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Schahrzad Farrokhzad, Birgit Jagusch: Extrem rechte und rassistische Gewalt

Rezensiert von Prof. Dr. Constantin Wagner, Rümeysa Senel, 03.09.2024

Cover Schahrzad Farrokhzad, Birgit Jagusch: Extrem rechte und rassistische Gewalt ISBN 978-3-7799-7778-0

Schahrzad Farrokhzad, Birgit Jagusch: Extrem rechte und rassistische Gewalt. Auswirkungen - Handlungs- und Bewältigungsmuster - Konsequenzen. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2024. 334 Seiten. ISBN 978-3-7799-7778-0. D: 30,00 EUR, A: 30,90 EUR.
Reihe: Bildung in der Migrationsgesellschaft - 1. In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779966265.

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Thema

Das Buch behandelt Auswirkungen von extrem rechter und rassistischer Gewalt auf Betroffene und ihre Bewältigungsstrategien. Zusätzlich werden Fachkraftperspektiven und bisherige institutionelle Handlungsstrategien untersucht sowie aufgrundlage dieser Empirie Impulse zu einer Weiterentwicklung von Handlungskonzepten in Bildungs- und Beratungskontexten gegeben. Den Erfahrungen, Perspektiven und Strategien der von extrem rechter und rassistischer Gewalt betroffenen Personen wird dabei viel Raum gegeben, da ein zentrales Ziel der Publikation ist, Ausmaß und Auswirkungen extrem rechter und rassistischer Gewalt auf das Alltagsleben von Betroffenen zu analysieren und sichtbar zu machen. Da in Deutschland – auch in der sozialwissenschaftlichen Forschung – eine systematische und breit geführte Debatte über die Auswirkungen dieser Gewaltform sowie institutionelle Umgänge mit derselben weitgehend fehlt, stößt das Buch in eine Forschungslücke und liefert wichtige Erkenntnisse für Theorie und Praxis Sozialer Arbeit.

Autorinnen

Beide Autorinnen sind Professorinnen am Institut für Migration und Diversität der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften an der Technischen Hochschule Köln. Das Buch ist unter der Mitarbeit von Younes Alla, Julia Brick, Saloua Mohammed Oulad M’Hand, Jessica Rehrmann, Anne Broden, Jinan Dib und Anno Kluß entstanden.

Entstehungshintergrund

Das Buch wurde im Rahmen des Forschungsprojekts „amal – Auswirkungen extrem rechter und rassistischer Gewalt auf das Alltagsleben von Menschen mit Migrationsgeschichte und BPoC in NRW“ geschrieben, welches 2020 bis 2023 vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW gefördert wurde. Es ist innerhalb der Reihe „Bildung in der Migrationsgesellschaft“ (herausgegeben von Schahrzad Farrokhzad, Gudrun Hentges, Lisa Rosen und Susanne Spindler) erschienen.

Aufbau

Nach der Einleitung und der Vorstellung des Projektkonzepts werden theoretische Ankerpunkte dargelegt. Hierfür werden Verständnisse von Gewalt, Rassismus und Rechtsextremismus diskutiert und auf Viktimisierungsprozesse eingegangen. Mit der Erörterung des Forschungsstandes wird das Forschungsdesiderat deutlich; die Autor*innen tragen die (wenigen) empirischen Ergebnisse zu Ausmaß, Formen, Praxen, Orten und Auswirkungen sowie institutionellen Umgängen mit extrem rechter und rassistischer Gewalt zusammen. Es folgt eine ausführliche Darstellung des empirischen Vorgehens, in dem das Mixed-Methods-Design vorgestellt, plausibilisiert und reflektiert wird. Auch forschungsethische Überlegungen sind Teil dieses Abschnitts. Im Anschluss daran wird die Empirie – untergliedert in mehrere Kapitel – dargestellt. Zunächst geht es um Formen, Praxen und Kontexte extrem rechter und rassistischer Gewalt; dann um Auswirkungen derselben und schließlich um Handlungs- und Bewältigungsmuster. Der letzte Abschnitt zur Empirie beschäftigt sich mit institutionellem Handeln im Kontext von Rassismus und rechter Gewalt. Im letzten Kapitel erfolgt ein Resümee und Ausblick.

