Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Henrik Allenstein: Mit Behinderung muss gerechnet werden

Rezensiert von Dipl. Soz.-Päd. (FH) Mathias Stübinger, 20.08.2024

Cover Henrik Allenstein: Mit Behinderung muss gerechnet werden ISBN 978-3-945959-72-5

Henrik Allenstein: Mit Behinderung muss gerechnet werden oder Als Rollstuhlfahrer kann es dir passieren, dass du irgendwohin geschoben wirst. AG SPAK Bücher (Neu Ulm) 2023. 65 Seiten. ISBN 978-3-945959-72-5. D: 9,80 EUR, A: 9,80 EUR, CH: 9,80 sFr.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand
Kaufen beim Verlag

Thema

Hilfsbereitschaft und Unterstützung für Menschen mit Behinderung sind in einer schnell getakteten, hektischen Gesellschaft sicher vielfältig erkennbar – aber bei Weitem nicht selbstverständlich. Unverändert gibt es – vielleicht aus Unkenntnis oder aufgrund fehlender Möglichkeiten der Begegnung – Berührungsängste bei Menschen, die vermeintlich keine Behinderung aufweisen, mit Menschen mit Handicap in Kontakt zu treten. Werden diese Barrieren aber überwunden und erfolgen kommunikativer Austausch sowie entsprechende Hilfeleistungen, bleiben doch zentrale Fragen häufig ungeklärt/unausgesprochen:

  • Wie fühlt es sich denn für Menschen mit Behinderung tatsächlich an, wenn sie auf Hilfe angewiesen sind?
  • Wie empfinden Menschen mit Behinderung, wenn sie Hilfe erfahren, ohne, dass sie darum gebeten haben?
  • Was erleben blinde Menschen, wenn sie über eine Straße geführt werden, die sie gar nicht überqueren wollen?
  • Was bewegt Rollstuhlfahrende, wenn sie widerwillig in eine Richtung geschoben werden, die sie gar nicht einschlagen möchten?

Henrik Allenstein versucht mit dem vorliegenden Sammelband – kurzer, autobiographischer Geschichten, Gedanken und Erlebnissen aus dem Alltag eines Betroffenen – einige Antworten auf diese Fragen zu geben.

Autor

Im Kapitel Biographisches stellt sich Henrik Allenstein mit einem Foto und den folgenden – schon vielsagenden – Worten vor:

„Ich wurde am 27. März 1960 mit einer Spastik und einer Sprechbehinderung geboren, die mein geistiges Vermögen versteckt und zu einer Leseschwäche geführt hat“ (S. 7).

Sein erstes selbstverfasstes Buch dokumentiert vor allen Dingen, dass er sich eben – anders als von vielen Menschen, die ihm erstmals begegnen vermutet – auf vielfältige Weise ausdrücken kann.

Aufbau und Inhalt

Henrik Allenstein gliedert seine Texte in 8 Kapitel:

Vorwort: Warum, weshalb, wieso?

Die Motivation zu schreiben, liegt in der Erfahrung, dass viele den Autor in erster Linie auf seine Behinderung reduzieren und nicht den Menschen sehen, mit dem eine ganz normale Kommunikation möglich ist. Das Büchlein handelt entsprechend vor allem von Missverständnissen zwischen Henrik Allenstein und seinen Mitmenschen und von der Energie, zu zeigen, wie er wirklich denkt (S. 6).

Biographisches

Skizziert sind u.a. die Entstehung der durch Sauerstoffmangel bedingten Behinderung und die in den 1960er Jahren gegebene Unwissenheit und Unfähigkeit, mit einer Behinderung umzugehen. Henrik Allenstein berichtet vom Schock der Eltern nach der Diagnose und den Sorgen um die Zukunft ihres Kindes. Thematisiert ist die Schulzeit in einer Sonderschule, an dessen Ende die Feststellung stand, dass er als „praktisch Bildbarer“ nur in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung eine berufliche Perspektive erhalten könne.

Der Auszug aus der elterlichen Wohnung im Jahre 1987 war entsprechend ein großer – für viele überraschender – Schritt, um nicht bei den Eltern zu versauern (S. 10). Henrik Allenstein beschreibt die Probleme seiner Eltern, loszulassen und die aufreibenden Erfahrungen mit kostentragenden Behörden oder der nicht immer unproblematischen Beziehung zu seinen Helfern.

