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Friedrich Heckmann: Einwanderung mit Zukunft

Rezensiert von Prof. Dr. Bernhard Mann, 25.03.2025

Cover Friedrich Heckmann: Einwanderung mit Zukunft ISBN 978-3-593-51929-6

Friedrich Heckmann: Einwanderung mit Zukunft. Neue Nationsbildung in Deutschland statt Minderheitengesellschaft. Campus Verlag (Frankfurt) 2024. 256 Seiten. ISBN 978-3-593-51929-6. D: 32,00 EUR, A: 32,90 EUR.

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Thema

Wer sind „Wir“ in Deutschland und wer gehört dazu? Auf der Grundlage der Migrations- und Integrationsforschung wird von Friedrich Heckmann die Frage untersucht, ob sich ethnische Minderheitenbildung infolge von Einwanderung verfestigt oder andererseits eine Übergangsepisode im Integrationsprozess ist? Die Abhandlung belegt, dass es im Zeit- und Generationenverlauf zu einer (wechselseitigen) Annäherung zwischen Einheimischen und eingewanderten Menschen und deren Nachkommen in fast allen Segmenten gesellschaftlichen Lebens kommt. Es stellt sich also die Kernfrage, ob Deutschland eine integrative Gesellschaft im Prozess „Neuer Nationsbildung“ ist, die Gegenwart und Zukunft der Einwanderung vielfältig gestaltet.

Autor:in

Der Autor ist emeritierter Professor und Lehrstuhlinhaber für Soziologie an der Universität Bamberg, zuvor Universität Erlangen-Nürnberg und Vorsitzender des Expertenforums Asyl beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Nach der Emeritierung ermöglichte die federführende Mitwirkung im „EU Migrationsforschungsprojekt“ „HumMingBird“ seine fortgesetzte, wegweisende, geschätzte und viel zitierte wissenschaftliche Arbeit an der Universität Bamberg.

Aufbau und Inhalt

Friedrich Heckmanns Werk ist in 11 Kapiteln gegliedert. Nach der Einführung zu Themen der Einwanderung, ethnischer Differenzierung und Nation wird im 3. Kapitel untersucht, wie die Nationsbildung methodisch gesehen realisiert werden kann (S. 23–29).

Im 3.-7. Kapitel werden sozialwissenschaftliche Faktoren aufgezeigt, die zur Nationenbildung beitragen. Konkret stehen soziologische Themen an wie Bildung und Qualifizierung, Erwerbstätigkeit (S. 40–55), Angleichungen bei juristischen Fragen zu Rechtsstatus und Mitgliedschaften (S. 55–67), kulturwissenschaftliche Annäherungen bei Kognitionen, Sprache und persönlichen Beziehungen (S. 67–98), identitätstypische Annäherungen und Angleichungen bei sozialer Zugehörigkeit, Identifizierung und Beteiligung (S. 101–127). Die Erkenntnisse zur neuen Nationsbildung integriert der Autor in der These, dass Deutschland eine „integrative Gesellschaft“ sei (S. 127–129).

Das 8. Kapitel ist historisch konzipiert, mit dem Ziel zu zeigen, wie die ethnische Differenzierung in einer Gesellschaft beschrieben und erklärt wird (S. 131). Relevante Ansätze sind der Multikulturalismus und die multikulturelle Gesellschaft als „Vorboten“ künftiger sozialer Entwicklungen (S. 132–141). Ereignisse wie eine De-Nationalisierung, die postnationale Gesellschaft und schließlich der Wert und die Bedeutung der Staatsbürgerschaft kommen zur Sprache (S. 141–147). Der Autor verweist insbesondere auf die Theorie postmigrantische Gesellschaft mit einer Analyse gesellschaftlicher Folgen von Migration, der Gesellschaftskritik und Analyse einer politischen Utopie, operationalisiert in einer Erzählung über die Nation in Deutschland, mit den inhärenten Chancen und Grenzen des Paradigmas (S. 147–155).