Inhalt

In der Einleitung wird verdeutlicht, warum das Thema höchst relevant ist. Darin wird dargelegt, dass „in Deutschland täglich drei bis vier rechts, rassistisch oder antisemitisch motivierte Gewalttaten verübt“ (S. 9) werden. Die Autor*innen arbeiten heraus, dass extrem rechte und rassistische Gewalt mitunter prägend für die Biografien der Gewaltbetroffenen sind. Sie legen dabei ein weites Verständnis von Gewalt zugrunde, welches sich nicht auf physische Gewalt beschränkt, sondern auch psychische, sexualisierte, kulturelle und strukturelle Gewalt beinhaltet. Der Begriff „extreme Rechte“ stellt für die Autor*innen ein „Sammelbegriff für verschiedene ideologische Strömungen dar” (S. 24); Rassismus wird als Kernelement solcher Ideologien verstanden.

Nachdem deutlich wird, dass es keinen Lebensbereich und Ort gibt, in dem Betroffene a priori vor potenziellem Rassismus geschützt sind, wird der Fokus auf institutionelle Kontexte (Formale Bildung, Behörden, Gesundheitswesen und Soziale Arbeit) gelegt. Bezüglich Sozialer Arbeit heißt es, diese sei durch ein Paradox gekennzeichnet, weil sich einerseits „unisono ein Bekenntnis dazu [finde], Rassismus abzulehnen und zu bekämpfen; […] Gleichzeitig finden täglich Formen rassistischer Ausgrenzung statt” (S. 41). Doch auch in der Schule, im öffentlichen Raum oder am Arbeitsplatz rekonstruieren die Autor*innen Mechanismen symbolischer Ausweisung und damit der „Entheimatung“.

Bezüglich Formen, Praxen und Kontexten extrem rechter und rassistischer Gewalt kommen die Autorinnen zu dem Ergebnis, dass rein quantitativ Alltagsrassismus ohne erkennbaren extrem rechten Hintergrund den Alltag von negativ Betroffenen dominiert (S. 165). Rassismus wird insbesondere aufgrund ethnischer und religiöser Zuschreibungen (hier vor allem antimuslimischer Rassismus) erlebt.

Die Auswertung der qualitativen Erhebung zeigt, dass (1) körperliche, (2) soziale und ökonomische, (3) psychische und psychosomatische sowie (4) bildungs- und berufsbiografische Auswirkungen bei den negativ betroffenen Personen zu beobachten sind. Als besonders dominant zeigen sich Formen psychischer Gewalt. Die Interviews verdeutlichen die teils erheblichen Auswirkungen auf die körperliche und psychische Gesundheit der betroffenen Personen – diese reichen von kurzzeitigen Irritationen bis zu massiven psychischen und psychosomatischen Folgen (S. 206).

Die Handlungs- und Bewältigungsmuster von Betroffenen werden von den Autor*innen in „leise“ und „laute“ Muster unterschieden. Die Auswertung ergibt ferner, dass es für Betroffene schwer sein kann, sich zur Wehr zu setzen, weil 1. die Gewalt oft im Kontext von Abhängigkeitsverhältnissen erfahren wird, 2. sekundäre Viktimisierungen stattfinden und 3. der soziale Nahraum betroffen ist. Ein weiteres wichtiges Ergebnis ist, dass Betroffene Rückzug bisweilen als Selbstschutz definieren und “leise” Strategien nicht als negativ deuten, wohingegen Fachkräfte „leise“ Strategien (wie Rückzug) häufig als Resignation werten (S. 255).

Zur (Verhandlung von) Gewalt im institutionellen Kontext arbeiten die Autor*innen heraus, dass Fachkräfte sowohl von Gewalt, die Adressat*innen widerfährt berichten, als auch von Gewalt, die sich innerhalb der Einrichtung selbst zuträgt. 73 Prozent der Fachkräfte mit Rassismuserfahrungen gaben an, im beruflichen Alltag rassistische oder rechtsextreme Gewalt in Bezug auf sich oder Kolleg*innen erlebt oder beobachtet zu haben. Die institutionellen Umgänge mit diesem Thema bewegen sich dabei zwischen Ignoranz, Trivialisiserung/​Verharmlosung und Verantwortungsübernahme/​Solidarität.

Die Autor*innen kritisieren, dass es an umfassenden und mehrdimensionalen Schutz- und Rechtekonzepten, bzw. Antidiskriminierungskonzepten fehle. Betroffenenberatungen werden dabei als Kernelemente zur „Etablierung von rassismus- und diskriminierungskritischen Strukturen“ (S. 301 f.) bezeichnet. Fachkräfte, die mit rassistisch vulnerablen Personen arbeiten, hätten häufig ein Problembewusstsein gegenüber extrem rechter und/oder rassistischer Gewalt – es fehlten jedoch strukturell und institutionell verankerte Rechte- und Schutzkonzepte mit nachhaltigen Handlungsstrategien.

Diskussion

Die Triggerwarnung, mit der die Autor*innen ihren Band eingangs versehen, ist durchaus angebracht, denn das empirische Material, welchem viel Raum gegeben wird, ist von Beginn an sehr explizit. Das Buch beinhaltet viele direkte Zitate, was einerseits sehr eindrucksvoll ist und ihn andererseits bisweilen zu keiner einfachen Lektüre werden lässt. Dies gilt allerdings nur in inhaltlicher Hinsicht: Die vielen Zwischenresümees bieten einen guten Überblick; die Untergliederung in Teilkapitel ist gut nachvollziehbar und übersichtlich, sodass es möglich ist, sich mit einzelnen Abschnitten (intensiver) zu beschäftigten, ohne den Kontext zu verlieren.

Das Buch behandelt mehrere Fragen, die aber miteinander in Verbindung stehen. Das Risiko, einige dieser Fragen bzw. Themen nur oberflächlich zu behandeln, realisiert sich hier aber nicht – den Autor*innen gelingt es, ihre sorgfältig erhobene und vielgestaltige Empirie bezüglich unterschiedlicher Punkte auszuwerten. Vor dem Hintergrund der eingangs beschriebenen Forschungslücke bietet die Publikation Grundlagen für weitergehende Auseinandersetzungen in den unterschiedlichen Teilbereichen.

Das Werk sticht ferner durch die überzeugende Beschäftigung mit forschungsethischen Fragen hervor. Reflektiert wurden hierbei Rahmenbedingungen, die Rechte der Beforschten, die Verantwortung dem Thema gegenüber und die Perspektive auf Forschende.

Fazit

Das Buch behandelt ein sehr wichtiges und höchst relevantes Thema, bei welchem zugleich eine erhebliche Forschungslücke besteht. Den Autor*innen gelingt es, hierzu auf breiter empirischer Grundlage wichtige Erkenntnisse für Theorie und Praxis Sozialer Arbeit zu erarbeiten. Die Publikation macht deutlich, dass neben der Anerkennung von extrem rechter und rassistischer Gewalt als relevantes gesellschaftliches Problem die Verstrickung von Institutionen Sozialer Arbeit sowie die Erarbeitung von konkreten institutionellen Handlungsmöglichkeiten ansteht.

Rezension von
Prof. Dr. Constantin Wagner
Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Heterogenität an der Universität Mainz
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Rümeysa Senel
Doktorandin an der JGU Mainz, Institut für Erziehungswissenschaft

Es gibt 1 Rezension von Constantin Wagner.
Es gibt 1 Rezension von Rümeysa Senel.

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Zitiervorschlag
Constantin Wagner, Rümeysa Senel. Rezension vom 03.09.2024 zu: Schahrzad Farrokhzad, Birgit Jagusch: Extrem rechte und rassistische Gewalt. Auswirkungen - Handlungs- und Bewältigungsmuster - Konsequenzen. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2024. ISBN 978-3-7799-7778-0. Reihe: Bildung in der Migrationsgesellschaft - 1. In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779966265. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32150.php, Datum des Zugriffs 15.09.2024.


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