Brit Wilczek: Autismus, Trauma und Bewältigung
Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 03.02.2025

Brit Wilczek: Autismus, Trauma und Bewältigung. Grundlagen für die psychotherapeutische Praxis. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2024. 260 Seiten. ISBN 978-3-17-041835-6. 35,00 EUR.
Thema
Das Erscheinungsbild Autismus und vorhandene Aspekte des Erlebens unter den Bedingungen von Autismus weisen in Bezug zu einem Trauma oft starke Ähnlichkeiten auf. Es gab die Hypothese, dass Traumata ursächlich für Autismus seien. Das ist widerlegt. Der Zusammenhang entstand dadurch, dass die autistische Grundstruktur ein erhöhtes Risiko für traumatische Erfahrungen mit sich bringt. Es gibt neuropsychologische und entwicklungspsychologische Zusammenhänge, auch Erfahrungsberichte von Betroffenen spiegeln das.
Im Zusammenhang mit dem Autismus Spektrum kommt es der Psychiatrie und Psychotherapie häufig zu Fehldiagnosen, das liegt ursächlich daran, dass autistische Besonderheiten der Wahrnehmung und des Erlebens bislang noch zu wenig bekannt sind. Nicht selten kommt es zum Scheitern der therapeutischen Zusammenarbeit.
AutorIn
Brit Wilczek ist psychologische Psychotherapeutin. Seit 1989 arbeitet sie mit Menschen im Autismus-Spektrum. Neben Psychotherapie und Beratung für erwachsene Betroffene bietet sie Fortbildung und Supervision an. Sie gibt Erfahrungen an Fachkräfte weiter und in Vorträgen und Publikationen an alle, die sich für das Thema interessieren.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist im Softcover Format erschienen und hat einen Umfang von 260 Seiten, die sich neben Vorwort, Nachwort und Ausblick sowie einem Literaturverzeichnis in vier Kapitel und zahlreiche Unterkapitel sowie sinnvolle Zwischenüberschriften gliedert. Der eng geschriebene Fließtext ist strukturiert, Hervorhebungen und Textboxen lockern auf. Fallvignetten werden durch eine senkrechte Leiste gekennzeichnet und sind dadurch leicht zu finden. Am oberen linken Seitenrand findet sich die jeweilige Kapitelüberschrift und am rechten Seitenrand die Überschrift des jeweiligen Unterkapitels.
- Autismus
- Trauma
- Autismus und Trauma
- Bewältigung – Resilienz, Bewältigungsstrategien und therapeutische Begleitung
Das erste Kapitel stellt das Erscheinungsbild Autismus in den Mittelpunkt und gibt eine kurze Begriffserklärung, erläutert wird zudem die Entstehung und der Begriff Autismus-Spektrum anhand verschiedener Aspekte wie z.B. der multifaktoriellen Genese und Vielfalt der Ausprägungen sowie dem neurobiologisch-entwicklungspsychologisches Modell. Die neurologischen Besonderheiten in Hinblick auf die psychische und sozio-emotionale Entwicklung werden mit der sozio-emotionalen Entwicklung beim neurotypischen Kind gegenübergestellt.
Es folgt der Hinweis auf zwei Modelle: Das Drei-Ebenen-Modell und das Zwei-Welten-Modell. Beschrieben werden auch spezifische Aspekte autistischen Erlebens, bei dem die Welt als überwältigendes Chaos wahrgenommen wird. Das Anders-Sein hat eine grundlegende Unsicherheit zur Folge, diese geht beispielsweise mit folgenden Fragen einher: Wer bin ich? Bin ich „richtig“? Was wird erwartet? Ist alles in Ordnung? Dazu kommt ein Gefühl der Unvorhersehbarkeit im Sinne von „Jederzeit kann etwas Unvorhergesehenes passieren und alles anders sein“.
Auch typisch ist das Erleben von Fremdbestimmung wie „ich verstehe nicht warum und wozu …“. Nicht selten werden traumatische Erfahrungen von Abwertung, Mobbing und Gewalt erlebt, die ungeklärt und unerklärlich bleiben. Wilczek nennt dieses Erleben das „Geworfen-Sein auf sich selbst“. Dieses Erleben hat Auswirkungen auf die Entwicklung der persönlichen und sozialen Identität, auf den Selbstwert, es geht mit Selbstzweifeln bis zum Selbsthass einher. Es gibt zahlreiche Klischees, Vorurteile und Stigmatisierungen, deren Folgen in sozialen und therapeutischen Kontexten werden angesprochen. Gleichzeitig werden spezifische Ressourcen und autistische Bewältigungsstrategien reflektiert.
