Daniel Kieslinger, Katharina Metzner et al. (Hrsg.): Die inklusive Kinder- und Jugendhilfe
Rezensiert von Prof. Dr. Marion Baldus, 14.08.2024
Daniel Kieslinger, Katharina Metzner, Judith Owsianowski, Florian Rück, Wolfgang Schröer (Hrsg.): Die inklusive Kinder- und Jugendhilfe. Einfach erklärt. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2024. 36 Seiten. ISBN 978-3-7841-3699-8. D: 10,00 EUR, A: 10,30 EUR.
Thema
„Inklusion muss schon jetzt anfangen!“ (S. 8). „Inklusion ist schon jetzt möglich!“ (S. 28). Mit diesen beiden Zitaten, die – als Imperative formuliert – die Dringlichkeit der Umsetzung von Inklusion in der Kinder- und Jugendhilfe auch sprachlich markieren, ist das Thema des Buches paradigmatisch umrissen. Zwischen den Imperativen entfaltet sich ein Text- und Bildkörper, der Zielsetzung und Prinzipien des im Jahr 2021 verabschiedeten Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) sowie die für das Jahr 2028 geplanten „Hilfen aus einer Hand“ erläutert. Eine zentrale Botschaft des im DIN A 4-Format gestalteten Heftes bildet der Appell an die gemeinsame Verantwortung politischer Gremien, Träger und Netzwerke, 15 Jahre nach der Ratifizierung der UN-Konvention für Menschen mit Behinderung (UNBRK) endlich „vom Reden hin zum inklusiven Handeln“ (S. 28) zu kommen. Dem gesamten Text unterlegt ist die implizite Doppelbotschaft eines paradoxen Umgangs der Gesellschaft mit Inklusion: Einerseits ist sie als menschenrechts-basiertes Paradigma schon lange gesetzlich verankert, andererseits werden nach wie vor Parallelsysteme und trennende Strukturen aufrechterhalten, die Separation und Ausschluss täglich neu generieren. Fakt ist auch 15 Jahre nach der UNBRK: Veränderungsbedarfe bestehen auf allen Ebenen der Gesellschaft, kein Lebensbereich und kein Lebensalter ist davon ausgenommen. Mit dem Fokus auf eine inklusive Kinder- und Jugendhilfeplanung adressiert vorliegender Band die Belange und Bedarfe der jüngsten und vulnerabelsten Generation und setzt sich für ihre Rechte ein. Elemente desKJSG und zentrale Begriffe wie Inklusion, inklusiver Kinderschutz, inklusive Hilfeplanung, beteiligung und Selbstbestimmung werden in einfacher Sprache verständlich erklärt.
Herausgeber:innen
Herausgeber:innen des Bandes sind Daniel Kieslinger, Katharina Metzner, Judith Owsianowski, Florian Rück und Wolfgang Schröer. Daniel Kieslinger ist für den Bundesverband der Caritas Kinder und Jugendhilfe (BVkE) in Freiburg tätig, Katharina Metzner und Florian Rück sind als wissenschaftliche Mitarbeiter*innen an der Universität Hildesheim beschäftigt. Judith Owsianowski arbeitet für den Evangelischen Erziehungsverband e.V. (EREV) mit Sitz in Hannover und Prof. Dr. Wolfgang Schröer hat den Lehrstuhl für Sozialpädagogik an der Universität Hildesheim inne. Vier der hier aufgeführten Herausgeber*innen kennen sich bereits aus dem Modellprojekt „Inklusion jetzt!“, das über einen Zeitraum von vier Jahren unter Mitwirkung von 61 Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie Eingliederungshilfe strategische, organisationale und konzeptionelle Antworten auf die Frage, wie inklusive Kinder- und Jugendhilfe aussehen kann, gesucht hat.
Entstehungshintergrund
Im Mittelpunkt des im Jahr 2020 gestarteten Modellprojekts „Inklusion jetzt!“ stand die Entwicklung von Übergängen, Zusammenlegungen und Neustrukturierungen von Angeboten, Maßnahmen und Organisationsformen der Kinder- und Jugendhilfe. Mit Blick auf die Neuausrichtung des SGB VIII und die für das Jahr 2028 geplanten „Hilfen aus einer Hand“ wurden Entwicklungsbedarfe einer inklusiven Leistungserbringung identifiziert und neue Konzepte umgesetzt. Prozesse und Ergebnisse des Modellprojektes lassen sich in diversen Sammelbänden nachlesen (z.B. Hollweg/​Kieslinger 2022; Kieslinger/​Owsianowski 2023; Kieslinger/​Metzner/​Owsianowski/Rück, Schröer 2023;). Während sich die ersten Publikationen an ein Fachpublikum richteten, adressiert das jetzt erschienene Heft eine heterogene Leser*innenschaft, die auch Service Users und Selbstvertretungen umfasst.