Handwerkliches

Ausdrücklich betont der Autor: „Dieses Buch soll keine Gebrauchsanweisung sein, wie man mit Behinderten in der Gesellschaft umgehen soll; sondern ich erzähle ein bisschen über mich und mein Leben“ (S. 14).

Meine Gedanken sind frei

Henrik Allenstein gibt hier Einblicke (S. 16 ff.) in seine Seele („Ich denke, also bin ich“), seine Lieblingsbeschäftigung (Kaffee in seiner bevorzugten Straßenkneipe trinken oder eben Geschichten schreiben), die Vorzüge von Krankengymnastik („Man beneidet mich schon wegen der schönen Frauen“) oder den Herausforderungen, Beziehungen und Partnerschaften aufzubauen („Ich war zu lange alleine mit meinem Körper“).

Eine längere Geschichte zu einem seiner Krankenhausbesuche vermittelt die Gedanken eines Menschen, dessen Kommunikation von Ärzten und Personal schwer verstanden wird und führt zu der Frage; „… was ist mit der Menschenwürde im Krankenhaus; ist die Menschenwürde doch antastbar?“ (S. 27 f.)

Der Verfasser vergleicht seinen Klinikaufenthalt mit dem Gefühl, auf dem Zauberberg von Thomas Mann zu sein. Er erzählt von den Sorgen seiner Schwester um ihn und seiner betont pragmatischen Grundhaltung, sich nicht unterkriegen zu lassen.

Die „Sammlung von Innenansichten“ (S. 35) endet mit gar nicht so optimistischen persönlichen Einschätzungen zu den chaotischen – auch politisch beunruhigenden – Zeiten und dem Gefühl, bald nur noch über das Internet regiert zu werden.

Persönliche Assistenz oder linke Hand

Wieder sehr eindrücklich beschreibt Henrik Allenstein seine besonderen Lebensumstände wie folgt: „Eigentlich ist jeder abhängig: von seiner Arbeit oder dem Partner oder der Partnerin. Aber meine Abhängigkeit ist rund um die Uhr“ (S. 39).

Der Autor berichtet von den Herausforderungen, einen angemessenen Umgang mit seinen Helfern zu finden, die sicher in der Pflege manche – für sie und dem Betreuten – unangenehme Dinge tun müssen. Hier mangelt es den Helfenden aber wohl hin und wieder an der Empathie für die Würde und die leider oft zu verletzende Unverletzlichkeit des Körpers des Menschen mit Behinderung.

Meine Familie und ich

In dieser Passage versucht Henrik Allenstein insbesondere das Verhältnis zu seinem Vater zu analysieren. Deutlich werden – vermutlich wechselseitige – Unsicherheiten und Ambivalenzen in der Beziehung. Prägnant geschildert ist dabei vor allen Dingen die geäußerte – aber wohl enttäuschte Hoffnung – dass der Vater nach einem Schlaganfall und daraus resultierender eigener Hilfebedürftigkeit, sein Verhalten gegenüber dem Sohn verändert hätte.

Spasmus sein

Der Untertitel dieses Kapitels greift den titelgebenden Gedanken auf: „Als Rollifahrer kann es passieren, dass man irgendwo hingeschoben wird.“ Henrik Allenstein beantwortet die Frage, ob er seinen Körper hasst. Er berichtet von der Hölle der Pubertät mit einem existenzbedrohenden Liebeskummer und dem mit Anträgen und Widersprüchen gepflasterten Leben.

Gerade mit dem Spasmus hadert der Autor in dieser Passage, denn die Spastik bedeute ja vor allen Dingen, dass die Mundmotorik eingeschränkt ist, die Aussprache verwaschen ist und klingt, als sei er betrunken – in seinem Kopf rede er ja aber normal (S. 50). Es gelingt in vielen alltäglichen Situationen – wie in der Buchhandlung oder beim Friseur – nur einfach nicht, eine wechselseitige Kommunikation zu führen, die ihn eben nicht in die Rolle eines geistig behinderten Menschen versetzt.