Das zweite Kapitel Trauma beginnt mit Begriffsklärungen und Einordnungen sowie einer Differenzierung von Traumabegriffen. Hier ist auch eine diagnostische Einteilung von Traumafolgestörungen zu finden und es wird beschrieben, wie ein psychisches Trauma entsteht. Benannt werden entscheidende Faktoren für traumatisches Erleben, dabei gilt es auch, das individuelle Erleben potentiell traumatischer Ereignisse in den Blick zu nehmen.
Bei der Bewältigung von Traumafolgestörungen wird die Kommunikation als ein kritischer Faktor der Entstehung gesehen. Es gibt Faktoren, die Kommunikation erschweren oder unmöglich machen, es werden auch Auswirkungen gescheiterter Kommunikation benannt. In diesem Zusammenhang weist die Autorin auf die Wirksamkeit gelingender Kommunikation über das Traumaerleben hin (gehört, verstanden und ernst genommen werden).
Die Auswirkungen traumatischer Erfahrungen auf die Psyche und das sozio-emotionale Erleben werden unter drei Aspekten besprochen: Intrusion, Konstriktion und die sog. hyperarousal/​vegetative Übererregung. Intrusion meint z.B. quälende Gedanken, die sich ungewollt ins Bewusstsein drängen dazu gehören auch Emotionen, Albträume oder flashbacks als besonders massive Form der Intrusion. Zu Konstriktion im Sinne von Verengen oder Einschnüren gehören Vermeidungsstrategien, Dissoziation oder emotionale Taubheit. Als dritten Aspekt wird die hyperarousal/​vegetative Übererregung benannt. Traumatisches Erleben wirkt nicht nur auf die Psyche sondern auf den gesamten Organismus (nachzulesen bei Porges und seiner „Polyvagaltheorie“). Zu beachten sind die zentralen Funktionen des Autonomen Nervensystems sowie das System des Vagus-Nervs.
Als zusätzliche Traumafolgen bei einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung (kPTBS) werden Affekt, negatives Selbstkonzept und Probleme der interpersonellen Beziehungsgestaltung genannt (Reddemann oder Bessel A. Van der Kolk beschreiben dieses Phänomen in ihren zahlreichen Büchern). Eine Rezension zum Buch „Verkörperter Schrecken. Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann“ von Bessel A. Van der Kolk liegt vor: www.socialnet.de/rezensionen/​24829.php
Auf diesen Grundlagen können im Körper und im Körpererleben Traumafolgespuren identifiziert werden wie Essstörungen oder Schmerzsyndrome. Unter diesen Perspektiven werden (Trauma‐)Symptome als Überlebens- und Bewältigungsstrategien verstanden. Einführend beschreibt die Autorin die Funktionen des Autonomen Nervensystems (ANS) und die Funktionalität von Stressreaktionen. Alle Menschen haben eine große Gemeinsamkeit in Bezug auf ihre Bewältigungsstrategien: sie haben das grundlegende Bedürfnis überleben zu können, dazu gehören auch grundsätzlich ähnliche Funktionsweisen und Möglichkeiten diese existentiellen Bedürfnisse zu befriedigen und sich vor Bedrohung zu schützen (vgl. S. 141). Damit wird klar, dass Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben, nicht anders sind als neurotypische Menschen. „Der Unterschied liegt in der erhöhten Vulnerabilität durch die besondere Wahrnehmung und in der größeren Notwendigkeit, schon frühzeitig für die eigene Regulation und Sicherheit zu sorgen.“ (S. 141). Das Kapitel schließt mit Ausführungen zur Funktionalität und Dysfunktionalität von Bewältigungsstrategien im Lebensverlauf, die nur im Kontext innerer und äußerer Systeme eingeordnet werden können.
Einen Zusammenhang von Autismus und Trauma (Kap 3) sieht die Autorin in der erhöhten Vulnerabilität. Mehrere Faktoren sind entscheidend: 1. Faktor: Besonderheiten der Reizverarbeitung, 2. Faktor: Besonderheiten im Denken – Irritation, Befremden, was auch als sog. „Wrong-Planet“ bezeichnet wird. 3.Faktor: Kein sozialer Autopilot, was zu Irritationen in der Interaktion, in Konflikten und Kontaktabbrüchen mündet. 4. Faktor: Das Erleben von Anders-Sein: Wer auffällt, wird schnell zum Opfer von Entwürdigung und Gewalt, 5. Faktor: Die Gefahr von Missbrauch, Ausbeutung und anderen Übergriffen, oft fehlt die Einschätzung der Situationen, sie werden vom Betroffenen nicht oder zu spät erkannt sowie der 6. Faktor: Das Trauma des unlösbaren inneren Konflikts.
