind, wird im aktuellen Diskurs kaum ausreichend berücksichtigt. Obwohl individuelle Integrations- und Lebensbewältigungsprozesse ebenso wichtig sind wie die Frage nach dem Erfolg oder Scheitern der Ehe, gibt es leider immer noch zu wenige Untersuchungen, die sich von dem defizitorientierten Kontext des Ehelebens, den unterschiedlichen kulturellen und konfessionellen Ausgangslagen und der unter Umständen konträren Erziehungshaltung der betroffenen MigrantInnen loslösen und dabei das Individuum in den Mittelpunkt des Interesses stellen. Wir haben es hier nicht nur mit Ehefrauen und Ehemännern zu tun, sondern auch in erster Linie mit Menschen, die ihre vertraute Umgebung verlassen, um in einem fremden Land, teilweise auf Dauer, leben möchten und dabei verschiedenen Hindernissen und teils kritischen Lebensereignissen mit u. a. persönlichen, sozialen wie auch kulturellen Ressourcen begegnen.
Entstehungshintergrund
Dr. des. Annette Schöpe-Kahlen ist Diplom-Heilpädagogin und hat an der Universität Zürich promoviert. Sie hat bei den Special-Olympics Deutschland und bei der Unicef gearbeitet und war im Rahmen eines Auslandsstudiums in einer Gehörlosenschule in Brasilien tätig. Ihre Arbeitsfelder in der Schweiz umfassen u. a.
- Arbeit mit verhaltensauffälligen und autistischen Kindern und Jugendlichen
- Projektleitung einer Migrantinnenorganisation
- Tätigkeit als Gleichstellungsbeauftragte der Hochschule für Heilpädagogik in Zürich.
Die vorliegende Arbeit wurde an der Universität Zürich als Doktorarbeit eingereicht und basiert auf den langjährigen professionellen Erfahrungen der Autorin in der Arbeit mit südamerikanischen Frauen. Im Kontext ihrer Studie möchte Schöpe-Kahlen die derzeitige Diskrepanz zwischen der Fremd- und Selbstwahrnehmung von Migrantinnen aufzeigen und hierin auch den Versuch wagen, dem in der Wissenschaft, Politik und Gesellschaft vermittelten Bild von der passiven, marginalisierten, un(aus)gebildeten, abhängigen, unterdrückten und depressiven Migrantin das Bild von der aktiven, selbstbewussten, gesunden, persönlich und professionell kompetenten Migrantin gegenüberzustellen (S. 12 ff). Die Autorin geht der Frage nach, wie Migrantinnen den Migrations- und Integrationsprozess in einem fremden Land (hier: die Schweiz) erleben, verarbeiten und bewerten. Ausgehend von einem positiven Entwicklungsverständnis versteht sich die Arbeit ausdrücklich als ressourcenorientierte Untersuchung, die nicht von einem Defizit bzw. einer Devianz der Menschen ausgeht, sondern bewusst die Fähigkeiten und Stärken der Betroffenen betrachtet.
Im Rahmen der empirischen Studie interviewt Schöpe-Kahlen zehn Frauen aus den Ländern Brasilien, Argentinien, Bolivien, Kolumbien, Panama und Venezuela, die im Rahmen der Heiratsmigration in die Schweiz gekommen sind. Als Erhebungsinstrument kommt das Leitfadeninterview zum Einsatz, wobei biographische und migrationsspezifische Themenkomplexe eruiert werden sollen. Die Auswertung erfolgt mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring.
Um ein sog. Kompetenzfeld mit unterschiedlichen Verarbeitungsgraden der Integrationsprozesse zu ermitteln, zieht die Autorin ein Kategoriensystem heran, das sie den Fragestellungen ableitet und theoretisch begründet. Das Kategoriensystem basiert auf den kognitiven, emotionalen, interaktionalen sowie aktionalen Bewältigungsdimensionen: "Die Fläche, die sich daraus ergibt, wenn alle vier Werte miteinander verbunden werden, betrachte ich als «Kompetenzfeld’. Je größer die Fläche ist, desto stärker wurden die eigenen Ressourcen und Kompetenzen wahrgenommen und im Interview verbalisiert, mit denen die Probandinnen ihren Lebens- bzw. Integrationsprozess bewältigen" (S. 135).
Neben den biographischen Erfahrungen und kritischen Lebensereignisse sollen auch Handlungsstrategien und Bewältigungsressourcen der Probandinnen transparent gemacht werden. Dabei werden folgende Hypothesen erforscht:
- Migrantinnen sind in der Lage, die Realität wahrzunehmen
- Migrantinnen setzen sich aktiv mit der aufnehmenden Gesellschaft auseinander
- Migrantinnen sind in der Lage, ihren Integrationsprozess aktiv zu verarbeiten
- Migrantinnen sind fähig, Gefühle über ihren Lebensprozess auszudrücken.
Aufbau und Inhalt
Die Untersuchung besteht aus insgesamt zehn Kapiteln.
- Kapitel 1 ist die Einleitung.
- Im Kapitel 2 geht es um die Situationsbeschreibung. Dabei geht sie auf die Migration im Allgemeinen ein und führt daran anschließend einen historischen Abriss der Wanderungsbewegungen aus und in die Schweiz an. Einen besonderen Raum nehmen dabei die Fragen nach Heiratsmigration/binationale Ehen, Frauenmigration und hierbei insbesondere die allgemeine Situation südamerikanischer Frauen in der Schweiz ein. Abgeschlossen wird der Part mit den politischen und integrationsrelevanten Rahmenbedingungen.
- Kapitel 3 stellt den Stand der Theoriebildung und der Forschung dar. Dabei zieht sie drei Theorien heran (Bindungstheorie, Ressourcentheorie/Salutogenetisches Modell und Symbolischer Interaktionismus), um die Entwicklungsprozesse der Probanden aus verschiedenen Blickwinkeln darzustellen.
- Im Kapitel 4 werden die forschungsrelevanten Fragestellungen und Hypothesen vorgestellt.
- Die Untersuchungsmethodik befindet sich im Kapitel 5. Dabei werden neben der zu untersuchenden Zielgruppe auch die Datenerhebungs-, Datenerfassungs- und Datenanalyseverfahren beschrieben.
- Kapitel 6 beinhaltet die Darstellung und Interpretation der Interviewtranskripte. In diesem Abschnitt wird das Datenmaterial wiedergegeben. Neben Kurzbiographien soll auch die Familie der Probandinnen in der Heimat wie auch in der Schweiz kurz skizziert werden. Bei der Interviewauswertung kommt das zuvor entwickelte Kategoriensystem zum Einsatz, wobei die quantitativen Ergebnisse im Rahmen eines Schaubilds (Kompetenzfeld) verdichtet und veranschaulicht werden.
- Kapitel 7 wird die Untersuchung ausgewertet. Hierbei spezifiziert Schöpe-Kahlen Erkenntnisse aus der Fragen- und Hypothesenüberprüfung. Abschließend wird die Situation der Frauen im Gesamtkontext und unter Berücksichtigung der herangezogenen Theorien näher betrachtet.
- Kapitel 8 besteht aus der Zusammenfassung und dem Ausblick.
- Der Anhang (Leitfaden, Interviewextrakte und quantitative Werte) befindet sich im Kapitel 9.
- Kapitel 10 beinhaltet das Literaturverzeichnis.
Zielgruppen
Zielgruppen der Arbeit sind vor allem SozialarbeiterInnen, PädagogInnen, PsychologInnen, die mit Migrantinnen professionell arbeiten und deren Lebens- und Integrationsprozess in einem ganzheitlich-chancenorientierten Kontext betrachten möchten.
Diskussion
Mit einer geradezu "Schweizerischen Präzision" stellt die Autorin Menschen vor, die in die Schweiz migriert sind und völlig neuartige Lebensbedingungen vorfinden. Trotz der komplexen und relativ offenen Thematik überzeugt die Studie vor allem durch ihre konzeptionelle und strukturelle Reinheit sowie inhaltliche Transparenz. Auch wenn der theoretische Anspruch relativ hoch ist, so bleibt das Buch doch lesbar und anwendbar, durch die Aufnahme der extrahierten Textstellen in den Anhang und die interne Vernetzung der verschiedenen Teilbereiche zudem übersichtlich. Des Weiteren ist positiv anzumerken, dass die Autorin ihre dichotome Rolle (als betroffene Migrantin und professionelle Wissenschaftlerin) konkretisiert, kritisch hinterfragt und in ihren Auswertungsprozess mit einfließen lässt. Schöpe-Kahlen kann anhand der ausgeführten Ergebnisse wissenschaftlich beweisen, dass Integration ein dynamischer und ganzheitlicher Prozess ist, in dem Akteurinnen aktiv und nicht passiv agieren.
Gerade hier ergibt sich aber ein kleiner Kritikpunkt. Als Auswahlkriterium zieht die Wissenschaftlerin neben menschlichen und sozialen Ressourcen auch intellektuelle und berufliche Kompetenzen heran: "Motiviert durch die sehr differenzierte Sichtweise dieser beiden Frauen, grenzte ich im Folgenden die Suche nach neuen Interviewpartnerinnen auf gebildete, aus der Mittelschicht kommende Frauen ein, denn mit in rechtlich, physisch und psychisch ausgebeuteten und marginalisierten Frauen in der Migration haben sich, wie in der Einleitung beschrieben, bereits vielfältige Forschungen beschäftigt" (S. 109).
Dabei wird im Rahmen eines vorselektiven Verfahrens ein recht einheitliches Bild von der kompetenten, reflexiven und aktiven Migrantin kreiert und vermittelt, was der Migrationsrealität insgesamt aber nicht entsprechen kann. Die interviewten Frauen engagieren sich sozial, können auf fundierte Netzwerke zurückgreifen und verfügen aufgrund lingualer Kompetenzen auch über kommunikative Handlungskapazitäten. Im Rahmen der Vergleichbarkeit kann dies auch legitim sein. Was ist aber mit denjenigen Migrantinnen, die weder auf kognitive noch soziale Ressourcen zurückgreifen können? Zwar kritisiert die Autorin die bisherige Forschung über rechtlich, physisch und psychisch ausgebeutete und marginalisierte Migrantinnen, dabei geht sie aber in die entgegengesetzte Richtung, anstatt Frauen aus benachteiligten Lebensräumen zu interviewen und auch deren Ressourcen offen zu legen. Meiner Meinung nach vergibt sie dadurch eine große Chance. Gerade hier hätte sie aufzeigen können, dass die doppelte Benachteiligung der Migrantinnen (als Frau und als Fremde) vor Bildung und Klasse keinen Halt macht und dass Integration und Segregation nicht nur individuell bedingt ist, sondern auch sozialstruktureller Provenienz. Ein hoher Bildungsgrad, Mittelschichtzugehörigkeit sowie eine kulturelle und soziale Aktivität können zwar hilfreich sein für den Integrationsprozess, sollten aber nicht als Grundbedingungen oder gar Garanten wahrgenommen werden, sondern vielmehr als unterstützende Komponenten.
Fazit
Die vorliegende Arbeit ergänzt die gegenwärtigen Bestrebungen in der Migrationsforschung, die Migrationsrealität aus einem ausdifferenzierten, ressourcenorientierten Blickwinkel zu betrachten. Dass soziale Integration über subjektive Integrität läuft und laufen muss, ist das explizit wichtigste Ergebnis der vorliegenden Arbeit (S. 287). Ein gesundes Zusammenleben zwischen Menschen mit und Menschen ohne Migrationserfahrung kann nur über die gegenseitige Akzeptanz als andersartige bzw. Anerkennung als gleichwertige Menschen sowie die reziproke Berücksichtigung von physischen wie auch psychischen Bedürfnissen laufen. Im Zuge der allgemeinen Ethnisierung, Kriminalisierung und (Psycho-)Somatisierung von migrationsspezifischen Phänomenen gehen die Integrationsleistungen von Zuwanderern leider meist verloren, wobei sich die Frage stellt, inwieweit gesellschaftlich legitimierte Ausgrenzungsstrategien den individuellen Eingliederungsbestrebungen der Menschen entgegenstehen. Der Status "MigrantIn" darf nicht mehr als maßgebender Faktor angesehen werden.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Päd. Yalcin Yildiz
Migrationsforscher.
Freiberufliche Tätigkeit in der Migrationssozialberatung und Ganzheitlichen Nachhilfe
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