Michael Schmidt-Salomon: Die Evolution des Denkens
Rezensiert von Prof. Dr. Hartmut Kreß, 18.06.2024
Michael Schmidt-Salomon: Die Evolution des Denkens. Das moderne Weltbild - und wem wir es verdanken. Piper Verlag GmbH (München) 2024. 382 Seiten. ISBN 978-3-492-07262-5. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR, CH: 32,50 sFr.
Thema
Das Buch beschäftigt sich mit dem Weltbild der Moderne, das von Autoren wie Charles Darwin, Albert Einstein, Friedrich Nietzsche, Karl Marx oder Karl Popper repräsentiert wird. Auf dieser Basis wirft es die Frage auf, ob heutiges Denken die Menschen in die Lage versetzt, die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bewältigen zu können.
Autor
Michael Schmidt-Salomon hat als freischaffender Philosoph und Schriftsteller zahlreiche viel gelesene Publikationen verfasst. Er ist Mitbegründer sowie langjähriger Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung.
Aufbau
Im Anschluss an eine thematische Einführung enthält das Buch zehn Kapitel. Sie porträtieren herausragende Vordenker*innen der Moderne und stellen deren Leitideen vor. Mit Ausnahme des antiken Philosophen Epikur befasst sich das Buch mit Persönlichkeiten des 19. und des 20. Jahrhunderts – mit Biologen, Physikern, Naturforschern, Philosophen oder Publizisten. Die ersten fünf Kapitel behandeln Denker*innen, die weitgefasst der Naturforschung zuzurechnen sind. In den nachfolgenden fünf Kapiteln geht es um Denkansätze philosophischen Zuschnitts. Das Schlusskapitel erörtert die Zukunft des Menschseins angesichts einschneidender globaler Bedrohungen, zu denen die Erwärmung der Erdatmosphäre gehört.
Inhalt
Das Einführungskapitel steht unter der Überschrift „Ein Kopf denkt nie allein“. Hier begründet Schmidt-Salomon die Auswahl der Personen, deren Denken er wiedergibt. Er hat „10 Influencer“ herausgegriffen, die seines Erachtens zu einem „zeitgemäßen Weltbild“ Wesentliches beigesteuert haben (S. 23). Wichtig ist für ihn, dass die Denkmodelle und die Ideen der von ihm ausgewählten Personen vorab von anderen intellektuell vorbereitet worden waren: „Revolutionäre Erkenntnisse haben eine lange evolutionäre Vorgeschichte“ (S. 20).
Kapitel 1 widmet sich dem Schöpfer der naturwissenschaftlichen Evolutionstheorie Charles Darwin (1809–1882). Es entfaltet die Kernaussagen seines Werks, ordnet sie in seine Lebensgeschichte ein und erwähnt den scharfen Widerspruch, der damals gegen sie erhoben wurde. Darwin zufolge gehe die Vielfalt des Lebendigen „auf ein sinnblindes, natürliches Selektionsprinzip“ zurück (S. 36 f.). Auch der Mensch sei als Teil der Evolution zu begreifen. Hiervon ausgehend resümiert Schmidt-Salomon, die heutigen Menschen seien keineswegs die „Krone der Schöpfung“, sondern nur die „Neandertaler von morgen“ (S. 43).
Einen weiteren Baustein für ein modernes Weltbild steuerte der in Kapitel 2 vorgestellte Albert Einstein (1879–1955) bei. Er nahm den Kosmos in den Blick und ermöglichte die Einsicht in „eine permanente Interaktion zwischen der vierdimensionalen Raumzeit und den in ihr enthaltenen Körpern“ (S. 63). Sein Denkansatz habe dem herkömmlichen religiös-theistischen Weltbild zugunsten einer kosmischen Religiosität den Boden entzogen, in der Gott entbehrlich geworden ist (S. 70). Das Buchkapitel erläutert seine Spezielle und seine Allgemeine Relativitätstheorie. Zudem würdigt es sein jahrzehntelanges politisches und pazifistisches Engagement.
Die zweifache Nobelpreisträgerin Marie Curie (1867–1934), auf die Kapitel 3 eingeht, zeigte mit der Entdeckung der Radioaktivität Neues über den Mikrokosmos bzw. über das Innere der Materie auf. Auf die Gefahren einer missbräuchlichen Verwendung von Radium für militärische und menschenfeindliche Zwecke hat sie – wie Schmidt-Salomon berichtet – schon 1905 ebenso hellsichtig wie eindringlich hingewiesen (S. 87).
