Kathleen Wermke: Babygesänge
Rezensiert von Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner, 22.11.2024
Kathleen Wermke: Babygesänge. Wie aus Weinen Sprache wird. Styria Media Group AG (Graz) 2024. 224 Seiten. ISBN 978-3-222-15122-4. D: 26,00 EUR, A: 26,00 EUR.
Die Autorin
Prof. Dr. Kathleen Wermke hat als Medizinische Anthropologin viele Jahre an der Charité geforscht und gelehrt. Sie hat das Zentrum für vorsprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen an der Poliklinik für Kieferorthopädie am Universitätsklinikum Würzburg aufgebaut und leitet es bis heute. Als Mutter von zwei Töchtern und Großmutter dreht sich das Familienleben eng um ihre Forschungen.
Thema
Der Gesang der Babys ist eine magische und geheime Klangwelt. Aus diesem Singsang hat sich Sprache entwickelt. Warum das so ist und wie sich aus dem Weinen in den ersten Lebensmonaten Sprache entwickelt, ist Thema des Buches.
Aufbau und Inhalt
In einer persönlich orientierten Einführung beschreibt Kathleen Wermke in den ersten Kapiteln die Weckung des Interesses und die akademische Hinführung zu ihrem Forschungsthema. „Denn was ist am Schreien von Neugeborenen so interessant?“ fragt sie.
Sie charakterisiert die „Babygesänge“ (Schrei-, Gurr- und Babbellaute) der Neugeborenen. Bedeutsam ist die Melodie. Die Kontur der Melodie ist schon bei Geburt von der Muttersprache beeinflusst und angepasst an die Sprachmelodie der Umgebungssprache. Nachgewiesen wurde dies am Beispiel japanischer, deutscher, schwedischer und französischer Babys. Vorgeburtliches Hören, vorgeburtliche Gedächtnisspuren und Gesangsvorübungen machen dies möglich.
Zwillingsstudien zeigen eine angeborene Baustruktur; es gibt regelhafte Veränderung der Melodiestruktur bei allen Babys. Es beginnt bei den Lautäußerungen (ohne Einatmen dazwischen) mit Einzelbögen als Grundbausteine, bald folgen Kombinationen bei gleichzeitiger Flexibilität. Dies bildet die Voraussetzung für den Erwerb der Prosodie der Muttersprache; so entsteht ein primitivster Mechanismus der Silbenbildung. So kann ein hochkomplexes System der Generierung von Konsonanten und der Verbindung mit Vokalen entstehen.
Vom ersten Schrei bis zum ersten Wort ist es ein Spiel mit der Stimme. Babys experimentieren mit den verschiedenen Komponenten der Lauterzeugung (Atmung, Kehlkopf, Artikulatoren, Gehirn) in systematischer Weise und folgen dabei einem angeborenen Programm, das für Lernen offen ist. So erzeugen Babys, in deren Muttersprache Klicklaute vorkommen, mit 3 Monaten Schnalzgeräusche. Ein funktionierendes Gehör ist unverzichtbar für eine störungsfreie Entwicklung.
Zum Schluss wagt Kathleen Wermke einen Blick in die Zukunft. Auch wenn künstliche Intelligenz vieles zu leisten vermag, aber gesprochene Sprache zu erkennen, ist etwas anderes als die Babygesänge mit ihren vielseitigen Konnotationen und emotionalen Anteile zu entschlüsseln, uns also zu sagen, was das Baby ausdrücken will. Dass Geräte dies leisten können, hält die Autorin für unwahrscheinlich und nicht funktionierend
Diskussion
Das Buch wurde konzipiert, um Leserinnen und Leser in die magische Welt des Babygesangs einzuführen. Vielfältige Aspekte sind dabei von Bedeutung: das universelle Programm, aber flexibel für das Lernen der Muttersprache, oder die frühen Einflüsse durch die Hörerlebnisse. Es werden urgeschichtliche Aspekte der Menschheitsgeschichte angesprochen sowie Erkenntnisse aus vielen Sprachfamilien berücksichtigt. Bemerkenswert ist auch vom jahrhundertealten Interesse an Babylauten und den ersten Forschungsschritten zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu erfahren.
Das Buch soll helfen zu verstehen, dass alle stimmlichen Äußerungen eines Babys Teil seines individuellen Wegs zur Sprache sind. Es soll helfen, dem Baby anders zu lauschen. Diesem Anspruch wird es sehr gerecht, Sehr zum Verständnis tragen auch die 17 Hörbeispiele bei, die per QR-Code zugänglich sind.
Zielgruppen
Alle, die sich für Babygesänge, ihre Erforschung, ihre Entwicklung interessieren, auch Eltern
Fazit
Das Buch beschreibt den Weg des Babys vom ersten Schrei zum Wort. Das sehr persönlich geschriebene Buch über Babygesänge (Weinen, Schreien, Gurren, Brabbeln) von der vorgeburtlichen Zeit bis ins zweite Lebensjahr, veranschaulicht auch durch Hörbeispiele, ist informativ, aber auch kurzweilig zu lesen.
Rezension von
Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner
ehem. Leiter der Interdisziplinären Frühförderstellen in Dorfen, Erding und Markt Schwaben im Einrichtungsverbund Steinhöring
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Es gibt 197 Rezensionen von Lothar Unzner.
Zitiervorschlag
Lothar Unzner. Rezension vom 22.11.2024 zu:
Kathleen Wermke: Babygesänge. Wie aus Weinen Sprache wird. Styria Media Group AG
(Graz) 2024.
ISBN 978-3-222-15122-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32137.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
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