Aufbau und Inhalt
Den Auftakt des Bandes bildet eine Liste von Forderungen, die aus dem oben erwähnten Modellprojekt abgeleitet wurden. Übertitelt mit „Inklusion jetzt! – Forderungen aus dem Projekt“ werden auf zwei DIN A 4-Seiten zehn Forderungen dargestellt, die komplexe Themen wie Inklusion, Verantwortung der Gesellschaft, Beteiligung, Teilhabe, Gesetzesreformen, Mentoring, Qualifizierung und Demokratie in kurzen, appellartigen Sätzen kondensieren. Nach diesem griffigen Einstieg folgt die Einleitung. Hier werden das neue Kinder- und Jugend-Stärkungs-Gesetz (KJSG) und das Ziel des Projekts „Inklusion Jetzt“ auf wenig Text heruntergebrochen und der Kontext für die sich anschließenden folgenden Gliederungspunkte gesetzt:
- Die Bedeutung von „Inklusion“
- Selbstbestimmung junger Menschen
- Inklusive Hilfeplanung
- Inklusiver Kinderschutz
- Mehr Beteiligung und Selbstbestimmung
- Gute Übergänge ohne Lücken
- Zusammenarbeit in Städten und Gemeinden
- Veränderungen in den Organisationen
- Inklusion ist schon jetzt möglich!
- Literaturverzeichnis
- Die Autor*innen
Jeder Gliederungspunkt wird auf jeweils einer DIN A 4 Doppelseite abgehandelt. Dieser zweiseitige Gestaltungsrhythmus durchzieht das gesamte Heft und addiert sich zu einem Gesamtumfang von 32 Seiten. Pro Doppelseite sind ein bis zwei farbig gehaltene Abbildungen eingefügt, die überwiegend Menschen in heterogenen Gruppen in Szenen des Miteinanders skizzieren. Gezeigt werden soziale Kontexte wie Schulen, Einrichtungen, Gemeinden und Organisationen. Vielfalt wird dabei in mehrfacher Hinsicht visuell umgesetzt. Wie in Forderung 3 „Inklusion bezieht sich nicht nur auf Behinderungen – Alle jungen Menschen sollen am sozialen Leben teilhaben können – egal, warum sie bisher ausgeschlossen oder benachteiligt waren“ (S. 8) formuliert, finden sich auf den Abbildungen Personen mit und ohne Behinderung, people of colour sowie Personen mit ethnischen und religiösen Diversitätsmerkmalen. Dieses Prinzip wird jedoch nicht durchgängig eingehalten. So verwundert zuweilen die Gleichförmigkeit der Figuren in Szenen politischer und behördlicher Kontexte.
Die Gliederungspunkte 1. bis 9. unterteilen sich in mehrere Textabschnitte, die mit Zwischenüberschriften übertitelt sind. Um ein Beispiel herauszugreifen: Das Thema „Veränderungen in den Organisationen“ (S. 26–27) umfasst die Abschnitte „Netzwerke“, „Veränderungen bei Trägern“ und „Gemeinsame Verantwortung“. Zwischen den Textabschnitten befinden sich mehrere Abbildungen. Vermieden wird dadurch der Eindruck von Textlastigkeit und/oder zu hoher Informationsdichte. Im Ergebnis entsteht ein Wechsel von Schrift und Bild bei einer gut lesbaren Schriftgröße. Inhalte lassen sich dadurch sowohl in Einzel- als auch Gruppenlektüre Schritt für Schritt erschließen. Die Abbildungen haben nur selten einen visuell erläuternden Charakter; ohne Lektüre des Textes bleiben sie uneindeutig und vielseitig interpretierbar.
Diskussion
Die Neuausrichtung des SGB VIII hat lange auf sich warten lassen. Nach einem ersten Scheitern des Gesetzesvorhabens in 2016 gingen weitere fünf Jahre ins Land, bis die Reform vorlag. In 2028 erfolgt – unter der Voraussetzung, dass das dafür notwendige Bundesgesetz rechtzeitig verabschiedet wird – die Zusammenführung der Leistungen zur inklusiven Lösung – zu „Hilfen aus einer Hand“. Auf Veränderungen, die damit für Anbieter*innen und Adressat*innen der Leistungen einhergehen, bereitet die vorliegende Publikation in gut verständlicher Sprache vor.
Damit Inklusion gelingen kann, braucht es nicht nur Initiativen auf allen Ebenen der beteiligten Akteur*innen, sondern auch Aufklärung und Information der Zielgruppen, die die Hilfeleistungen in Anspruch nehmen: Kinder und Jugendliche, die von einer Behinderung bedroht oder betroffen sind sowie alle junge Menschen, die benachteiligt oder ausgeschlossen werden. Service Usern griffige Informationen und Aufklärung zur Verfügung zu stellen und sie über ihre Rechte und Beteiligungsmöglichkeiten in Kenntnis zu setzen, ist folglich ein unhintergehbarer Aspekt auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft. Mit der neu erschienenen Publikation „Die Inklusive Kinder- und Jugendhilfe. Einfach erklärt“ wird diesem Aspekt Rechnung getragen.