In einem weiteren Unterkapitel werden Parallelen zwischen einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) und (k)PTBS in Bezug auf Ähnlichkeiten im Erscheinungsbild und im Erleben sowie der erkennbaren Symptomatik beschrieben. Anschließend werden Gemeinsamkeiten des Erlebens und der Bewältigungsstrategien sowie menschliche Gemeinsamkeiten der Erfüllung der Grundbedürfnisse und deren Bewältigungsstrategien betrachtet.
Besondere Bedeutung haben differentialdiagnostische Überlegungen, in diesem Zusammenhang ist Wachsamkeit von Nöten. Das dritte Kapitel endet mit Hinweisen zu Resilienz stärkenden Wechselwirkungen zwischen ASS und (k)PTBS und spezifischen Ressourcen durch autistische Verarbeitungsweisen, Bewältigungsstrategien und Erfahrungshintergründe.
Das Buch schließt mit dem vierten Kapitel Bewältigung – Resilienz, Bewältigungsstrategien und therapeutische Begleitung. Eine Kernfrage lautet: wie schaffen es Menschen mit autistischem Erfahrungshintergrund zu überleben und sich immer weiter einen Weg durchs Leben zu suchen, sich -trotz aller Anpassung im Kern- selbst zu erhalten und den eigenen Werten treu zu bleiben? Wilczeks Spurensuche beginnt bei Aspekten von: a) Resilienz und Traumabewältigung bei Menschen im Autismus-Spektrum (auch im Hinblick auf Resilienz schwächende und stärkende) Faktoren, b) Spezifische Ressourcen zur Resilienz und Traumabewältigung von Menschen im Autismus-Spektrum, c) mit zwei spezifischen Resilienzfaktoren sowie d) autistischen Bewältigungsstrategien als Funktionen zur Traumabewältigung.
Das vierte Kapitel endet mit Schlussfolgerungen für die psychotherapeutische Praxis in Bezug auf die Klientenzentrierung insbesondere das Erkennung und die Anerkennung einer autistischen Grundstruktur als wichtige Faktoren für einen fruchtbaren therapeutischen Prozess, die Bedeutung von Psychoedukation über Autismus und Trauma (Top-down), dem Ausdruck, Kommunikation und Würdigung als Schlüssel zur Bewältigung erlittener Traumata und aktueller Herausforderungen, der Ressourcenorientierung zur Verbesserung von Selbstwert, Selbstwirksamkeit und Selbstsicherheit, der Erschließung konkreter Körpererfahrung als unentdeckte Ressource in der Psychotherapie (Bottom-up), den Wirkfaktoren in der Psychotherapie Betroffener mit ASS – und mit Traumafolgestörungen und einem Weg aus dem autistischen Dilemma zur Entwicklung einer neuen, stimmigen und ganzheitlichen Identität – auch als Basis für Erfahrungen der Sicherheit in Verbundenheit, denn – und so lautet das Fazit- „alles dreht sich um Sicherheit“ (S. 211).
Diskussion
Fehldiagnosen aufgrund mangelnder Kenntnisse zu autistischen Besonderheiten der Wahrnehmung und des Erlebens bringen ein erhöhtes Risiko für traumatische Erfahrungen mit sich. Auch kommt es vor, dass das Erscheinungsbild und vorhandene Aspekte des Erlebens unter den Bedingungen von Autismus Ähnlichkeiten in Bezug zu einem Trauma aufweisen. Doch mit der Einordnung von Autismus als tiefgreifende Entwicklungsstörung ist die Hypothese, Autismus entstünde durch ein Trauma vom Tisch.
Die Autorin hat sich zum Ziel gesetzt, wesentliche Themen und Begrifflichkeiten zum Erscheinungsbild Autismus darzustellen und in die Erfahrungswelt von Menschen mit Autismus in der Art einzuführen, dass diese auch für Neurotypische verständlich sind.
