Malte Christian Claussen, Erich Seifritz (Hrsg.): Lehrbuch der Sportpsychiatrie und -psychotherapie
Rezensiert von Dr. Richard Hammer, 27.08.2024
Malte Christian Claussen, Erich Seifritz (Hrsg.): Lehrbuch der Sportpsychiatrie und -psychotherapie.
Hogrefe AG
(Bern) 2024.
512 Seiten.
ISBN 978-3-456-86069-5.
D: 69,95 EUR,
A: 72,00 EUR,
CH: 89,00 sFr.
Band 2: Sport und Bewegung bei psychischen Erkrankungen.
Thema
Die Ursprünge der Sportpsychiatrie und -psychotherapie liegen Ende der 1980er und Anfang der 1990er-Jahre. Ihr Fokus lag und liegt im Besonderen im Leistungssport und hier auf der Förderung der psychischen Gesundheit und der Behandlung von psychischen Beschwerden und Erkrankungen. Im deutschsprachigen Raum hat vor allem der tragische Suizid von Robert Enke – damals Torwart der Deutschen Fußball Nationalmannschaft – im November 2009 die Entwicklung dieses Fachgebiets vorangetrieben und es wurde neben dem Leistungssport, Sport und Bewegung bei psychischen Erkrankungen bzw. Sport und Bewegung in der Prävention und Therapie psychischer Erkrankungen als weiteres Tätigkeitsfeld aufgenommen.
Das derzeit umfassende Wissen zu diesem Thema wird in den beiden Bänden „Lehrbuch der Sportpsychiatrie und -psychotherapie“ dargestellt. Der 1. Band behandelt die psychische Gesundheit und Erkrankungen im Leistungssport. Er geht den Fragen nach:
- Welche Möglichkeiten der Förderung der psychischen Gesundheit im Leistungssport gibt es?
- Sind Sportler sind besonders gefährdet und welche Mechanismen führen in die psychische Krise?
- Gibt es Frühwarnzeichen (Erschöpfung, Stimmungsschwankungen, Ausbleiben von Trainingsfortschritten, Verlust von Interesse, Essstörungen, Substanzmissbrauch etc.)
Der 2. Band befasst sich mit dem Thema „Sport und Bewegung bei psychischen Erkrankungen“ und versammelt umfassendes Basiswissen zu den biologischen, psychischen und sozialen Wirkmechanismen, die Menschen bei psychischen Erkrankungen helfen können.
Einen guten Einblick in das Thema gibt ein Interview mit einem der Herausgeber, Dr. Malte Christian Claussen: https://www.hogrefe.com/de/thema/​psychische-gesundheit-und-erkrankungen-im-leistungssport
Herausgeber
PD Dr. med. Malte Christian Claussen, Leiter des PZM Psychiatriezentrum Münsingen AG, Klinik für Depression und Angst.
Er war lange Jahre tätig an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und fokussierte sein wissenschaftliches Interesse auf die Entwicklung und Etablierung eines spezifischen Angebots für Leistungssportler*innen mit psychischen Beschwerden und Erkrankungen. Er leitete zahlreiche Angebote, die vielen Athlet*innen eine wohn- und sportstättennahe, sportpsychiatrisch-psychotherapeutische Beratung und Behandlung ermöglichten.
Prof. Dr. med. Erich Seifritz ist Direktor und Chefarzt an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich und Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression.
Aufbau
Schon das 11-seitige Inhaltsverzeichnis verweist darauf, dass in diesem Buch sehr viele Themen angesprochen werden – eben das umfassende Wissen aus dem Bereich der Sportpsychiatrie und -psychotherapie. Nach einer Einführung in das Thema und der historischen Einordnung des Themenkomplexes nähert sich das Buch den zentralen Fragen an. Es geht ein auf:
- Wirkfaktoren von Sport und Bewegung
- Grundlagen der Therapie psychischer Erkrankungen
- Sport und Bewegung sowie weitere Behandlungsverfahren
- Entspannungs- und Imaginationsverfahren
- Sport und Bewegung bei psychischen Erkrankungen
- Sport und Bewegung und psychische Gesundheit über die Lebenszeit
- Bergsport
- Sportspezifische psychische Erkrankungen im Freizeitsport
Es schließt ab mit einem Anhang, in dem Fachgesellschaften und Netzwerke der Sportpsychiatrie und -psychotherapie sowie die mehr als 50 Autor*innen des Buches vorgestellt werden.
Inhalt
In 39 Beiträgen widmet sich dieser umfangreiche Band dem Thema Sport und Bewegung bei psychischen Erkrankungen.