Innerhalb der Neuerscheinungen zum Thema Inklusive Kinder- und Jugendhilfe nimmt die vorgelegte Publikation eine Sonderstellung ein. Das großformatige, schmale Heft steht für einen interessanten Schritt, Inhalte und Zielsetzung des KJSG auf Grundaussagen zu kondensieren und daraus ableitbare Handlungs- und Beteiligungsmöglichkeiten in einfacher Sprache kurz und knapp aufzuzeigen. Veränderungsbedarfe in Organisationen, Städten und Kommunen, aber auch bei den Menschen, die in diesen Kontexten arbeiten, werden angesprochen. Zusammenhänge zwischen der individuellen und strukturellen Ebene von Veränderungsprozessen werden aufgezeigt. Die Autor*innen stellen zudem klar, dass es bei den beteiligten Akteur*innen mehr braucht als Wissen über Inklusion. In Anlehnung an Schönecker et al. 2021 beschreiben sie „Inklusion als Haltung“ (S. 13) und ordnen einer inklusiven Haltung folgende Prinzipien zu (vgl. Schönecker et al. 2021, zit. n. Kieslinger et al. 2024):
- „Niemand wird diskriminiert.
- Die Menschen, die Hilfe brauchen, bestimmen mit.
- Die Menschen werden in ihrer Entwicklung gefördert.
- Die Menschen können möglichst viel selbst bestimmen.
- Ihre Familien und das Lebensumfeld werden mit einbezogen.
- Die Menschen werden vor Gefahren geschützt.“ (S. 13)
Indem sich Kieslinger et al. mit ihrer Publikation nicht nur inhaltlich für Teilhabe, Aufklärung und Selbstbestimmung einsetzen, sondern ein vergleichsweise barrierearmes Heft in einfacher Sprache publizieren, leben sie eine inklusive Haltung vor. Zu dieser gehört nämlich auch der Impetus, wie in Artikel 8 der UNBRK festgehalten, zur Bewusstseinsbildung für die Rechte, Anerkennung und Würde von Menschen mit Behinderungen beizutragen und das Recht der freien Meinungsäußerung, Meinungsfreiheit und den Zugang zu Informationen (Artikel 21) umzusetzen.
Die Autor*innen setzen mit diesem Heft einen wichtigen Impuls, der Strahlkraft entfalten kann. Das A 4-Format, das auf komplizierte Sprache verzichtet und mit einer überschaubaren Anzahl von Seiten auskommt, senkt die Zugangsbarrieren und eignet sich für die Rezeption in unterschiedlichen Settings. Für zukünftige, vergleichbare Publikationsprojekte wäre allerdings eine engere Abstimmung zwischen Texten und Abbildungen wünschenswert. Die sprachliche Überarbeitung stammt von Elke Daus, Freiburg, das Layout von Maike Giese, Köln. Zusätzlich zur Publikation gibt es einen kostenlosen Online-Zugriff über die Lambertus App inside.
Fazit
Die im DIN A 4-Format erschienene Publikation „Die Inklusive Kinder- und Jugendhilfe. Einfach erklärt“ von Kieslinger, Metzner, Owsianowski, Rück und Schröer schafft es, ein komplexes Thema, das entscheidend für das gemeinsame Aufwachsen, Leben und Lernen zukünftiger Generationen in einer Gesellschaft ist, die Barrieren abbaut und Teilhabe und Selbstbestimmung ermöglicht, verständlich darzustellen. Textlicher Inhalt und visuelle Gestaltung des Heftes sind so aufeinander abgestimmt, dass sich ein heterogener Leser*innenkreis angesprochen fühlen kann. Personen, die selbst von Bildungs-/und Teilhabebarrieren betroffen sind, gehören selbstverständlich dazu. Selbstvertretungen werden direkt adressiert und aktiv erwähnt: „Die Selbstvertretungen der jungen Menschen sollen in diesen Gremien mitreden können“ (S. 27). Eine Aussage, der nicht nur viele Leserinnen und Leser zu wünschen sind, sondern viele aktive Unterstützerinnen und Unterstützer bei ihrer Umsetzung – in Gremien und darüber hinaus.
Literaturhinweise
Hollweg, C./Kieslinger, D. (Hg): Übergänge und Schnittstellen in einer inklusiven Erziehungshilfe. Kooperationen und Netzwerke auf dem Prüfstand. Lambertus Verlag Freiburg 2022
Kieslinger, D./Owsianowski, J. (Hg.): Inklusive Kinder- und Jugendhilfe. Finanzierung, Organisationsentwicklung, Qualität. Lambertus Verlag Freiburg 2023
Kieslinger, D./Metzner, K./Owsianowski, J./Rück, F./Schröer, W. (Hg.): Inklusion jetzt! Entwicklungen von Konzepten für die Praxis. Lambertus Verlag Freiburg 2023
Rezension von
Prof. Dr. Marion Baldus
Hochschule Mannheim
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Es gibt 14 Rezensionen von Marion Baldus.
Zitiervorschlag
Marion Baldus. Rezension vom 14.08.2024 zu:
Daniel Kieslinger, Katharina Metzner, Judith Owsianowski, Florian Rück, Wolfgang Schröer (Hrsg.): Die inklusive Kinder- und Jugendhilfe. Einfach erklärt. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2024.
ISBN 978-3-7841-3699-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32164.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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