Philipp Oswalt: Bauen am nationalen Haus
Rezensiert von Prof. Dr. Hartmut Kreß, 29.08.2024
Philipp Oswalt: Bauen am nationalen Haus. Architektur als Identitätspolitik. Berenberg Verlag GmbH (Berlin) 2023. 238 Seiten. ISBN 978-3-949203-73-2. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR.
Thema
Das Buch beschäftigt sich mit der Wiedererrichtung symbolträchtiger Bauwerke, z.B. des Berliner Stadtschlosses, und weist auf gesellschaftliche, politische sowie architektonische Fragwürdigkeiten solcher Bauvorhaben hin.
Autor
Der Verfasser des Buches ist der Publizist und Architekt Philipp Oswalt, der als Professor für Architekturtheorie und Entwurf an der Universität Kassel lehrt und von 2009 bis 2014 Direktor der Stiftung Bauhaus Dessau war.
Entstehungshintergrund
Konkret befasst sich der Band mit den ideellen und politischen Hintergründen des Wiederaufbaus von fünf Bauwerken, die hohen Symbolwert besitzen: der Potsdamer Garnisonskirche, dem Schloss in Berlin-Mitte, den neuen Altstadtgebäuden in Frankfurt am Main und der Frankfurter Paulskirche sowie der Bauhaus-Meisterhäuser in Dessau. Oswalt war an den öffentlichen Debatten über den Neuaufbau bzw. über die Erhaltung der Gebäude intensiv beteiligt. Im Zuge seiner Kritik an der Rekonstruktion der Potsdamer Garnisonskirche trat er im Jahr 2016 aus der evangelischen Kirche aus. Die im Buch enthaltenen Texte beruhen weitgehend auf früheren Veröffentlichungen des Autors, die er jetzt zusammenhängend verfügbar gemacht hat.
Aufbau
Den fünf Bauwerken werden in dem Buch jeweils eigene Kapitel gewidmet. Ein Einleitungskapitel dient der Intonierung. Den Kurs, der in Deutschland im Umgang mit historischen Gebäuden verfolgt worden ist, unterzieht es einer nachdrücklichen Kritik. Das Nachwort bekräftigt diese skeptische Einschätzung. Es zieht die Bilanz, bei wichtigen baulichen Vorhaben hätten in Deutschland „konservative Positionen mit essentialistischen Fiktionen von Geschichte, Identität, Herkunft und Tradition“ die Oberhand gewonnen (S. 197).
Inhalt
Der einleitende Beitrag zeichnet sich durch seinen programmatisch kritischen Zuschnitt aus. Er steht unter der Überschrift: „Bauen am nationalen Haus. Architekturrekonstruktionen als Identitätspolitik 1980–2020“. In Deutschland habe man sich in neuerer Zeit einem fotogetreuen Wiederaufbau von Gebäuden verschrieben, die aus der preußisch-deutschen Ära vor 1918 stammen. Dies zeige sich an der Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses, die gegen den Willen der Mehrheit der Berliner Bevölkerung durchgesetzt worden sei (S. 40). Politisch habe man sich vom wiederhergestellten Stadtschloss eine Bestärkung nationaler Identitätsgefühle versprochen. Wie zwiespältig solche Bauprojekte sind, zeigt Oswalt bereits im Einleitungskapitel besonders am Beispiel der Potsdamer Garnisonskirche auf. Für ihren Wiederaufbau haben sich ihm zufolge nicht nur konservative, sondern in hohem Maß rechtsextreme bzw. national rechtsradikale Kräfte eingesetzt. Daher hält er fest: „Das kompromisslose exakte Nachbauen von in Fotografien festgehaltenen äußeren Erscheinungsbildern verloren gegangener Bauten folgt einer fragwürdigen geschichtspolitischen Agenda“ (S. 38). Einen wohltuenden Kontrast sieht er in der westdeutschen Architekturpolitik der Nachkriegszeit. Gebäude, die damals errichtet worden waren, seien der Moderne zugewandt gewesen – etwa der von Sep Ruf entworfene Kanzlerbungalow in Bonn oder der von Günter Behnisch konzipierte Neubau für den Deutschen Bundestag (S. 18), der aufgrund des Regierungsumzugs von Bonn nach Berlin in den 1990er Jahren allerdings nur noch kurzzeitig genutzt werden konnte.
Die Kapitel, die dem Einleitungsabschnitt folgen, gehen dann ins Detail.
