Tobias Hauffe: Die Leere im Zentrum der Tat
Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 17.06.2024

Tobias Hauffe: Die Leere im Zentrum der Tat. Eine Soziologie unvermittelter Gewalt. Hamburger Edition (Hamburg) 2024. 208 Seiten. ISBN 978-3-86854-380-3. D: 35,00 EUR, A: 35,90 EUR.
Thema
Alltägliche Situationen, die zu brutaler Gewalt führen, werden untersucht anhand von Polizei- und Gerichtsdokumenten.
Autor
Tobias Hauffe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Soziologie mit dem Schwerpunkt Gesellschaftsanalyse und sozialer Wandel an der Universität der Bundeswehr in Hamburg und Mitglied der Forschungsgruppe Makrogewalt am Hamburger Institut für Sozialforschung.
Entstehungshintergrund
Den Entstehungshintergrund bilden von der Polizei erfasste schwerste Gewalttaten gegen Personen ohne einen plausiblen Hintergrund im Kontext alltäglicher Konfliktsituationen, die Hauffe aufgrund von Interviews mit Polizeibeamt:innen, Videomaterial und Prozessakten analysiert.
Aufbau
Nach einer Einführung ‚Worum es geht‘ folgen 4 Kapitel: Zugänge: Den Moment der Gewalt erfassen, Darstellung von vier Fällen unvermittelter Gewalt, Aspekte des Handlungsmodus gewalttätiger A-Sozialität und Conclusio: die Leere im Zentrum der Tat.
Inhalt
Worum es geht
Menschen, die sich nicht oder kaum kennen, geraten unversehens in eine gewalttätige Auseinandersetzung. Hauffe beschreibt seine Methodik und den Hintergrund, rekonstruiert vier Fälle von Gewalt, erläutert Aspekte des Handlungsmodus und diskutiert gewaltsoziologische Positionen. Es geht ihm nicht um eine kriminologische Untersuchung, das Erkenntnisinteresse zielt vielmehr auf das Momenthafte der Gewalt.
Zugänge: Den Moment der Gewalt erfassen
Unter Bezug auf die Grounded Theory, eine induktiv vorgehende Forschungsmethode zur Erforschung eines Gegenstandes, in der das Erheben von Daten, die Analyse und Entwicklung einer Theorie miteinander verflochten sind, wird das eigene Verfahren vorgestellt: Der Moment der Gewalt ist Teil einer Konfliktsituation, gleichzeitig aber auch ein Bruch im Geschehen, der mittels ‚lyrischer Soziologie‘ (emotionaler Involviertheit) erfasst wird. Hauffe benutzt unterschiedliche Einstellungen: Situationsdeutung und Erzählung. In Gedankenexperimenten beschreibt er ‚was der Fall ist und wie der Fall wurde‘ (Szenenbeschreibungen, wenn ein Mensch einen anderen ‚wie eine Laterne austritt‘). In Gesprächen mit Polizeibeamten ging es um Gewalt im öffentlichen Raum bei Personen, die sich nicht kannten und keine kriminelle Vorgeschichte hatten (vier Fälle mit Akteneinsicht). Der Fokus lag auf dem Tathergang, die Aussagen der Zeugen, fachpsychiatrische Gutachten der Täter und Ermittlung ihres Umfeldes, Bildmaterial und die juristische Zurichtung des Materials. Danach folgt Literatur zu gewaltsoziologischen und literatursoziologischen Studien, zu ethnografischen Beobachtungen und Videoaufnahmen.
Vier Fälle unvermittelter Gewalt
Methodisch wird das Material in den Deutungen und in der Rekonstruktion verdichtet. Im Fall 1 hatten beide Beteiligten laut Ermittlungsbericht eine freundschaftliche Beziehung, im Fall 2 ist der russische Täter angetrunken und trifft im Bahnhof auf eine zufällige Gruppe, im Fall 3 ging es nach einer Großveranstaltung unter stark alkoholisierten Männern um einen Streit wegen eines Taxi, im Fall 4 zunächst um einen Streit in einer Gruppe, der eskalierte, aber im Nachhinein, unerklärlich für den Täter, in Gewalt endete.