Eine wirksame Psychotherapie traumatisierter Menschen im Autismus-Spektrum ist möglich, wenn die besonderen Herausforderungen, die spezifischen Bewältigungsstrategien sowie die oft besondere Resilienz der Klientinnen und Klienten gewürdigt und in die Therapie einbezogen werden.
Gelungen ist der Aufbau des Buches, das im vierten Kapitel mit Aussagen zur Bewältigung und Bewältigungsstrategien schließt. Zu Recht stellt sich immer wieder die Frage: wie schaffen es Menschen mit autistischem Erfahrungshintergrund zu überleben und sich immer weiter einen Weg durchs Leben zu suchen, sich -trotz aller Anpassung- selbst zu erhalten und den eigenen Werten treu zu bleiben?
Diese Leistung zeugt von einer enormen Widerstandskraft (Resilienz). In diesem letzten Kapitel begibt die Autorin sich auf Spurensuche, sie beleuchtet zentrale Aspekte
- von Resilienz und Traumabewältigung bei Menschen im Autismus-Spektrum (auch im Hinblick auf Resilienz schwächende und stärkende) Faktoren,
- von spezifischen Ressourcen zur Resilienz und Traumabewältigung von Menschen im Autismus-Spektrum,
- mit zwei spezifischen Resilienzfaktoren sowie
- mit autistischen Bewältigungsstrategien als Funktionen zur Traumabewältigung.
Die Schlussfolgerungen der Autorin für die psychotherapeutische Praxis lautet: es braucht eine Klientenzentrierung, die darauf abzielt, die autistische Grundstruktur als wichtigen Faktor für einen fruchtbaren therapeutischen Prozess zu erkennen und anzuerkennen.
Große Bedeutung hat zudem die Psychoedukation über Autismus und Trauma, auch ist die Kommunikation und der Ausdruck zu würdigen und als Schlüssel zur Bewältigung erlittener Traumata und aktueller Herausforderungen zu verstehen. Die Orientierung auf Ressourcen zielt auf die Verbesserung von Selbstwert, Selbstwirksamkeit und Selbstsicherheit und der Erschließung konkreter Körpererfahrung als unentdeckte Ressource in der Psychotherapie. Das Ziel: einen Weg aus dem autistischen Dilemma zur Entwicklung einer neuen, stimmigen und ganzheitlichen Identität – auch als Basis für Erfahrungen der Sicherheit in Verbundenheit zu finden, denn – und so lautet das abschließende Fazit- „alles dreht sich um Sicherheit“ (S. 211).
Das Buch ist adressiert an Menschen, die im therapeutischen Kontext tätig sind. Ich persönlich arbeite sowohl als Therapeutin als auch in der (Päd-)Agogik und auch in diesem Handlungsfeld gelten die Kernaussagen des Buches. Es geht um Sicherheit, Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit sowie dem Erleben von Selbstwirksamkeit und Selbstsicherheit.
Wir Professionelle gestalten das Umfeld/die Umwelt und die Begegnungen. Wir gestalten die Kommunikation. Bei der Bewältigung von Traumafolgestörungen wird die Kommunikation als ein kritischer Faktor der Entstehung gesehen. Es gibt Faktoren, die Kommunikation erschweren oder unmöglich machen, es werden auch Auswirkungen gescheiterter Kommunikation benannt. Das gilt auch für Menschen, die Sprachhemmnisse haben. Es ist von zentraler Bedeutung, das Verhalten lesen zu können, denn Menschen verhalten sich subjektiv sinnvoll.
Aus meiner Beratung von Institutionen und den darin tätigen Mitarbeitenden weiß ich, dass viele Möglichkeiten wie die Gestaltung eines autismusfreundlichen Umfeldes zwar vorhanden sind, aber ungenutzt brach liegen. Diese Schätze gilt es zu bergen und damit Lernen und Entwicklung zu ermöglichen. Sie zu erkennen und umzusetzen liegt in unserer professionellen Verantwortung!
Fazit
Wilczek ist es gelungen, zwei sehr komplexe Themen in anschaulicher Weise darzustellen und miteinander einen Zusammenhang herzustellen. Dieses Buch ist eine überschaubare Einführung in die Grundthemen Autismus und Trauma sowie Traumafolgestörungen. Die Leserschaft erhält neue Perspektiven, zudem kann das Buch -im Sinne der Autorin- als Nachschlagewerk genutzt werden. Aufbau und Struktur des Buches sind dabei sehr hilfreich, Fallvignetten veranschaulichen lebensnah.
Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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