Es geht im Einzelnen ein auf: „Sport und Bewegung, Ethik und Recht“, „Biologische Wirkfaktoren“, „Psychische und soziale Wirkfaktoren“, „Therapie psychischer Erkrankungen“, „Grundlagen und Praxis der Sportmedizin: Voraussetzungen und Kontraindikationen für Sport und Bewegung“, „Sport- und Bewegungsverfahren“, „Physikalische Verfahren“, „Sport, Bewegung und Psychotherapie“, „Sport, Bewegung und Psychopharmakotherapie“, „Entspannungsverfahren“, „Entspannungsverfahren“, „Altersdepressionen, leichte kognitive Störungen und Demenzen“, „Kopfverletzungen“, „Substanzgebrauchsstörungen“, „Schizophrenie und andere Psychosen“, „Depressionen und bipolar-affektive Störungen“, „Angststörungen“, „Zwangsstörungen“, „Traumafolgestörungen“, „Schmerzstörungen“, „Essstörungen“, „Schlafstörungen“, „Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen“, „Autismusspektrumsstörungen“, „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS)“, „Störung des Sozialverhaltens (SSV)“, „Störung mit oppositionellem Trotzverhalten (SOT) und intermittierende explosible Störung (IES)“, „Grundlagen der Prävention psychischer Erkrankungen“, „Geschlechtsspezifische Aspekte“, „Kinder und Jugendliche“, „Alter und Altern“, „Menschen mit körperlichen und psychischen“, „Kognition, Sport und Bewegung“, „Therapeutisches Klettern“, „Gestörtes Essverhalten und Essstörungen“, „Muskeldysmorphie“, „Image and Performance Enhancing Drugs (IPED)“, „Sport- und Bewegungssucht“.
Die einzelnen Kapitel umfassen etwa 5 – 20 Seiten und sind im Wesentlichen gleich aufgebaut. Sie stellen kurz das Thema mit all seinen Aspekten vor und ordnen es ein in die Gesamtproblematik im Bereich der Psychiatrie und seiner gesellschaftlichen Bedeutung. Die Beiträge, welche sich mit psychischen Erkrankungen befassen, stellen die Epidemiologie und Ätiophatogenese und die bekannten therapeutischen Verfahren dar, während Beiträge wie z.B. „Alter und Altern“ oder „Kinder und Jugendliche“ eher auf die gesellschaftlichen Aspekte eingehen und Empfehlungen für Therapie und Pädagogik aussprechen.
Beispielhaft werden im Folgenden die Kapitel zu den „Autismusspektrumsstörungen“ und den „Kindern und Jugendlichen“ vorgestellt.
Autismusspektrumsstörungen
Die Autismusspektrumsstörungen werden mit ihren zentralen „Symptomen“, den Störungen in Interaktion und Kommunikation sowie das Vorhandensein von Stereotypien vorgestellt. Die Prävalenz wird zurzeit mit etwa 1 % angegeben, wobei Männer etwa 4-mal häufiger betroffen sind als Frauen. Das Krankheitsbild ist überwiegend genetisch bedingt, genauere Ursachen sind jedoch noch nicht bekannt. Man geht aus von Entwicklungsstörungen neuronaler Netzwerke, welche Auffälligkeiten im Bereich der Exekutivfunktionen, der Theorie of Mind und der Zentralen Kohärenz zur Folge haben. Diese sehr unterschiedlich ausgeprägten Störungen haben vor allem einen starken Einfluss auf die soziale Interaktion, was häufig zu sozialem Rückzug der Betroffenen führt. Verstärkt wird dies, da große Einschränkungen auch im Bereich der Sprache vorhanden sind.
Die Diagnosestellung erfolgt ausschließlich klinisch. Sie wird durch Beobachtung in spezifischen Situationen, durch Fragebögen und strukturierte Interviews erstellt.
Da Autismus nicht heilbar ist, erfolgt die Therapie „prinzipiell symptomorientiert und umfasst sozialintegrative, psychotherapeutische und pharmakologische Maßnahmen sowie Frühförderung“ (S. 318). Ziele sind dabei eine Verbesserung der Kommunikation und der Fähigkeiten in der Sprache und der sozialen Kompetenzen, sowie der Abbau von Ritualen und Stereotypien. Da Menschen mit Autismus häufig auch motorisch eingeschränkt sind und aufgrund ihres sozialen Rückzugs auch vermindert körperlich aktiv sind, ist die Teilhabe an sportlichen Angeboten notwendig und sehr hilfreich. Studien zeigen, dass durch Sportangebote eine Verbesserung der sozialen Kompetenzen und der kognitiven Fähigkeiten erreicht wird.
Zu beachten ist, dass das Sport- und Bewegungsangebot für Menschen mit Autismus einen speziellen Zugang voraussetzt, um den Bedürfnissen der Betroffenen nach klaren, eindeutigen und verlässlichen Abläufen gerecht zu werden.