Am umfangreichsten fällt das Kapitel aus, das die Wiedererrichtung der Potsdamer Garnisonskirche erörtert (S. 43–114). Seit 2017 werde ihr barocker Turm wieder aufgebaut. Oswalt ruft ins Gedächtnis, dass sich mit dem Gebäude historisch schwere Hypotheken verbinden, da es in der Weimarer Republik zu einem Brennpunkt antidemokratischer Bestrebungen geworden sei und weil dort am „Tag von Potsdam“, dem 21. März 1933, Hitler symbolisch inthronisiert worden sei (S. 43 ff.). Detailliert zeichnet das Buchkapitel nach, dass die Bestrebungen, die im Krieg zerstörte Kirche wiederaufzubauen, in Westdeutschland bereits 1984 in konservativ-nationalen Zirkeln der Bundeswehr ihren Anfang genommen hätten. Ihr Kristallisationspunkt sei die damals gegründete Traditionsgemeinschaft Potsdamer Glockenspiel e.V. gewesen (S. 51). Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten sei in Potsdam selbst die Idee eines Wiederaufbaus hochumstritten gewesen. Seit 2000 sei dann die evangelische Kirche unter Federführung ihres Bischofs Wolfgang Huber in das Projekt eingestiegen (S. 78 ff.), für das sich des Weiteren nicht zuletzt die AfD sowie rechtskonservative Zeitungen engagiert hätten (S. 104). Weil die Spendengelder nicht ausreichten, seien die Kirche (S. 100) und größtenteils der Staat eingesprungen (S. 98 ff.). Um den düsteren Sachverhalt zu kompensieren, dass das Gebäude wie kaum ein anderes für preußischen Militarismus steht, habe sich die Kirche dafür ausgesprochen, in seinem Inneren künftig an den Gedanken der Versöhnung zu erinnern – ein Vorhaben, dessen Überzeugungs- und Durchschlagskraft von Oswalt mit Skepsis kommentiert wird (S. 105 f.).
Sodann befasst er sich mit dem Berliner Schloss (S. 117–143). Ausführlich schildert er die Kontroversen, die sich daran entzündeten, ob dieses in der Stadtmitte Berlins gelegene Monument nach 1990 überhaupt wieder aufgebaut werden sollte und wenn ja, in welcher Form. Im Jahr 1950 war es als Kriegsruine auf Geheiß der DDR-Führung gesprengt worden. Auch hier sei der originalgetreue Wiederaufbau von rechtsradikalen oder -extremen Kräften forciert worden, u.a. durch Spenden von Bankiers und Unternehmen, die der rechten nationalen Szene zuzuordnen seien (S. 125–138). Eingehend beleuchtet das Buchkapitel das Sonderproblem, ob es sinnvoll und vertretbar war, auch die Kuppel des Schlosses zu rekonstruieren, die aus dem Jahr 1853 stammt. Oswalt weist darauf hin, dass ihre Wiederherstellung weitgehend auf eine anonyme Spende zurückgehe (S. 138). Sie enthält eine religiöse Inschrift, die den autoritativen Machtanspruch des preußischen Königs unterstrich, der wenige Jahre zuvor den auf Demokratisierung abzielenden Aufstand der Berliner Bevölkerung blutig hatte niederschlagen lassen.
Das nachfolgende Kapitel wechselt den Schauplatz und behandelt die Neue Altstadt Frankfurt (S. 145–157). Es problematisiert die äußerlich fotorealistische Wiederherstellung von fünfzehn mittelalterlichen Häusern zwischen dem Frankfurter Dom und dem Römer, die hochsubventioniert aufwändigen privaten Wohnzwecken dienen (S. 145 f.) – im Kontrast dazu, dass in Frankfurt ansonsten Zehntausende Wohnungen fehlen (S. 157).
Danach widmen sich fünfzehn Seiten des Buches der Paulskirche Frankfurt (S. 159–174). In ihr hatte 1848 die erste frei gewählte deutsche Nationalversammlung getagt und eine bürgerliche Staatsverfassung beschlossen, die freilich nie in Kraft getreten ist. Der Buchabschnitt bezieht sich auf den Wiederaufbau der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Paulskirche im Jahr 1948 gemäß den Plänen des Architekten Rudolf Schwarz (1897–1961). Den Innenraum gestaltete der Architekt damals schlicht und funktional. Hierzu wird eine aus seinem Umfeld stammende Äußerung zitiert: Man habe den Raum mit einer so „nüchternen Strenge“ konzipiert, „dass darin kein unwahres Wort möglich sein sollte“ (S. 164). Oswalt kritisiert die in den 1980er Jahren einsetzenden Bemühungen, diese schlichte Innengestaltung aus der Nachkriegszeit – „ein authentisches Zeugnis des demokratischen Aufbruchs nach 1945“ (S. 169) – durch einen Innenraum zu ersetzen, der historisierend die Prachtentfaltung des 19. Jahrhunderts wiedergeben sollte. Die Pläne sind dann allerdings nicht umgesetzt worden.
Das Anschlusskapitel Neue Meisterhäuser Dessau (S. 177–196) fällt aus dem Rahmen der übrigen Buchteile, weil hier nicht die Kritik, sondern die Zustimmung überwiegt. Diese gilt der Neuerrichtung von zwei Häusern, den sog. Meisterhäusern, die im Areal des Dessauer Bauhauses von Walter Gropius entworfen und im Krieg zerstört worden waren. In Dessau habe man sich für einen Wiederaufbau entschieden, der vom Schema der Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses, nämlich einer „mechanische(n) Reproduktion des fotogetreuen Bildes“, deutlich abweiche (S. 195). Man habe die beiden Gebäude wiederhergestellt, indem man sich an ihre ursprüngliche Gestalt zwar angelehnt habe – jedoch in heutiger zeitbedingter Perspektive. Es sei gelungen, sie gleichermaßen als Rekonstruktionen wie auch als Neubauten zu erstellen (S. 192).
Das Nachwort (S. 197–200) wiederholt die Kritik an den restaurativ-historisierenden Tendenzen der Architektur und des Städtebaus, die das Buch detailreich nachgezeichnet hat.
Diskussion
Der vorliegende Band besitzt zwei Stoßrichtungen: zeitgeschichtlich den Aufweis, dass konservative, ja rechtsradikale Kräfte den Wiederaufbau bestimmter symbolträchtiger historischer Gebäude in Deutschland vorangetrieben haben, sowie architekturtheoretisch die Absage an eine fantasielose Rekonstruktion historischer Bauten, die – was ihre Außenansicht, ihre Fassade anbetrifft – fotorealistisch alten Originalen folgt.
Die nachfolgenden Bemerkungen knüpfen an diese beiden Aussagen des Buches an.
1. Den fotogetreuen Aufbau alter Gebäude bezeichnet Oswalt als eine architektonische „Orthodoxie“ (S. 117 u.o.), die kritikbedürftig sei. Aus Sicht des Rezensenten könnte man die von ihm geschilderte Entwicklung besser noch mit einem anderen Begriff charakterisieren und von einem neuen architektonischen Originalismus sprechen. Eine vorzugswürdige Alternative sieht Oswalt darin, die Wiedererrichtung von Gebäuden als architektonische Interpretation zu begreifen, die bewusst aus heutiger Perspektive vorgenommen wird, und zwar auf der Grundlage einer sowohl kritischen als auch konstruktiven Auseinandersetzung mit der Vergangenheit (S. 188). Für diesen alternativen Standpunkt – man könnte sagen: für eine hermeneutisch reflektierte Rekonstruktion anstelle eines Originalismus – sprechen triftige Argumente.
2. Die Lektüre des Buches legt den Leser*innen noch eine weitere kritische Rückfrage nahe. Zweifelhaft erscheint das derzeit favorisierte Konzept, die Außenfassaden bestimmter Bauwerke, etwa des Stadtschlosses oder der Garnisonskirche, quasi originalgetreu wiederherzustellen, um den problembeladenen Symbolgehalt dieser Gebäude – sie repräsentieren preußischen Imperialismus und Militarismus – dann in ihrem Inneren zu relativieren und zu dementieren. Letzteres soll im Stadtschloss durch die Ausstellungen geschehen, die unter dem Namen Humboldt präsentiert werden, und in Potsdam durch eine Ausstellung unter dem Motiv der Versöhnung. Ein solcher Dualismus von Außen und Innen stellt einen dilatorischen Kompromiss dar. Die Gebäude werden zu einer Doppelkonstruktion, die binnenwidersprüchlich ist.
3. Der Wiederaufbau der beiden Bauten in Berlin und in Potsdam war langjährig der Gegenstand von politischem und gesellschaftlichem Streit. Zu Recht rückt das Buch ins Licht, dass diese Auseinandersetzungen ideologiekritisch aufgearbeitet werden sollten. Bedenklich stimmen die Einflussnahmen rechtsextremer oder rechtsradikaler Kreise (S. 73 ff. u.o.) und darüber hinaus auch fragwürdige Interventionen von Spitzenpolitikern, unter ihnen der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker (S. 66 u.ö.) oder der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder (S. 118 f.). Sehr anfechtbar ist das Motiv der Politik, mithilfe solcher Bauten eine neue gesellschaftliche Identität stiften zu wollen. Mit ihnen verbindet sich die Nationalstaatsideologie des 19. Jahrhunderts, von der sich die Bundesrepublik Deutschland gezielt verabschieden sollte. Die Garnisonskirche oder das Stadtschloss symbolisieren in mehrfacher Hinsicht die Schattenseiten der preußisch-deutschen Geschichte. Letzteres ließe sich noch breiter entfalten, als es in Oswalts Buch geschieht. Doch schon in seiner vorliegenden Fassung listet es zahlreiche neuralgische Punkte der Bauprojekte auf. Hierzu gehört der Sachverhalt, dass in Berlin-Mitte der sog. Palast der Republik – ein Prestigebauwerk der alten DDR-Führung, aber auch der Ort, an dem das 1989 frei gewählte, die Demokratie befürwortende DDR-Parlament tagte – abgerissen wurde und dass man davon absah, ihn in eine Neukonzeption zu integrieren (S. 26). Oder anders gelagert: Als die Garnisonskirche wiederhergestellt werden sollte, griffen die Befürworter zu der Aussage, Steine könnten nicht schuldig werden (S. 68, S. 200) – ein beschönigendes Verlegenheitsargument. D.h.: Das Buch vermittelt zahlreiche Anstöße, kritisch in den Blick zu nehmen, ob sich Politik und Zivilgesellschaft mit der deutschen Vergangenheit angemessen auseinandergesetzt haben.
4. Die Rekonstruktion des Stadtschlosses, in dem Kaiser Wilhelm II. residierte, und der Garnisonskirche betrifft nicht nur die deutsche Staatsgeschichte, sondern gleichfalls das Verhältnis von Staat und Kirche. Beide Gebäude erinnern an die spezifisch deutsche Problematik des kirchlich, genauer: des evangelisch-lutherisch gestützten Obrigkeitsstaats und an die jahrhundertelange Proklamation von Staatsgehorsam durch den deutschen Protestantismus. Den „Tag von Potsdam“, der am 21. März 1933 an der Garnisonskirche zelebriert wurde, hatte der Berliner Generalsuperintendent Otto Dibelius mit einer Festpredigt eröffnet, in der er „Gottes Gnadenhand über den Bau des Deutschen Reiches“ beschwor. Für seine Predigt wählte er ein Leitmotiv – „ein Reich, ein Volk, ein Gott“ –, mit dem er ausdrücklich an die Kriegsbegeisterung des August 1914 anknüpfte. Vor solchen Hintergründen befremdet es, dass sich ausgerechnet die evangelische Kirche in so hohem Maß ideell, aber auch finanziell für den äußerlich originalgetreuen Wiederaufbau der Garnisonskirche eingesetzt hat. Oswalt gibt sich Mühe, die Motive der Kirche und ihres federführenden Repräsentanten Wolfgang Huber zu verstehen (S. 79 ff.), bleibt aber – was gut nachvollziehbar ist – ratlos und verständnislos. Jedenfalls bieten die Rekonstruktion des Stadtschlosses und der Garnisonskirche Anlass, kritisch auch über die Beziehungen zwischen Staat und Kirche in Deutschland zu diskutieren.
Fazit
Das Buch thematisiert die Instrumentalisierung von Architektur durch die Politik (Architektur als Identitätspolitik). Den Anlass bilden vor allem der Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses sowie der Potsdamer Garnisonskirche. Es vermittelt kritische Impulse, die sozialethisch und architekturtheoretisch weiter erörtert werden sollten.
Rezension von
Prof. Dr. Hartmut Kreß
Professor für Sozialethik an der Universität Bonn
Website
Mailformular
Es gibt 18 Rezensionen von Hartmut Kreß.
Zitiervorschlag
Hartmut Kreß. Rezension vom 29.08.2024 zu:
Philipp Oswalt: Bauen am nationalen Haus. Architektur als Identitätspolitik. Berenberg Verlag GmbH
(Berlin) 2023.
ISBN 978-3-949203-73-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32144.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.