Eine weitere Dimension des modernen Weltbilds erschloss Alfred Wegener (1880–1930) – Polarforscher, früher Pionier der Klimaforschung und Entdecker der Kontinentaldrift zwischen Afrika und Südamerika. Die Kontinentalverschiebung „ist […] nicht nur für die Entstehung von Erdbeben und Tsunamis verantwortlich, sondern auch für die Entstehung von Vulkanen“ (S. 116). Mit seinen Forschungen habe Wegener den Blick für verschiedenste Naturereignisse geschärft, die die menschliche Zivilisation hochgradig gefährden können, bis hin zum Einschlag großer Himmelskörper auf die Erde (Kapitel 4).
Einen nochmals anderen Schwerpunkt markiert Kapitel 5. Der Wissenschaftskommunikator Carl Sagan (1934–1996) habe eine Perspektive auf den Kosmos mit 100 Milliarden Planeten in der Milchstraße eröffnet, auf denen sich Leben zu entwickeln vermöge (S. 132). Zugleich habe er für planetarische Verantwortung plädiert und in den 1980er Jahren aus konkretem Anlass vor einer Militarisierung des Weltraums gewarnt: „Das Überleben der Menschheit wird, wie Sagan verdeutlicht, entscheidend davon abhängen, ob die Menschheit rechtzeitig die erforderliche Reife entwickeln kann, um verantwortungsvoll mit ihren gestiegenen technischen Möglichkeiten umzugehen“ (S. 140).
Die voranstehend erwähnten fünf Buchkapitel geben wieder, wie in der Moderne Natur, Welt und Kosmos auf der Grundlage von Naturgesetzen gedeutet worden sind. Schmidt-Salomon charakterisiert ein solches Denken als nichtreligiösen Naturalismus (S. 146). Letztlich habe sich ein derartiges naturalistisches Denken bereits in der Antike angebahnt, und zwar bei Epikur, dem Kapitel 6 gewidmet ist. Der antike Philosoph habe eine Lehre vom Atom entfaltet, den permanenten Wandel alles Seienden hervorgehoben und postuliert, dass im sinnleeren Kosmos sinnvolles Leben der Menschen möglich sei.
Das Christentum habe Epikurs Gedankengänge fast zwei Jahrtausende lang ins Abseits gerückt. Umso nachdrücklicher seien sie dann von Friedrich Nietzsche (1844–1900) neu zur Geltung gebracht worden. Dem Leben und Werk Nietzsches geht Kapitel 7 nach. So wegweisend und wirkungsvoll sein Rekurs auf Epikur, seine Kritik am Christentum und sein lebensphilosophisch-individualistischer Denkansatz gewesen seien – andererseits sei es ihm nicht gelungen, selbst zu einer „positiven, lebensbejahenden, menschenfreundlichen Philosophie“ vorzustoßen (S. 188). Grundsätzlich sei es aber möglich, in seinem Gefolge eine humane oder humanistische Philosophie zu entwickeln. Schmidt-Salomon verdeutlicht dies beispielhaft, indem er auf den französischen Existenzialisten Albert Camus aufmerksam macht (S. 193 ff.).
Das nachfolgende Kapitel 8 erinnert an die geschichtsphilosophischen, ökonomischen sowie gesellschaftskritischen Analysen von Karl Marx (1818–1883), der die Möglichkeit und die Notwendigkeit einer Emanzipation der Menschen aus entfremdenden gesellschaftlichen Verhältnissen thematisierte.
Als einen Höhepunkt moderner philosophischer Reflexion rückt Schmidt-Salomon in Kapitel 9 das Werk des Philosophen Karl Popper (1902–1994) ins Licht. Während Marx der Meinung gewesen war, dass im Verlauf der Geschichte ein „Reich der Freiheit“ quasi naturgesetzlich entstehen werde, habe Popper für eine „evolutionäre ‚Stückwerk-Technik‘“ votiert (S. 260). Er habe den hypothetischen Charakter eines modernen wissenschaftlichen Weltbilds unterstrichen und mit seinem Fallibilismus die Korrekturoffenheit menschlichen Denkens hervorgehoben (S. 253): „Wir irren uns empor“ (S. 274). Das Modell der Evolution habe er sowohl für die Deutung des Universums als auch für die Deutung des menschlichen Denkens fruchtbar gemacht (S. 274 f.).