Das 9. Kapitel widmet der Bamberger Soziologe dem Begriff der Nation, mit seiner Gründung, den Merkmalen und Wirkungen (S. 155–187). Entdeckt wird ein Dreiklang bei der Entstehung nationaler Strukturen (S. 158–165) mit dem Blick auf die Staats- und Kulturnationen und die Nationswerdung. Dem schließt sich die Klärung des Begriffs der „Nation“ im Kontext der Erinnerungskultur und Gedächtnisgemeinschaft, Nation und Sprache, Ethnie und Volk, Kultur und Gemeinschaft als wesentliche Variablen für die Sozialisation. Bezugnehmend auf Renan (1882/1996) sind „(…) Nationen Gruppen, die durch Kollektivbewusstsein und gemeinsame wirtschaftliche, soziale und politische Strukturen miteinander verbunden sind. Mit der Hilfe eines eigenen Staates üben sie politische Herrschaft aus. Nationen bewohnen und kontrollieren ein durch Grenzen definiertes Territorium; sie sind politisch und rechtlich nach innen und nach außen definiert und werden geprägt durch ein Kollektivbewusstsein, einer Gemeinschaft und wechselseitiger Solidarerwartungen, sind aber auch sozialstrukturell und nach Werthaltungen, Einstellungen und Verhalten ihrer Mitglieder stark differenziert.“ Hier kommen natürlich auch subjektive Aspekte zum tragen.

Nation kann soziale Kohäsion fördern, entwickelt Zugehörigkeit und soziale Identität, symbolisiert ein soziales Gebilde und einen rechtlichen Personenverband (S. 183), kann als nationale Leitkultur einen Orientierungsrahmen bieten und Konflikte über Werte und Normen reduzieren, die staatliche Steuerungsfähigkeit stärken und den Schutz des Wohlfahrtsstaates effektiver erhalten und last not least Identität stärken auf der Basis von Symbole und Mitgliedschaften.

Sicherlich ist die Nationenbildung nicht unproblematisch bei Exklusion und Nationalismusgefahr mit der Ausgrenzung von Minderheiten und der Abwertung und Stigmatisierung anderer Kulturen, bei Anpassungsdruck mit kultureller Unterdrückung und bei wirtschaftlicher Abschottung, indem ökonomische Kooperationen erschwert werden. Moderne Gesellschaften werden jedoch immer stärker durch das Phänomen der Migration geprägt. Ein rein nationales Identitätskonzept kann diesem Fakt nicht mehr gerecht werden. Die Annäherungen in den Lebensbedingungen von Migranten und Einheimischen bilden eine materielle Grundlage für die Transformation (S. 212); als kollektives „Wir“ wird sie durch politische Maßnahmen gefördert: Offenheit und Angebote von Institutionen, „Dazugehören“, Reden einflussreicher Politiker und die Medienpolitik mit der Transformation des kollektiven „Wir“ wird schließlich gefördert durch einen sozialen Aufstieg von Migranten, gepaart mit einem Anstieg an Beziehungen und einem Ansehenszuwachs von Einwanderergruppen. In der Studie wurde gezeigt, dass diese Bedingungen für Deutschland vorliegen. Es ist eine Zunahme des Einflusses von Migranten auf das kollektive „Wir“ zu erwarten:

  • Nation und Sozialstaat stehen in einem Zusammenhang; der Sozialstaat ist die bedeutendste Institution, die eine Solidarfunktion im Nationskonzept erfüllen (S. 214).
  • Demokratie, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit können absichern, dass dieser Zusammenhang bestehen bleibt.
  • Eine Verstärkung der politischen Beteiligung jener Bevölkerung mit Migrationsgeschichte am demokratischen Prozess ermöglicht es, ihren Interessen im politischen Kräftefeld ein größeres Gewicht zu geben und ihre Identifikation mit der Nation zu verstärken (S. 214).
  • Eine multikulturelle Gesellschaft fördert neue Perspektiven, Ideen und Kompetenzen; es entsteht mehr Kreativität, Innovationskraft und kulturelle Innovation. Dabei gewährleistet eine offene Gesellschaft, dass Migrant:innen eher menschenwürdig behandelt und gleichberechtigt integriert werden.
  • Historisch gesehen sind viele Staaten durch Kolonialismus, Kriege und wirtschaftliche Ausbeutung mit globalen Migrationsströmen verbunden, so beinhaltet und bedeutet eine offene Migrationsgesellschaft die Entwicklung zur gerechteren Weltordnung.

Diskussion

Die vorliegende Monografie ist ein spannender und gewichtiger Beitrag zum Migrationsdiskurs:

  • Mit der Förderung interkultureller Kompetenz im Zuge der Nationenbildung: die Entwicklung aktiver Begegnungsräume kann den interkulturellen Austausch fördern und Vorurteile abbauen
  • Mit der gerechteren Teilhabe am Arbeitsmarkt: die Stärkung demokratischer Partizipation kann die politische Mitbestimmung fördern
  • Mit der Unterstützung von Toleranz und Offenheit: eine Migrationsgesellschaft fördert den interkulturellen Dialog, mehr Toleranz und Verständnis zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen

Empirisches Beispiel: Kanada verfolgt eine Politik des Multikulturalismus und profitiert von der kulturellen und wirtschaftlichen Bereicherung durch Migranten. Abschließend erörtert der Autor 20 Thesen (S. 227–229); einige sollen hier rezipiert werden:

  1. Nation ist eine von Menschen geschaffene Institution; sie ist wandelbar. Wobei die Vorstellung, ein Volk ginge seinen klassischen Gang durch die Geschichte nicht zutrifft. Es bilden sich immer wieder durch Migration und Grenzverschiebungen neue Konstellationen und Zusammensetzungen der Bevölkerung.
  2. Zugehörigkeit zur deutschen Nation habe etwas mit Hautfarbe und Augenform zu tun. Richtig ist: Deutsche haben unterschiedliche Hautfarben und Augenformen.
  3. Vielen Einwanderungsgesellschaften ist es gelungen, aus Menschen unterschiedlicher Abstammung und Herkunft innovative Nationen zu bilden.
  4. Ein bekannter Autor sagt, „Deutschland schafft sich ab.“ Richtig ist: Deutschland verändert sich, ist integrativ, ein Land der Chancen und Zuversicht (Thekkal).
  5. Integration und Neue Nationsbildung sind wechselseitig. Notwendig bleibt die Erarbeitung kultureller Gemeinsamkeiten mit den Einwanderern, verbunden mit Respekt und einem Entfaltungsraum für jene aus dem Herkunftsland mitgebrachten Kulturen.
  6. Der erreichte Wohlstand unserer Volkswirtschaft ist für einen beträchtlichen Teil eine Leistung der Migranten. „Progressive“ Menschen glauben, man dürfe nicht stolz sein auf seine Nation: entscheidend ist, worauf sich der Stolz bezieht.
  7. Zusammengefasst ist die Neue Nationsbildung soziologisch gesehen ein offener Prozess: soll dieser Prozess nicht beliebig sein, muss er von ethischen und wissenschaftlichen Prinzipien angeleitet werden.
  8. Ein Kapitel über die Gewalt bei Migranten wäre im Lichte der Opfer erfreulich gewesen.
  9. Die Monografie wird abgeschlossen mit einem Abbildungs-, Tabellen-, Literaturverzeichnis und Personenregister.
  10. Die Druckversion vor.

Fazit

Im Zuge einer pauschalen „Kriminalisierung“ von Migranten, verursacht durch Übergriffe in jüngster Zeit mit einem Plädoyer für eine restriktive Migrationspolitik, ist die vorliegende Monografie ein wichtiger Beitrag für einen differenzierten, resilienten und kultivierten Umgang mit Migranten, wohlbedacht dass es sich um ein komplexes Thema handelt, dem „eindimensionale Sichtweisen“ (Herbert Marcuse) nicht gerecht werden. Der Respekt diverser Kulturen untereinander, so Friedrich Heckmann, unterstützt eine reflektierte, integrative und friedliche Gesellschaft.

Rezension von
Prof. Dr. Bernhard Mann
MPH Dipl.-Sozialwirt. Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz
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Es gibt 16 Rezensionen von Bernhard Mann.

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ISSN 2190-9245