Aspekte des Handlungsmodus gewalttätiger A-Sozialität
Nicht selten passen Gewalthandlungen weder zu den Situationen, noch zu den Tätern. Sie wirken dann wie ein ‚Bruch‘ im Geschehen. Der Begriff ‚Handlungsmodus‘ bezeichnet einen zeitlich begrenzten Aktivitätsmodus. Obgleich dieser eine affektive Seite hat, beschreibt Hauffe diesen nicht als Affekthandlung, sondern als ‚eher depressive Apathie als Aktion‘. Aspekte des Handlungsmodus seien die ‚Einkapselung des Gewalt Ausübenden und die situative Verschattung des Gegners‘ und ‚die Beziehungslosigkeit zwischen dem Handelnden und Gewalthandlung‘ und ‚Handlungssprünge und vermittelte Handlungsmuster‘; explizit auch dargestellt an der Erzählung ‚Der Fremde‘ von Albert Camus.
Conclusio: Die Leere im Zentrum der Tat
Drei Aspekte des Handlungsmodus werden erwähnt: Die schwer nachvollziehbare Einkapselung der Wut des Täters, die Alkoholisierung, die Beziehungslosigkeit zwischen Gewalthandlung und Täter, der passive Zustand des Täters, eine ‚Form der Willenlosigkeit‘ nach der Tat.
Im Handlungsmodus wird das konkrete Gegenüber zu einer ‚verschatteten Gestalt‘ ohne soziale Bindung, wie eine Fiktion von Täter und Opfer in einer anderen Wirklichkeit, aus ‚Unernst wird Ernst oder aus Ernst Unernst‘. Die situative Dynamik zeigt keinen Zusammenhang zwischen Gewalt und Orientierung am Gegenüber, eher eine ‚wirklich-unwirkliche Situationsdeutung‘. Das Momenthafte und Unvermittelte der Gewalt wirft Fragen auf nach der Entstehung dieser fehlenden Differenz zwischen Wirklichkeit und Fiktion oder wieso Menschen mental gleichzeitig gegenwärtig und abwesend sind.
Arbeitshypothese für weitere Forschungen: ‚In den gewalttätigen Handlungssprüngen kommt auch die (situative) Unfähigkeit, die eigene Verletzungsmacht und die Verletzungsoffenheit des Gegenübers überhaupt als real zu erkennen, zum Vorschein.‘ Welcher Zusammenhang besteht zwischen Verletzungsmächtigkeit/​Verletzungsoffenheit, Handlungsgrammatiken und (situativen) Handlungsimpulsen?
Epilog
Es geht Hauffe nicht darum, Gewaltausübende zu ent-subjektivieren, sondern um die Frage ‚wie wir werden, was wir sind‘. Auch auf dem Weg zur Gewalt gibt es nach Adorno die Möglichkeit innezuhalten oder hilfreich einzugreifen.
Diskussion
Eine akribische wissenschaftliche, nicht leicht zu lesende Studie, die sich ganz auf den Fokus der Beobachtung und Interpretation der Täter, Zuschauer, Polizeibeamten, auf die Ermittlungsakten und Prozessberichte und die Angaben der Täter im Verfahren konzentriert. Letztere sind auf der Ebene der bewussten Selbst- und Fremdwahrnehmung durchaus stimmig und lassen dennoch Fragen offen; z.B. die Frage, wie kommt es, dass Menschen in bestimmten Situationen unversehens in einen Affektzustand blinder Wut oder außer sich (das heißt außer der gewöhnlich funktionieren Kontrolle über ihre Gefühle und Affekte) geraten und gewalttätig werden. Gefühle von Ärger und Wut kennt jeder. Was nicht jeder kennt, dass traumatisierte Menschen in einen Affektzustand geraten können, indem sie – wie in einem falschen Film – in Verkennung der aktuellen Situation destruktiv reagieren. Sie sind selbst diesem Zustand hilflos ausgesetzt und erleben das, was sie in ihrer ‚blinden Wut‘ anrichten selbst als ich- und persönlichkeitsfremd, aber wie sich in Behandlungen zeigt, nicht ohne eine unverarbeitete und unbewusste Vorgeschichte.
Diese erschließt sich nicht aus den Polizeiaktien und dem Prozessverlauf, weil sie dem Täter selbst nicht bewusst ist und erst in einer psychoanalytischen Behandlung erschlossen werden kann. Dazu braucht es den persönlichen Kontakt mit dem Täter und seine Bereitschaft, das für ihn selbst Verschlüsselte zu entschlüsseln.
Fazit
Ein Buch, das wissenschaftlich wertvoll aus soziologischer Sicht die Leere und Blackouts beim Täter im Zentrum der Tat beschreibt und gleichzeitig die Möglichkeiten und Grenzen eines soziologischen Zugangs zu ‚unvermittelter Gewalt‘ aufzeigt.
Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytikerin
Mailformular
Es gibt 127 Rezensionen von Gertrud Hardtmann.