Vera Bernard-Opitz, Anne Häußler: Kinder mit Autismus fördern
Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 24.05.2024

Vera Bernard-Opitz, Anne Häußler: Kinder mit Autismus fördern. Material für visuell Lernende. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2024. 4., erweiterte und überarbeitete Auflage. 147 Seiten. ISBN 978-3-17-041393-1. 45,00 EUR.
Thema
Strukturierte Methoden bieten Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum Störungen Lösungen bei Lern- und Entwicklungsproblemen. Von zentraler Bedeutung sind dabei visuelle Hilfen. Anhand zahlreicher Farbfotos wird eine Vielzahl von praktischen Anregungen, Strategien und Materialien zur Erstellung von Materialien und Aufgabenformaten sowie zur Förderung von Motivation und Arbeitsverhalten und Entwicklung konkreter Fähigkeiten gegeben. Auch der Umgang mit Verhaltensproblemen wird thematisiert.
AutorIn
Dr. Vera Bernard-Opitz arbeitete als Klinische Psychologin und Verhaltenstherapeutin (VT, BCBA-D) in Deutschland, Singapur und Kalifornien. Ihr Schwerpunkt ist die Verhaltenstherapie, die sie für Menschen mit Autismus fruchtbar gemacht hat.
Dr. Anne Häußler arbeitet als Pädagogin und Psychologin. Sie hat den TEACCH Ansatz in Deutschland bekannt gemacht. Beide Autorinnen sind international anerkannte Autismus Spezialistinnen.
Aufbau und Inhalt
Das vollständige Inhaltsverzeichnis findet sich auf der Homepage der Deutschen Nationalbibliothek.
Das Buch hat ist im DIN A 4 Softcover Format erschienen und hat einen Umfang von 220 Seiten, die sich neben Einführung und Literaturverzeichnis in sechs Kapitel und zahlreiche Unterkapitel gliedern. Der Fokus jeder Aufgabe wird in einem kurzen Text erläutert, es werden Förderziele genannt und diese werden mit Abbildungen ergänzt. Zur besseren Orientierung ist auf der linken Seite die jeweilige Kapitelüberschrift abgedruckt und rechts der Titel des Unterkapitels.
Die Einführung erklärt die Arbeitsweise und woher die verwendeten Abbildungen stammen: zum einen aus dem Fundus der Autorinnen, zum anderen aus der Arbeit von Eltern, Therapeut*innen und Teilnehmenden aus Workshops.
Ebenen der Strukturierung stehen im Mittelpunkt des zweiten Kapitels: a) räumliche Strukturierung, b) zeitliche Strukturierung. c) Strukturierung selbstständiger Beschäftigung sowie d) Material- und Aufgabengestaltung.
Das dritte Kapitel Strukturierung der Rahmenbedingungen beinhaltet Erklärungen zur räumlichen und zeitlichen Strukturierung sowie die Gestaltung von Situationen zur selbstständigen Beschäftigung.
Prototypen in der Aufgabengestaltung stehen im Mittelpunkt des vierten Kapitels, insbesondere Aufgabenformate und Aufgabentypen, Prototypen bei der Entwicklung von Grundfähigkeiten ebenso Zuordnungsaufgaben.
Bei der Gestaltung von Aufgaben, bei Übungen und einzelnen Tätigkeiten (Kapitel 5) sind grundlegende Fähigkeiten zu beachten, dazu gehören das Einräumen, bei dem verschiedene Dinge in denselben Behälter zu legen sind, das Auseinandernehmen, dabei werden einzelne Teile voneinander gelöst, das Zusammenfügen, d.h. einzelne Teile werden miteinander verbunden. Ebenso gehört die Feinmotorik und Auge-Hand-Koordination dazu, konkret das Zuordnen von a) Gegenständen, b) Objekten, c) Bildern, d) nach Farben und e) nach Formen sowie f) nach Größen, h) nach Längen und i) nach Kategorien. Auch Kulturtechniken werden vorgestellt wie Zahlen, Mengen und Rechnen, Buchstaben und Lesen sowie lebenspraktische Fähigkeiten mit dem Augenmerk auf die Selbstversorgung, Haushaltstätigkeiten und Verpackung/​Montage. Des Weiteren werden Spielfähigkeiten, Kommunikation und soziales Verhalten thematisiert. Dieses Kapitel endet mit dem Aufbau von Motivation und dem Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen.
Das letzte Kapitel „Ressourcen und Materialhinweise“ listet Bezugsquellen für Fördermaterialien und deutschsprachige sowie englischsprachige Bücher mit praktischen Ideen auf.