All dies läuft Schmidt-Salomon zufolge auf die Position eines evolutionären Humanismus hinaus. Diesen Begriff habe der Publizist und Evolutionsbiologe Julian Huxley (1887–1975) geprägt (S. 280), der in Kapitel 10 behandelt wird. Huxley sei 1946 bahnbrechend bei der UNESCO tätig gewesen (S. 278 ff.). Zwar habe er zur Eugenik anfechtbare Vorstellungen vorgetragen, die sich aber aus seinen eigenen Krankheitserfahrungen erklären ließen und insofern zu relativieren seien (S. 313). Wie es auch in den anderen neun Kapiteln der Fall ist, stellt Schmidt-Salomon das Denkmodell Huxleys im Kontext seiner Biografie dar.
Im Schlusskapitel tritt zutage, worauf das Buch gedanklich abzielt. Schmidt-Salomon hat es programmatisch mit der Überschrift „Der Zukunft entgegen. Die Menschheit im Anthropozän“ versehen. Inzwischen befinde sich die Menschheit in einem neuen geologischen Zeitalter, dem Anthropozän. Durch vom Menschen selbst bewirkte Vorgänge – Treibhauseffekt, Klimakrise, Phosphorkrise (S. 329) –, durch neue Techniken, z.B. KI-gesteuerte Waffen (S. 333) oder durch anderweitige Ereignisse wie „Supereruptionen, Kometeneinschläge, neue Kaltzeiten etc.“ (S. 326) werde die Zukunft des Menschseins fundamental bedroht. Andererseits betont Schmidt-Salomon in seinem Schlusskapitel, dass die Evolution menschlichen Denkens in der Gegenwart sehr weit fortgeschritten sei. Deshalb seien Menschen jetzt prinzipiell in der Lage, „planetare Verantwortung“ zu übernehmen (S. 322), drohenden Katastrophen entgegenzuwirken und das Zeitalter des Anthropozän lebensfreundlich auszugestalten. Die Menschheit befinde sich zurzeit an einem Wendepunkt oder – mit einem von Karl Jaspers geprägten Begriff gesagt – in einer neuen Achsenzeit (S. 332). Zumindest theoretisch eröffne die neuzeitliche Evolution des Denkens den Menschen die Aussicht, ungeachtet globaler Krisen für das Leben auf der Erde eine gedeihliche Zukunft zu sichern: „Das Wissen um den evolutionären Wandel könnte uns im Idealfall in die Lage versetzen, das ökologische Gleichgewicht auf unserem Heimatplaneten im Sinne eines ‚guten‘ Anthropozän für längere Zeit zu stabilisieren“ (S. 340).
Diskussion
Das vorliegende Buch behandelt komplexe Sachverhalte und präsentiert höchst anspruchsvolle Denkmodelle – sprachlich und sachlich sehr gut nachvollziehbar, mit anschaulichen Erläuterungen und gleichfalls für Fachfremde äußerst spannend zu lesen. Die zehn Kapitel ergänzen einander. Der Sache nach berücksichtigt das Buch ebenfalls Denkvoraussetzungen der Moderne, die lange zurückliegen, namentlich das Werk des antiken Philosophen Epikur. Indem es kosmologische, naturwissenschaftliche und philosophische Fragen verknüpft, besitzt es einen hochinteressanten interdisziplinären Zuschnitt.
Nun kann der Band hier nicht in der Tiefe diskutiert werden, die eigentlich angemessen wäre. Der Rezensent beschränkt sich auf wenige Bemerkungen.
- Begrifflich bildet die Evolution den Fokus des Buches. Genauer gesagt: Das Buch bezieht sich auf die Evolution in doppelter Hinsicht, nämlich einerseits als Vorgang der Natur und andererseits im intellektuellen Horizont der Menschen. Es geht davon aus, dass die naturwissenschaftliche Evolutionslehre heutzutage unhintergehbar geworden ist. Daher ist sofort in Kapitel 1 von der Evolution der Natur im Sinne Darwins die Rede. Sodann überträgt das Buch den Begriff der Evolution auf eine andere Ebene: Es interessiert sich für die „Evolution des Denkens“ und schildert, welche Gedankengänge Menschen im 19./20. Jahrhundert zur Deutung von Natur, Welt und Menschsein konzipiert und wie sie sie kontinuierlich fortentwickelt haben. Die Pointe des Buches ist plausibel: Seit der Aufklärung hat menschliches Denken höchst bemerkenswerte Fortschritte an humaner Einsicht erzielt und neue Problemlösungskompetenzen erschlossen. Dieser Zuwachs an Einsicht und Handlungskompetenz ist unabgeschlossen; es gilt, ihn zu verstetigen. Das heißt: Während sich die Evolution der Natur sinnblind ereignet, zeichnet sich die Evolution des Denkens dadurch aus, einen Erkenntnisfortschritt zu generieren, der menschlich und ethisch sinnstiftend ist.