Kinder und Jugendliche
Die Sporttherapie im Sinne einer bewegungstherapeutischen Maßnahme, versucht durch Sport „gestörte körperliche, psychische und soziale Funktionen zu beeinflussen“ (S. 365). Insbesondere spielen diese Angebote in der Behandlung von psychischen Störungen in der stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie eine große Rolle. Sie sind wichtige Bausteine im Rahmen einer multimodalen Behandlung. Historisch spielten diese Angebote zunächst eine Rolle bei der Behandlung motorische Störungen. Erst in der Mitte des letzten Jahrhunderts gab es Ansätze, Bewegung als psychotherapeutisches Mittel einzusetzen. Dazu gehörten beispielsweise die Tanztherapie und die Konzentrative Bewegungstherapie. „Zudem wurde mit der psychomotorischen Übungsbehandlung ein ganzheitlich ausgerichteter, erlebnis- und behandlungsorientierter Förderansatz entwickelt“ (S. 365). In der Praxis zeig sich, dass es bei allen Angeboten zur Anwendung von psychotherapeutischen, pädagogischen und körperlich-übenden Techniken in unterschiedlichem Ausmaß kommt und dass Körperlichkeit einen zentralen Aspekt der Kommunikation ausmacht, da über Sport und Bewegung ein niederschwelliger Zugang zu den Kindern und Jugendlichen möglich ist. Zunehmend finden auch Angebote aus dem Bereich der „Mind-Body-Verfahren“, wie Yoga, Achtsamkeit, Tai-Chi, Qigong, Imaginationen und Entspannungsverfahren, zuletzt auch Verfahren, welche Bewegung und Elemente von Computerspielen nutzen („Exergaming“, „Games for health“), zunehmend Berücksichtigung.
Sport und Bewegung spielt auch in der Prävention eine große Rolle. Die von der WHO empfohlene tägliche Bewegungszeit von 60 Minuten täglich wird von vielen Kindern und Jugendlichen nicht mehr erreicht – mit massiven negativen Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit. Noch uneindeutig sind die Ergebnisse, wenn es um die psychische Gesundheit geht, da unklar ist, welche Faktoren der Sportangebote verantwortlich sind für die psychische Gesundheit. Es muss nicht die körperliche Aktivität an sich sein, es können auch Aspekte wie Ablenkung von der Kernproblematik, Selbstwertsteigerung, Erfolgserlebnisse oder die Einbindung in das Gruppengeschehen bei Mannschaftsspielen sein.
Es gibt noch wenig Studien, welche die Wirksamkeit von Sport und Bewegung in der Therapie nachweisen. Zudem wurden vorhandene Studien in der Regel mit kleinen Stichproben durchgeführt. Am häufigsten wurden positive Effekte beim Krankheitsbild ADHS angeführt. Auch für die Behandlung von depressiven Erkrankungen gibt es ermutigende Ergebnisse bei längerem Trainingszeitraum. Auch bei Autismusspektrumsstörungen „finden sich Hinweise darauf, dass komplexe, auf die typische Symptomatik der Betroffenen abgestimmte Sport- und Bewegungstherapien einen positiven Effekt“ haben (S. 368).
Zahlreiche Verfahren und auch Ergebnisse aus Studien werden aufgezählt, welche für die Erfassung, umschriebener Entwicklungsstörungen der Grob- und Feinmotorik und zur Begleitung entsprechender Fördermaßnahmen geeignet sind. Sie erlauben jedoch keine Rückschlüsse auf die Verbesserung psychischer Auffälligkeiten.
Zu beklagen ist, dass Sport und Bewegung bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen zwar einen bedeutsamen Baustein darstellt, dass es jedoch zu wenig Studien gibt, welche die Wirksamkeit dieser Maßnahmen belegen. Eine zunehmende Evaluation wäre also zu wünschen.
Diskussion
Über 50 Autorinnen und Autoren stellen in diesem Kompendium die Vielfalt an Angeboten von Sport und Bewegung im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie dar. Es werden eine Fülle von Krankheitsbildern dargestellt und die Möglichkeit erörtert, wie mit dem Mittel von Sport und Bewegung auf diese Krankheiten eingewirkt werden kann. Es wird aufgezeigt, dass körperliche Aktivität die Therapie von Depressionen, Angsterkrankungen und weiteren psychischen Erkrankungen unterstützt.
Das Verzeichnis der Autor*innen zeigt, dass die einzelnen Kapitel von Fachkräften geschrieben wurden, die fundiertes Wissen in der Theorie aber auch lange Erfahrungen in der Praxis der Behandlung von psychischen Erkrankungen haben. Dadurch wird der Leser*in ein umfassendes Basiswissen (biologische, psychische und soziale Wirkmechanismen) inklusive sportmedizinischer Aspekte vermittelt, sowie Empfehlungen zu Sport und Bewegung in der Prävention und Therapie psychischer Erkrankungen gegeben.
Fazit
Dieses Buch richtet sich an alle Fachkräfte, welche in den stationären oder teilstationären Einrichtungen der Psychiatrie oder der Psychotherapie tätig sind. Sport und Bewegung ist nach wie vor zu wenig bekannt und anerkannt. Mit den beiden Lehrbüchern haben Claussen und Seifritz einen guten Beitrag geleistet, den Weg für Bewegung und Sport in die Psychiatrie zu bereiten.
Rezension von
Dr. Richard Hammer
Dipl. Motologe
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Zitiervorschlag
Richard Hammer. Rezension vom 27.08.2024 zu:
Malte Christian Claussen, Erich Seifritz (Hrsg.): Lehrbuch der Sportpsychiatrie und -psychotherapie. Hogrefe AG
(Bern) 2024.
ISBN 978-3-456-86069-5.
Band 2: Sport und Bewegung bei psychischen Erkrankungen.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32148.php, Datum des Zugriffs 15.09.2024.
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