Henrik Allenstein verdeutlicht, dass eine Behinderung schon manchmal nerven kann (S. 59) und fragt sich, wer er eigentlich ist: „Bin ich abhängig von anderen Menschen!! Es ist zum Kotzen mit dir, die Krüppelkörper, du passt nicht zu meinem Geist“ (S. 62).

Epilog: Bleib ich jetzt so froh

Zum Abschluss betont Henrik Allenstein, dass er mit seinem Buch keinen erhobenen Zeigefinger rausholen will oder als Wanderprediger fungieren möchte, der den Leuten vorschreibt, wie sie mit Fußgängern oder Rollstuhlfahrern umzugehen haben – vielmehr sollen die Texte vielleicht einen Anfang machen, um die Unsicherheit zu vergessen, mit Behinderten ins Gespräch zu kommen (S. 63).

Diskussion

Der Sammelband von Henrik Allenstein ist von einem als lakonisch-ironisch zu beschreibenden Ton geprägt. Geschildert werden teils dramatische, teils vielleicht sogar absurd erscheinende Erlebnisse und Anekdoten eines Betroffenen, der – aufgrund seiner Spastik und Sprechbehinderung – immer wieder Schwierigkeiten in der Alltagskommunikation hat und deshalb nicht selten reflexartig als Mensch mit einer geistigen Behinderung eingeordnet wird.

Die Texte sind kurzweilig verfasst und zeigen die „inneren Dialoge“, die der Autor in die alltäglichen Herausforderungen der Alltagsbewältigung führt. Einzelne Passagen zeigen – so lässt es sich zumindest vermuten – dass Humor, Ironie oder sogar Sarkasmus als Bewältigungsmechanismen dienen können.

Henrik Allenstein gibt tiefe, teilweise sehr offene Einblicke in seine Gefühls- und Gedankenwelt. Letztlich bringen die kleinen Geschichten Aspekte zum Vorschein, die für Menschen, die nicht von einer Behinderung betroffen sind, wohl aus einer rein beobachtenden Perspektive heraus kaum zu verstehen sind.

An vielen Stellen zeigt der Text authentisch, wie herausfordernd ein Leben mit einer Behinderung sein kann und leider auch, wie wenig Außenstehende – auch bei gegebener fachlicher Kompetenz in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung – doch oft vom tatsächlichen Erleben der Betroffenen verstehen.

Die Texte von Henrik Allenstein können also Bewusstsein und Verständnis fördern. Potentielle Leserinnen und Leser werden informiert, aber in der Lektüre auch unterhalten – wobei der offenherzige Schreibstil des Verfassers natürlich an manchen Stellen/in manchen Aussagen für Einzelne irritierend sein könnte.

Fazit

Das kleine Büchlein „Mit Behinderung muss gerechnet werden“ ist kurzweilig, eindrücklich und entsprechend leicht und schnell zu lesen. Es ist sicherlich nicht als Fachbuch konzipiert, sondern eher als Erfahrungsbericht eines Experten. Empfehlenswert sind die Texte demzufolge für die Leserinnen und Leser, die nicht nur an wissenschaftlichen Fachdiskursen zur Arbeit mit Menschen mit Behinderung, sondern eben an den konkreten Lebenswelten und Lebenserfahrungen von Betroffenen interessiert sind.

Rezension von
Dipl. Soz.-Päd. (FH) Mathias Stübinger
Diplom-Sozialpädagoge (FH) Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Hochschule Coburg, Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit, u.a. in tätig in den Lehrgebieten: Sozialmanagement / Organisationslehre / Handlungslehre / Praxisanleitung und Soziale Arbeit für Menschen mit Behinderung.
Mailformular

Es gibt 32 Rezensionen von Mathias Stübinger.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Mathias Stübinger. Rezension vom 20.08.2024 zu: Henrik Allenstein: Mit Behinderung muss gerechnet werden oder Als Rollstuhlfahrer kann es dir passieren, dass du irgendwohin geschoben wirst. AG SPAK Bücher (Neu Ulm) 2023. ISBN 978-3-945959-72-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32166.php, Datum des Zugriffs 15.09.2024.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht