Dietrich Benner: Studien zur Eigenlogik moderner Erziehung und ihre Vernachlässigung in Bildungsforschung und Bildungspolitik
Rezensiert von Prof. Dr. Stephan Otto, 30.07.2024

Dietrich Benner: Studien zur Eigenlogik moderner Erziehung und ihre Vernachlässigung in Bildungsforschung und Bildungspolitik. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2024. 152 Seiten. ISBN 978-3-7799-8296-8. D: 26,00 EUR, A: 26,90 EUR.
Thema
Die Eigenlogik von Erziehung nach Dietrich Benner beschreibt die Grundprinzipien, die Erziehung auszeichnen und von anderen sozialen Handlungen unterscheiden. Benner betont, dass Erziehung nicht einfach nur eine Form von Einflussnahme oder Sozialisation ist, sondern eine spezifische Art der Interaktion, die durch bestimmte Ziele, Inhalte und Methoden gekennzeichnet ist. Zugleich verweist er darauf, dass das Verständnis und Berücksichtigung dieser Eigenlogik von Erziehung in Bildungspraxis, Bildungsforschung und insbesondere in Bildungspolitik immer mehr vernachlässigt wird (Benner 2024).
Autor:innen
Prof. Dr. phil. Dr. h.c. mult. Dietrich Benner lehrte an den Universitäten Bonn, Freiburg und Münster, bevor er 1991 den Ruf auf den Lehrstuhl für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin annahm, der er seit 2009 als Emeritus angehört. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der allgemeinen und systematischen Pädagogik und der Theorie von Erziehung, Bildung & Schule. 2024 wurde ihm der Ernst-Christian-Trapp-Preis der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft verliehen.
Entstehungshintergrund
Die Ergebnisse der letzten PISA-Studie hat alarmierende Ergebnisse für das deutsche Bildungssystem offenbart. Deutsche Schüler:innen schneiden in den gemessenen Wissensdomänen (Mathematik, Lesen, Naturwissenschaften) so schlecht ab wie nie zuvor. Besonders besorgniserregend ist, dass diese Ergebnisse einen negativen Trend fortsetzen, der bereits vor der COVID-19-Pandemie begonnen hatte. Trotz der erheblichen Auswirkungen der Pandemie auf das Lernen weisen Expert:innen darauf hin, dass strukturelle Probleme im Bildungssystem eine größere Rolle spielen (z.B. frühe Selektion, kein Raum für individuelle Förderung). Wiederum offenbarte sich als ein zentrales Problem die Bildungsungleichheit: Sozioökonomisch benachteiligte Schüler:innen sowie Schüler:innen mit Migrationshintergrund schnitten deutlich schlechter ab als ihre besser gestellten Mitschüler:innen sowie Schüler:innen ohne Migrationshintergrund. Diese Ungleichheiten sind in Deutschland zudem stärker ausgeprägt als im OECD-Durchschnitt (Lewalter et al. 2023).
Diese aktuellen Diskussionspunkte um das deutsche Schulsystem nimmt Dietrich Benner zum Anlass für seine Studien zur Eigenlogik moderner Erziehung, durch die er aufzuzeigen versucht, dass die Qualität von Erziehungs- und Bildungsprozessen im Unterricht durch „Stärkung und Kultivierung elementarer pädagogischer Handlungsformen“ (Benner 2024, o. S.) optimierbar ist. Dies kann letztlich zu einer Überwindung der aktuellen Krisen im Bildungssystem beitragen.
Aufbau und Inhalt
In der Einleitung führt Dietrich Benner in die zentralen Problembereiche des Werks ein: Das Verschwinden des Sinns für die Eigenlogik und Grundstruktur in Erziehungs- und Bildungswissenschaften sowie der Bildungspolitik. Er erläutert zudem die Entstehungsgeschichte der Veröffentlichung, die aus Beiträgen des Autors aus den Jahren 2014 bis 2023 besteht.
Nach der Einleitung ist das Werk dann in drei inhaltliche Teile strukturiert.
Zunächst beginnt Benner mit „Grundlagentheoretischen Überlegungen“, in denen er die zentralen Begrifflichkeiten der Arbeit definiert und Thesen für eine gelungene Gestaltung von Unterrichtsprozessen aufstellt, die insbesondere darauf verweisen, dass für ein solches Gelingen normative Erziehungswissenschaft und empirische Bildungsforschung zusammenwirken müssen.
Der zweite Teil ist mit „Drei allgemeine Praktiken moderner Erziehung“ überschrieben. In diesem widmet sich Benner zunächst der Frage, ob es Freiheit in einem pädagogischen Sinne gäbe und kann durch einen Exkurs über pädagogisch-philosophische Reflexionen des 19. Jahrhunderts zeigen, dass Erziehung das zentrale Mittel ist, um Heranwachsenden eigene Entscheidungen und die Abwendung eines „gesellschaftlich vorbestimmten Lebens“ (Benner 2024, 73) zu ermöglichen. Ausgehend hiervon zeigt Benner auf, dass lehren das zentrale Prinzip ist, um Erziehungsprozesse initiieren zu können und keineswegs auf den Begriff und das Handlungsprinzip lehren verzichtet werden kann, auch wenn dies von einigen Vertreter:innen innerhalb der Erziehungswissenschaft postuliert wird. Der Teil schließt dann mit einem Beitrag zur streitenden Erziehung, in dem der Autor verdeutlicht, dass das Streiten eine zentrale Handlung ist, die tiefergehende Lernprozesse ermöglicht, die weit über den Lerneffekt einer auf Gehorsamkeit beruhenden Erziehung hinausgeht.
In Teil drei, den „Plädoyers für eine operativ ausgewiesene Erziehungs- und Bildungsforschung“ widmet sich Benner der Frage, wie eine Bildungsforschung entwickelt werden kann, die die Eigenlogik der Erziehung berücksichtigt. Hierbei zeigt er zunächst auf, wie sich empirische Bildungsforschung und die normativ-theoretisch Erziehungswissenschaft wechselseitig beeinflussen können, was letztlich dazu beitragen kann, Forschungsbefunde auch in der tatsächlichen Bildungspraxis nutzen zu können. Im abschließenden Beitrag des Bandes zeigt Benner dies dann an einem konkreten Projekt auf, der datengeschützten Schulbegleitung in KESS (kooperativ, ermutigend, sozial, situationsorientiert). Die im Projekt angewandte Evaluationspraxis zeichnet sich dadurch aus, dass die statistischen Auswertungen der Kompetenzstände der Schüler:innen an die Lehrkräfte unmittelbar mit didaktischen und bildungstheoretischen Maßnahmen verknüpft werden, die von diesen jeweils kontextspezifisch adaptiert werden können. Damit dies auch gelingen kann, erhalten die Lehrkräfte und Schulleitungen Fortbildungen, die sie für den Umgang mit den empirischen Daten schulen.
Ein Fazit bzw. eine Synthese fehlt dem Werk leider. Ein solch abschließendes Kapitel hätte jedoch dazu genutzt werden können, die komplexen erziehungswissenschaftlichen Reflexionen noch einmal prägnant zusammenzuführen.
Diskussion
Dietrich Benner legt mit den Studien zur Eigenlogik der Erziehung einen Denkanstoß für eine Erziehungswissenschaft vor, die die gesellschaftlichen Anforderungen an institutionalisierte Bildungssysteme versucht aufzugreifen und zu berücksichtigen. Die Eigenlogik der Erziehung betont die Wichtigkeit der Förderung von Autonomie und Mündigkeit, die Unvorhersehbarkeit und Reflexivität des Erziehungsprozesses sowie die fortlaufende Natur der Bildung. Dieses Konzept trägt dazu bei, Erziehung als einen eigenständigen und komplexen Prozess zu begreifen, der durch spezifische Gesetzmäßigkeiten geprägt ist.
Insbesondere Benners Hinweise darauf, dass wieder ein stärkerer gegenseitiger Austausch von empirischer Bildungsforschung und Bildungstheorie stattfinden muss, um valide erziehungswissenschaftliche Erkenntnisse zu erlangen, erscheint als wichtige Reflexionsfolie für die Entwicklung der Disziplin, in der immer wieder um das Verhältnis von normativer und empirischer Forschung gerungen wird (Zedler 2013). An manchen Stellen des Werks trägt Benner allerdings selbst nicht zu einem weiteren Austausch zwischen empirischer und normativer Erziehungswissenschaft bei, indem er zum Teil harsche Kritik an der empirischen Bildungsforschung und deren Erkenntniswert übt, was nicht immer nachvollziehbar begründet scheint.
Das Werk ist sowohl in seiner Sprache als auch in den intertextuellen Referenzen von einer beachtlichen intellektuellen Spannweite geprägt, sodass es durchaus eine Herausforderung darstellt, sich mit diesem vertieft auseinanderzusetzen, da hierfür ein breites erziehungswissenschaftliches Vorwissen insbesondere im Bereich erziehungswissenschaftlicher Diskurse von Nöten ist. Deshalb ist es besonders für Forschende und Lehrende an Hochschulen und Universitäten interessant, die bereits über ein solches Wissen verfügen bzw. auch für Studierende, die ein vertieftes Interesse an erziehungswissenschaftlicher Forschung und Theorieentwicklung besitzen.
Wenngleich die Kritik an der empirischen Bildungsforschung an einigen Stellen überzogen und nicht nachvollziehbar erscheint, überwiegt der Eindruck, dass mit dem Werk für einen stärkeren Austausch zwischen theoretischer und empirischer Erziehungswissenschaft geworben wird, um letztlich hieraus die benannten Krisen des Erziehungs- und Bildungssystems anzugehen.
Fazit
Dietrich Benner legt mit seinen Studien zur Eigenlogik moderner Erziehung ein komplexes erziehungswissenschaftliches Werk vor, welches inspirierende Einblicke in die Arbeit der normativ-theoretisch geprägten Erziehungswissenschaft bietet und zugleich deren Potenzial für die Bildungsforschung und Bildungspolitik aufzeigt.
Literatur
Benner, D. (2024): Studien zur Eigenlogik moderner Erziehung und ihre Vernachlässigung in Bildungsforschung und Politik. Weinheim/​Basel. Beltz Juventa.
Lewalter, D. Diedrich J., Goldhammer, F., Köller, O. & Reiss, K. (2023): PISA 2022. Analyse der Bildungsergebnisse in Deutschland. Münster. Waxmann.
Zedler, P. (2013): Allgemeine Erziehungswissenschaft und Empirische Bildungsforschung. Entwicklungsrichtlinien eines gelegentlich schwierigen Verhältnisses. Teil 1. In: Die Deutsche Schule 105, 3, S. 321–335.
Rezension von
Prof. Dr. Stephan Otto
Professor für Kindheitspädagogik
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ORCID: https://orcid.org/0000-0002-1313-8768
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