Diskussion
Im Vergleich zur zweiten Auflage aus 2013 wurde diese hier vorliegende 4. Ausgabe erweitert und überarbeitet. Auch hat sich der Titel verändert. Statt „Praktische Hilfen für Kinder mit Autismus Störungen (ASS)“ lautet der Titel „Kinder mit Autismus fördern“. Zudem ist es in einer anderen Formatgröße erschienen. Auch innerhalb des Fließtextes hat sich die Struktur geändert. Nach einem kurzen einführenden Text werden Fotos/​Bilder gezeigt, die die Ausführungen zu Zielbereichen unterstreichen. Diese Ziele werden kurz beschrieben. In jedem einzelnen Kapitel beginnt die Nummerierung von vorn. Teilweise wurden im Vergleich zur Ausgabe aus dem Jahr 2013 neue Abbildungen hinzugefügt.
Anliegen der Autorinnen ist möglichen Lern- und Entwicklungsproblemen zu begegnen, eine zentrale Aufgabe in der Arbeit mit Menschen aus dem Autismus-Spektrum, denn sie sind visuelle Lerner. Neben den Erklärungen grundlegender Prinzipien der Visualisierung und Strukturierung werden praktische Aufgabenbeispiele, Handlungsstrategien und Anregungen vorgestellt, die bestimmten Organisationsprinzipien folgen.
Kern der Materialien bilden Arbeitsaufgaben, am Anfang des Buches finden sich auch Beispiele zeitlicher und räumlicher Strukturierung. Um eine Aufgabe zu bewältigen muss verstanden werden, was genau zu tun ist. Die meisten Aufgaben sind derart strukturiert, dass sie möglichst selbsterklärend sind und deutlich machen, wann sie geschafft wurden. Diese Form der Strukturierung unterstützt positiv das Erleben von Erfolg und der eigenen Wirksamkeit. Die Themen Kommunikation und Sozialverhalten sowie Motivationsaufbau und Verhaltensmanagement sind am Ende des Buches leider nur angerissen worden, was vielleicht daran liegt, dass das Buch vor allem für die Zielgruppe jüngerer Kinder geschrieben wurde.
Bedauerlicherweise zeigt der Vergleich der beiden Auflagen, dass im Teil der Aufgabenbeispiele in der aktuell vorliegenden 4. Auflage auf Übersichtstabellen verzichtet wurde, sodass die Aufgaben nicht mehr eingeordnet werden.
Zielgruppe des Buches sind Kinder, ergänzen möchte ich, dass diese Beispiele auch für andere Altersstufen angepasst werden können und damit auch über die genannte Altersangabe (2-6 Jahre) hinaus genutzt werden können. Die Aufgaben können auch in anderen Lebensbereichen, also außerhalb von klassischen Fördersettings eingesetzt werden, denn in der Begleitung von Menschen aus dem autistischen Spektrum ist stets zu prüfen, welche Interessen das Individuum hat.
Das Buch ist mittlerweile in vierter Auflage erschienen, was ein Hinweis darauf ist, dass es eine interessierte Leserschaft gefunden hat, auch wenn es mit 45 EUR eher in das hochpreisige Segment einzuordnen ist. Es eignet sich vor allem als Nachschlagewerk, um einen Überblick über praktisch erprobte Förderbeispiele zu erhalten. Der Aufbau des Buches ist übersichtlich und klar strukturiert, auf lange Erläuterungstexte wird verzichtet. Um die Beispiele und Anregungen aus diesem Buch förderlich einzusetzen sollte man allerdings über grundlegende Kenntnisse zur Diagnose Autismus Spektrum Störung verfügen. Zudem sollten Prinzipien der Arbeit nach der TEACCH-Philosophie bekannt sein, denn in der Einleitung werden diese nur kurz angerissen.
Hervorzuheben ist, dass die in den Aufgaben verwendeten Materialien größtenteils aus Alltagsmaterialien hergestellt wurden. Dieses niedrigschwellige Prinzip (der einfachen Beschaffung und Bereitstellung dieser Art von Materialien) war und ist den Begründern des TEACCH Ansatz ein wichtiges Anliegen. Statt des Einsatzes spezieller und meist teurer Therapiematerialien (wie es bei anderen Ansätzen häufig der Fall ist) wird Wert auf die Nutzung einfacher Alltagsgegenstände gelegt, sodass die Begleitung problemlos z.B. auch im häuslichen Umfeld von den Bezugspersonen aufgegriffen und weitergeführt werden kann. Ein weiterer Aspekt ist positiv bedeutsam: Anders als bei anderen Begleitmethoden ist es nicht unbedingt erforderlich, dass Fördereinheiten zeitintensiv und ausschließlich von speziell ausgebildeten Expert*innen wie es beispielsweise beim ABA (engmaschige Begleitung von 40 Stunden/​Woche im 1:1 Setting) der Fall ist.
Fazit
Das Buch gehört in die Kategorie „must have“, denn es ist ein Quell an Ideen und Möglichkeiten. Die Herstellung von Fördermaterialien und Hilfsmitteln wird durch das Wissen und Erfahrungen anderer angeregt und kann leicht übertragen werden.
Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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