- Hieraus resultiert die Hoffnung, dass die derzeitigen Menschheitsprobleme, zu denen etwa der Treibhauseffekt gehört, prinzipiell lösbar sind. Schmidt-Salomon kleidet dies in die Formulierung, eine „Reformation des Anthropozäns“ sei geboten (S. 341). Der Term Anthropozän spielt für sein Buch eine wichtige Rolle. Er wurde im Jahr 2000 von Paul Crutzen geprägt (S. 318) und soll ein neues Zeitalter der Geologie bezeichnen, das in der Mitte des 20. Jahrhunderts beginne; sein Merkmal sei die Überformung und Gefährdung der Erde, die der Mensch verursache. Durch menschengemachte Probleme (u.a. Klimaproblem) gerate das Überleben auf der Erde in Gefahr. Als Schmidt-Salomon sein Buch abfasste, nahm er an, das zuständige Gremium, die International Commission on Stratigraphy, werde den Begriff Anthropozän als Bezeichnung für ein neues geologisches Zeitalter offiziell anerkennen (S. 321). Im März 2024 hat die Kommission dies aus geologisch fachspezifischen Gründen abgelehnt, die hier nicht zu erörtern sind. Für natur- und sozialphilosophische, ethische und rechtliche Debatten und für die öffentliche Diskussion behält der Begriff jedoch seinen hohen Stellenwert und seine Aussagekraft. Bedenkenswert ist der Akzent, auf den Schmidt-Salomon Wert legt (S. 331): Man solle vom Anthropozän nicht allein mit der Zuspitzung sprechen, dass der krisenhafte, untergangsbedrohte Zustand der Erde durch menschengemachte Probleme verschuldet worden sei. Stattdessen sei von Belang, dass heutiger menschlicher Erkenntniszuwachs bzw. dass die permanent fortschreitende Evolution des Denkens Optionen der Problemlösung bieten. Hiermit nimmt Schmidt-Salomon dem Begriff des Anthropozäns das Odium, die Menschheit nur auf die Anklagebank der Krisenverursachung zu setzen, und rückt ihre Fähigkeiten zur Krisenbewältigung ins Licht.
- Dabei ist einzuräumen, dass politische Entscheidungen, die sachlich geboten wären – zur Klimaeffektivität oder zu anderen global dringlichen Themen – noch immer zu schleppend zustande kommen und dass sie in den Nationalstaaten sowie international bislang nur begrenzt akzeptiert werden. Schwachpunkte aktueller öffentlicher Debatten werden auch vom vorliegenden Buch erwähnt; es problematisiert die derzeitige „Halbierung“ von Vernunft und Aufklärung (S. 338). Umso mehr ist im Sinne einer Evolution des Denkens auf Bildungs- und auf Überzeugungsarbeit zu setzen.
Fazit
Das Buch befasst sich mit Vordenkern der Moderne, auf die sich der heutige Erkenntnisstand über die Natur, die Welt und das Menschsein zurückführen lässt. Es vermittelt geistes- und zeitgeschichtlich, auch mit Blick auf ökologische und planetarische Zukunftsfragen der Menschheit, eine große Fülle von Informationen, gewichtigen Einsichten und konstruktiven Argumenten. So nützlich die Lektüre des gesamten Buches ist – es lohnt sich ebenfalls, sich ggf. nur einzelne Kapitel anzusehen, da sie je für sich lesenswert sind, sei es das Kapitel über Darwin, über Nietzsche, über Popper oder über die anderen Denker*innen, die das Buch porträtiert.
Rezension von
Prof. Dr. Hartmut Kreß
Professor für Sozialethik an der Universität Bonn
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Es gibt 18 Rezensionen von Hartmut Kreß.
Zitiervorschlag
Hartmut Kreß. Rezension vom 18.06.2024 zu:
Michael Schmidt-Salomon: Die Evolution des Denkens. Das moderne Weltbild - und wem wir es verdanken. Piper Verlag GmbH
(München) 2024.
ISBN 978-3-492-07262-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32176.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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